BVerfG, Urteil vom 15.05.2002 und Folgerechtsprechung.

  1. Zumindest die wesentlichen Teile eines Haftantrages haben einem des Deutschen nicht mächtigen Sicherungshaftbetroffenen in einer schriftlichen Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache vor der Haftanhörung ausgehändigt zu werden, wenn die Anhörung selbst so kurz (hier: 20 Minuten) gestaltet wird, dass unter den besonderen Umständen des Einzelfalles eine wirksame Wahrnehmung des Anspruches auf rechtliches Gehör des Betroffenen sonst nicht gewährleistet werden kann.
  2. Zum Begriff der "Unverzüglichkeit" im Sinne des Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG.
  3. Zum Begriff des "gesetzlichen Richters" im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. 104 Abs. 2 S. 2 GG.

Die Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung ist nicht schon dann nach § 40 Abs. 1 Halbs. 2 BPolG entbehrlich, wenn die nach § 40 Abs. 2 Satz 2 BPolG i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG grundsätzlich vorgesehene persönliche Anhörung des Betroffenen vor der Anordnung der Freiheitsentziehung mangels Vernehmungsfähigkeit nicht durchgeführt werden kann. Die Unmöglichkeit der persönlichen Anhörung etwa infolge Trunkenheit des Betroffenen steht einer richterlichen Entscheidung nicht entgegen.

Zur rechtmäßigen Festnahme und unverzüglichen richterlichen Entscheidung auf Hoher See in der EU-Militäroperation „ATALANTA“ und zur konventionswidrigen Übergabe von Piraten an die Jurisdiktion eines nicht demokratischen Staates.

  1. Zur Unanwendbarkeit der polizeilichen Gewahrsamnahme, wenn die zuständige Behörde die Zurückschiebung betreibt.  Als spezielleres Gesetz geht die Vorschrift des § 62 Abs. 4 AufenthG dem § 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG in Verbindung mit § 95 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG vor.
  2. Die polizeiliche Gewahrsamnahme  als Instrument der Verhinderung der Fortsetzung eines Dauerdeliktes wegen unerlaubten Aufenthaltes ist von vorneherein ungeeignet.
Gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 StPO ist der nicht aufgrund eines Haftbefehls vorläufig Festgenommene unverzüglich, spätestens am Tag nach der Festnahme, dem zuständigen Richter vorzuführen. „Unverzüglich“ ist im Lichte von Art. 104 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG - dessen einfachgesetzliche Ausgestaltung der § 128 Abs. 1 Satz 1 StPO darstellt - dahin auszulegen, dass die richterliche Entscheidung über die Fortdauer der Freiheitsentziehung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, herbeigeführt werden muss.
Mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben ist zu verlangen, dass auf telefonische Anforderung innerhalb von 4 Stunden eine Vorführung gemäß § 128 Abs. 1 S. 1 StPO durchgeführt werden kann.

Zur unverzüglichen Richtervorführung nach § 128 StPO

  1. Ein nach § 128 Abs. 1 S. 1 StPO vorläufig Festgenommener ist unverzüglich dem Haftrichter vorzuführen, wobei „unverzüglich“ im Lichte von Art. 104 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 S. 1 GG dahingehend auszulegen ist, dass die richterliche Entscheidung über die Fortdauer der Freiheitsentziehung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, herbeigeführt werden muss.
  2. Die in § 128 Abs. 1 Satz 1 StPO genannte Frist zur Vorführung spätestens am Tag nach der Festnahme, d. h. mit Ablauf des Kalendertages nach dem Tag der Festnahme, ist eine äußerste Frist.
Zur Amtsermittlungspflicht

Die persönliche Anhörung des Betroffenen ist nur ausnahmsweise verzichtbar. Sie gehört zum „Kernstück der Amtsermittlungspflicht“ (vgl. BVerfG in InfAuslR 1996, 198, 201). Durch sie soll sichergestellt werden, dass das Gericht von allem, was für die Entscheidung relevant sein könnte, tatsächlich Kenntnis erhält und es sich durch eigene Wahrnehmung einen Eindruck von der Persönlichkeit des Betroffenen verschafft.

