Die Überprüfung der von einem Asylbewerber behaupteten sexuellen Ausrichtung wird durch die Charta der Grundrechte beschränkt

Anzeige Werbung Kanzleien Anzeige

Nach Auffassung von Generalanwältin Sharpston wird der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Überprüfung der von einem Asylbewerber behaupteten sexuellen Ausrichtung durch die Charta der Grundrechte beschränkt. Obwohl die Mitgliedstaaten die Glaubhaftigkeit solcher Behauptungen überprüfen dürfen, sind bestimmte Prüfungsmethoden wie medizinische oder pseudo-medizinische Untersuchungen, zudringliche Befragungen oder die Anforderung des Nachweises sexueller Aktivitäten mit der Charta der Grundrechte unvereinbar.

Nach der Unionsrichtlinie über Mindestnormen für die Anerkennung als Flüchtling, die auf die einschlägigen Bestimmungen der Genfer Konvention verweist, kann ein Drittstaatsangehöriger, der begründete Furcht davor hat, in seinem Heimatland wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt zu werden, in der Europäischen Union die Anerkennung als Flüchtling beantragen. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass sich ein Einzelner darauf berufen kann, wegen seiner sexuellen Ausrichtung zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu gehören.

A, B und C beantragten in den Niederlanden Asyl und machten geltend, dass sie als homosexuelle Männer begründete Furcht vor Verfolgung in ihren Heimatländern hätten. Ihre Anträge wurden abgelehnt, weil die niederländischen Behörden die Wahrheitsgemäßheit des Vorbringens der Betreffenden, das auf die von ihnen behauptete sexuelle Ausrichtung gestützt wurde, bezweifelten. Der zuständige Minister vertrat die Ansicht, dass er nicht vorbehaltlos von der von einer Person behaupteten Homosexualität ausgehen müsse. Daher wurden weder die Bereitschaft von A, sich einem Test zu unterziehen, noch die Vorlage eines Films durch C, der ihn bei sexuellen Handlungen mit einem anderen Mann zeigt, als hinreichender Beweis für ihre Homosexualität angesehen. Der Minister wies außerdem darauf hin, dass das Verhalten von C widersprüchlich sei, weil er seinen früheren Asylantrag nicht mit Homosexualität begründet habe, und dass er keine niederländischen Organisationen kenne, die sich für die Rechte Homosexueller einsetzten. Im Fall von B wurden mehrere Gründe angeführt, darunter seine nur vage Schilderung seiner (i) Gefühle in Bezug auf die eigene Sexualität, (ii) seiner sexuellen Beziehungen und (iii) seines Umgangs mit dem Erkennen der eigenen sexuellen Ausrichtung in einem muslimischen Land.

Der niederländische Raad van State, bei dem die drei Männer Rechtsmittel gegen die Entscheidungen des Ministers eingelegt hatten, stellte fest, dass die Prüfung, ob ein Antragsteller wegen seiner sexuellen Ausrichtung zu einer bestimmten sozialen Gruppe gehöre, möglicherweise komplexer sei als die Prüfung anderer Verfolgungsgründe. Die Anerkennungsrichtlinie gebe keine Hinweise darauf, inwiefern die Mitgliedstaaten die behauptete sexuelle Ausrichtung in Frage stellen könnten, ob es Grenzen gebe und, falls ja, ob diese Grenzen die gleichen seien wie für Asylanträge aus anderen Gründen. Der Raad van State hat daher den Gerichtshof gefragt, ob das Unionsrecht dem Handeln der Mitgliedstaaten Grenzen setzt, wenn sie in Fällen, in denen Antragsteller die Anerkennung als Flüchtling aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung beantragen, die Glaubhaftigkeit des Vorbringens prüfen.

IIn ihren Schlussanträgen vom heutigen Tag führt Generalanwältin Eleanor Sharpston aus, dass es, da Homosexualität nicht als Krankheit gilt und sofern keine stützenden dokumentarischen Beweise vorliegen (die in den meisten Fällen nicht vorhanden sein dürften), keine objektive Methode gibt, die von einer Person behauptete sexuelle Ausrichtung mit Bestimmtheit zu beweisen. Die persönliche Autonomie ist ein wichtiger Bestandteil des Rechts auf Privatleben, das in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union geschützt ist, und ein Einzelner hat daher das Recht, seine eigene Sexualität zu definieren. Dies bedeutet, dass die behauptete sexuelle Ausrichtung eines Asylbewerbers immer den Ausgangspunkt einer Prüfung bilden muss. Da es erforderlich ist, die Integrität des Asylsystems zu schützen und Scheinasylanten zu identifizieren, um denen zu helfen, die tatsächlich Schutz benötigen, müssen die Mitgliedstaaten aber nach der Anerkennungsrichtlinie befugt sein, ein entsprechende Erklärung des Antragstellers zu überprüfen.

Generalanwältin Sharpston betont, dass von den Antragstellern nichts verlangt werden kann, dass ihre Würde oder die Unversehrtheit ihrer Person verletzen würde. Dass die Anerkennungsrichtlinie keine ausdrücklichen Hinweise für die Mitgliedstaaten enthält, die eine Glaubhaftigkeitsprüfung durchführen, bedeutet nicht, dass sie handeln dürfen, ohne die übergreifenden Standards zu berücksichtigen, die in der Charta der Grundrechte niedergelegt sind. Die Rechte auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Privatleben werden durch eingriffsintensive und erniedrigende Methoden wie z. B. medizinische oder pseudo-medizinische Untersuchungen wie die Phallometrie3 verletzt. Auch zudringliche Befragungen verletzen diese Rechte. Eine zudringliche Befragung ist nicht nur gegeben, wenn der Betreffende zur Vorlage von Foto- oder Videobeweisen für sexuelle Praktiken aufgefordert wird, sondern auch, wenn er zur Vorlage solchen Materials ermuntert oder die Vorlage zugelassen wird.
Die Generalanwältin bezweifelt außerdem den Beweiswert dieser Methoden, soweit es um die Unterscheidung zwischen echten und Scheinasylanten geht. Medizinische Untersuchungen sollten nicht angewandt werden, da Homosexualität nicht als Krankheit gilt, und durch pseudo-medizinische Untersuchungen lässt sich die sexuelle Ausrichtung nicht feststellen. Die Antworten eines Antragstellers auf explizite Fragen können nie maßgebend sein, und jedenfalls können die „richtigen" Antworten erfunden werden. Beweismaterial wie persönliche Fotos oder Videos können ebenfalls fabriziert werden. Da es faktisch nicht möglich ist, die sexuelle Ausrichtung nachzuweisen, ist die Generalanwältin der Ansicht, dass Prüfungstechniken, die auf diesen Nachweis gerichtet sind, nicht Teil der Prüfung sein sollten.

Selbst wenn der Asylbewerber in solche Untersuchungen oder Befragungen oder in die Vorlage expliziten Beweismaterials einwilligen sollte, würde dies nach Auffassung von Generalanwältin Sharpston gegen seine Grundrechte verstoßen. Eine Einwilligung kann derartige Verletzungen nicht heilen und würde den Beweiswert von auf diese Weise erlangten Beweisen nicht erhöhen. Wegen der prekären Lage von Asylbewerbern ist außerdem fraglich, ob eine solche Einwilligung völlig freiwillig und in voller Kenntnis der Umstände erteilt würde.

Die Generalanwältin ist der Ansicht, dass eingriffsintensive Untersuchungen, wie sie oben beschrieben sind, zudem auf stereotypen Vorstellungen von homosexuellen Verhaltensweisen beruhen, was im Gegensatz zu der in der Anerkennungsrichtlinie verlangten individuellen Prüfung stehen würde. Anstatt dass solche Untersuchungen durchgeführt werden, hat sich die Beurteilung, ob die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden soll, nach Auffassung von Generalanwältin Sharpston auf die Frage zu konzentrieren, ob der Antragsteller glaubwürdig ist. Dies bedeutet, dass geprüft werden muss, ob sein Vorbringen plausibel und kohärent ist.

In diesem Zusammenhang betont die Generalanwältin, dass das Asylverfahren ein Mitwirkungsverfahren und kein Gerichtsprozess ist. Es ist weder Aufgabe der Behörden, die Behauptung des Asylbewerbers zu wiederlegen, noch seine Aufgabe, sie zu beweisen, sondern vielmehr die Aufgabe beider Beteiligten, im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel zusammenzuarbeiten. Daher ist wichtig, dass der Bedienstete, der die Entscheidung trifft, entweder selbst gesehen hat, wie der Antragsteller bei seinem Vorbringen aufgetreten ist (was vorzuziehen ist), oder wenigstens einen vollständigen Bericht erhält, der u. a. über diesen Punkt Aufschluss gibt. Die Generalanwältin empfiehlt außerdem, dass zur Wahrung des Grundsatzes, das jede Person das Recht hat, gehört zu werden, bevor eine sie beschwerende Entscheidung getroffen wird, Asylbewerber die Gelegenheit haben sollten, vor dem Erlass einer endgültigen Entscheidung auf konkrete Bedenken hinsichtlich der Glaubwürdigkeit ihrer Darstellung einzugehen, die im Laufe des Verfahrens auftreten.

Quelle: Pressemitteilung des EuGH