BVerfG zur maximalen Dauer und Geeignetheit der polizeilichen Gewahrsamnahme

  1. Aus Art. 104 (2) GG folgt für den Staat die Verpflichtung, die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters – jedenfalls zur Tageszeit – zu gewährleisten und ihm auch insoweit eine sachangemessene Wahrnehmung seiner richterlichen Aufgabe zu ermöglichen.
  2. Art. 104 (2) S. 3 GG setzt dem Festhalten einer Person ohne richterliche Entscheidung mit dem Ende des auf das Ergreifen folgenden Tages eine äußerste Grenze, befreit aber nicht von der Verpflichtung, eine solche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen.
  3. Zur Geeignetheit der Gewahrsamnahme als Instrument zur Verhinderung der Fortsetzung eines Dauerdeliktes wegen unerlaubten Aufenthaltes.
24 Std-Bereitschaftsdienst aller Amtsgerichte?
  1. Art. 13 GG verpflichtet alle staatlichen Organe, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird.
  2. Aus der Regelzuständigkeit des Richters gem. Art. 13 Abs. 2 GG folgt die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters, auch durch die Einrichtung eines Eildienstes, zu sichern. Dies gilt grundsätzlich auch für die Nachtzeit im Sinne des § 104 Abs. 3 StPO (BVerfG in st. Rspr), sofern dafür ein Bedürfnis besteht. Dies ist mit 2,58 Fällen/Tag unzweifelhaft erfüllt.
  3. Eine gröbliche Verletzung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben führt zu einem Verwertungsverbot; eine angemessene Übergangsfrist (Übergangsbonus) besteht insoweit nicht (mehr).

Das Dokument wurde aufgrund der Entscheidung des 4. Senats, OLG Hamm, Beschluss vom 10.09.2009 - 4 Ss 316/09 - und erneut des 3. Senats vom 30.03.2010 - 3 RVs 7/10 - aktualisiert. Der Beschluss des 4. Senats ist als Anlage beigefügt und der des 3. Senats im Anhang unter "Volltext".

In der (Sprung-)Revisionsentscheidung des OLG Hamm vom 30.03.2010 - 3 RVs 7/10 -, der 3. Senat an seiner Auffassung zum Erfordernis der Einrichtung eines nächtlichen Bereitschaftsdienstes für den Landgerichtsbezirk Bielefeld weiterhin konsequent fest. Ein Beweisverwertungsverbot wird hier verneint.

Die Anlage wurde durch den Beschluss des VerfGH des Saarlandes vom 15.04.2010 - Lv 5/09 - ergänzt. Der VerfG lehnt einen nächtlichen Bereitschaftsdienst allein aufgrund der Anordnungen zur Blutprobenentnahme ab und bezieht sich dabei auch auf OLG Hamm
(Die Anlagen sind über die "Büroklammer" im Acrobat Reader zu öffnen).

Unverzüglichkeit der richterlichen Entscheidung in Haftsachen


Kommentierung der Rechtsprechung seit dem Beschluss des BVerfG vom 15.05.2002 (Az.: 2 BvR 2292/00)
Die Kommentierung bezieht sich zurzeit auf folgende Entscheidungen:

    • BVerfG - 2 BvR 2292/00 - B. v. 15.05.2002; - 2 BvR 447/05 - B. v. 13.12.2005; - 2 BvR 1206/04 - B. v. 19.01.2007; - 2 BvR 2042/05 - B. v. 12.03.2008; - 2 BvR 1925/04 - B. v. 01.04.2008; - 2 BvR 1438/07 - B. v. 18.12.2008; - 2 BvR 475/09 - Nichtannahmebeschluss v. 07.05.2009; - 2 BvR 2367/07 - B. v. 07.05.2009
    • BGH - V ZB 111/10 - B. v. 07.04.2011
    • EGMR - Medvedyev vs. Frankreich - U. v. 10.07.2008
    • OLG Schleswig Holstein - 2 W 207/02 - B. v. 28.04.2003; - 2 W 54/08 - B. v. 03.04.2008
    • OLG Braunschweig - 6 W 32/03 - B. v. 04.02.2004; - 6 W 51 + 52/08 - B. v. 12.02.2009; B. v. 09.03.2011 - 6 W 1/11 -
    • OLG Celle - 17 W 105/03 - B. v. 18.12.2003; - 17 W 109/03 - B. v. 11.02.2004; - 16 W 136/04 - B. v. 25.11.2004; - 22 W 23/08 - B. v. 02.06.2008
    • OLG Düsseldorf - I-3 Wx 127/05 - B. v. 27.05.2005; - I-3 Wx 106/06 - B. v. 14.06.2006
    • OLG Frankfurt - 20 W 391/06 - B.v. 20.06.2007
    • OLG Köln - 16 Wx 195/04 - B. v. 01.10.2004; - 16 Wx 76/05 - B. v. 29.06.2005; - 16 Wx 115/06 - B. v. 31.07.2006; - 16 Wx 267/03 - B. v. 29.01.2007
    • OLG Oldenburg - 13 W 18/04 - B. v. 03.05.2004
    • OLG Zweibrücken - 3 W 109/06 - B. v. 03.07.2006
    • LG Bonn - 4 T 227/06 - B. v. 30.05.2006
    • LG Cottbus - 7 T 214/09 - B. v. 27.01.2010
    • KG Berlin - 1 W X X B 2422/67 - B. v. 11.04.1968; - 1 W 225/07 - B. v. 30.09.2008; - 1 W 275/08 - B. v. 18.11.2008
    • VGH Baden-Württemberg - 1 S 2206/03 - U. v. 27.09.2004
    • BayObLG - 3Z BR 1/01 - B. v. 11.04.2001
    • VG Aachen - 6 K 1802/08 - U. v. 05.10.2009
    • AG Frankfurt/Main - 931 XIV 174/07 B - B. v. 16.11.2011
    • OVG Sachsen - 3 A 130/11 - U. v. 24.11.2011

    sowie:

    LG Lüneburg - 2 T 17/10 - B. v. 29.04.2010

        Stand: 29.02.2012
      § 40 Abs. 1 und Abs. 2 BPolG bestimmen hinsichtlich der richterlichen Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung, dass sich das Verfahren nach den Vorschriften des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen (FEVG) richtet, das weiter auf die Verfahrensvorschriften des FGG verweist.

      Scheitert eine Vorführung - wie sie vorliegend ab 17.00 Uhr zumindest entsprechend dem vorskizzierten Weg des § 11 FEVG zufolge geboten war - daran, dass in dieser Zeit ein zuständiger Richter nicht erreichbar ist, so wird die Freiheitsentziehung rechtswidrig, und der Betroffene ist allein deshalb zu entlassen (OLG Schleswig-Holstein, NVwZ 2003, 1412, 1413).

      "Richterliche Entscheidung bei konkret geplanter Festnahme"

      Mit Blick auf die hohe Bedeutung des Richtervorbehalts sind alle an einer freiheitsentziehenden Maßnahme beteiligten staatlichen Organe verpflichtet, ihr Vorgehen so zu gestalten, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird. Erfolgt eine geplante Festnahme eines untergetauchten Ausländers nach Absprache der Behörden ohne vorherige Klärung der Frage, ob das Herbeiführen einer richterlichen Entscheidung vor der Freiheitsentziehung zur Verfehlung ihres Zwecks führen würde, liegt in der unterbliebenen Aufklärung ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör.

      "Primat der richterlichen Entscheidung"

      Aus Art. 104 (2) GG folgt für den Staat die Verpflichtung, die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters – jedenfalls zur Tageszeit – zu gewährleisten und ihm auch insoweit eine sachangemessene Wahrnehmung seiner richterlichen Aufgabe zu ermöglichen. Art. 104 (2) S. 3 GG setzt dem Festhalten einer Person ohne richterliche Entscheidung mit dem Ende des auf das Ergreifen folgende Tages eine äußerste Grenze, befreit aber nicht von der Verpflichtung, eine solche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen.