Haft insbesondere im Dublin-Verfahren und nach § 14 Abs. 3 AsylVfG.

Deutscher Bundestag Drucksache 17/11235
17. Wahlperiode 26. 10. 2012

Antwort
der Bundesregierung
auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Wolfgang Wieland,
Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksache 17/10946 –


Inhaftierung von Flüchtlingen durch die Bundespolizei

  1. Aus der Regelung in Art. 7 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (Abl. EG Nr. L 326, S. 13) folgt nicht, dass der Aufenthalt eines Asylbewerbers auch während eines Rechtsbehelfsverfahrens gegen die Entscheidung über seinen Asylantrag ausnahmslos als rechtmäßig anzusehen wäre.
  2. Bei einer beabsichtigten Abschiebung muss die Behörde in dem Haftantrag nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG die Vollstreckungsvoraussetzungen darlegen, zu denen die Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG aF gehört. Fehlt es an einer für die Vollstreckung erforderlichen Voraussetzung, darf auch eine kraft Gesetzes (§ 58 Abs. 2 Satz 1 AufenthG aF) vollziehbare Ausreisepflicht nicht durch eine Abschiebung durchgesetzt werden.
§ 34 a AsylVfG findet aufgrund der Direktanwendung der RL 2008/115/EG bei Folgeantragstellern keine Anwendung, da Art. 13 I, II dieser RL den Mitgliedstaaten einen gesetzlichen Eilrechtsschutz auferlegt.

Abschiebungen nach Griechenland untersagt.

Der afghanische Betroffene wurde von Belgien unter Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) durch Griechenland aufgrund der Haft- und der Lebensbedingungen überstellt.

  1. Der sich in Abschiebungshaft befindende Ausländer kann in einem Beschwerdeverfahren neben der Aufhebung der Haftanordnung zugleich analog § 62 Abs. 1 FamFG die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung beantragen.
  2. Ein von der Grenzbehörde protokolliertes Asylgesuch ist nach Art. 4 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-Verordnung als eine weitere Form für die Stellung eines förmlichen Asylantrags bei der zuständigen Behörde anzusehen (Fortführung von Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010, V ZB 213/09, Rn. 9, 10). Mit dem Eingang der Niederschrift bei dem zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erwirbt der aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem anderen sicheren Drittstaat eingereiste Ausländer die gesetzliche Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG.
Dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gem. § 123 VwGO wegen Überstellung eines afghanischen Asylbewerbers nach Italien wurde stattgegeben.
  1. Wird bei der Einreise aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union über ein Asylgesuch ein behördliches Protokoll erstellt und dieses an das zuständige Bundesamt weitergeleitet, liegt ein förmlicher Asylantrag erst mit dem Eingang bei dieser Behörde vor (Weiterführung von Senat, BGHZ 153, 18 ff.).
  2. § 14 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG erfasst auch die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung.
  3. Erneut zum Anhängigmachen der Eilentscheidung beim VG.
  4. Erneut zu den Dolmetscherkosten.
  1. Eine nach dem FEVG ergangene einstweilige Anordnung ist rechtswidrig, sofern keine Antrag auf Sicherungshaft in der Hauptsache gestellt wurde.
  2. Zum Beschleunigungsgebot bei erneuter Zurückschiebung in dasselbe Land bei Dublin-Verfahren.
Der BGH zur Zurückschiebungshaft bei Überstellungsfällen nach Griechenland:
  1. Auch in den Rechtsbeschwerdeverfahren nach §§ 70 ff. FamFG ist ein § 62 FamFG entsprechender Feststellungsantrag des Betroffenen zulässig. Einer Zulassung der Rechtsbeschwerde bedarf es auch in diesen Fällen nicht.
  2. Die Anordnung der Haft zur Sicherung der Zurückschiebung eines unerlaubt aus einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union eingereisten Drittstaatsangehörigen (§ 18 Abs. 3 i.V.m. § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG, §§ 57 Abs. 1 Satz 1, 62 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) ist nicht schon dann unzulässig, wenn der Ausländer bei der Grenzbehörde um Asyl nachgesucht hat (§ 18 Abs. 1 AsylVfG).
  3. Bei seiner Prognose nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, ob die Abschiebung innerhalb von drei Monaten durchgeführt werden kann, muss der Haftrichter das voraussichtliche Ergebnis eines von dem Ausländer bei dem Verwaltungsgericht gestellten Antrags nach §§ 80, 123 VwGO auf Aussetzung des Vollzugs der Zurückschiebung berücksichtigen.
  4. Wird - wie derzeit bei Überstellungen nach Griechenland gemäß Art. 19 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (Dublin II-Verordnung) - solchen Eilanträgen regelmäßig entsprochen, darf er, wenn die Sache bei dem Verwaltungsgericht anhängig gemacht worden ist, eine Haft zur Sicherung der Abschiebung nicht anordnen und hat auf die Beschwerde des Betroffenen eine bereits angeordnete Haft nach § 426 FamFG aufzuheben.
Ergänzt am 09.04.2010

Bundesverwaltungsgericht der Schweiz: Grundsatzurteil zur Überstellungspraxis im Dublin II Verfahren

Mit Urteil vom 2. Februar 2010 hat das Schweizer Bundesverwaltungsgericht (BVGer) die Beschwerde eines aus Afghanistan stammenden Asylbewerbers gegen die Verfügung des Bundesamts für Migration (BFM) vom 14. September 2009 gutgeheißen. Das BFM war auf sein Asylgesuch nicht eingetreten und hatte seine Wegweisung nach Griechenland angeordnet und diese sofort vollzogen. Nach Auffassung des BVGer verstößt die Praxis des BFM, in Dublin-Verfahren Beschwerdeführende sofort in den zuständigen Dublin-Mitgliedstaat zu überstellen, sobald diesen der diesbezügliche Entscheid des BFM mitgeteilt wird, gegen das Gebot des wirksamen Rechtsschutzes. Das BVGer weist das BFM an, die Wegweisung während eines gewissen Zeitraums nicht zu vollziehen, damit die betroffene Person ihr Recht auf vorläufigen Rechtsschutz geltend machen kann und sich das BVGer zum Gesuch um aufschiebende Wirkung äußern kann,
solange die beschwerdeführende Person sich in der Schweiz befindet.

Zur Bedeutung des Beschleunigungsgebots bei Haftverlängerung

  1. Will die Ausländerbehörde anstelle der möglichen Durchführung eines Rücknahmeverfahrens nach den Art. 16 und 17 der VO (EG) Nr. 343/2003 den Betroffenen in sein Heimatland abschieben, kommt dem Beschleunigungsgebot besondere Bedeutung zu.
  2. Eine Haftverlängerung über einen Zeitraum von drei Monaten hinaus, innerhalb dessen ein Rücknahmeverfahren regelmäßig abgeschlossen werden kann, kommt in einem solchen Fall regelmäßig nicht in Betracht.
  1. Zur Rechtswidrigkeit der Überstellung eines Asylsuchenden nach Griechenland.
  2. Zum Anspruch eines Asylsuchenden auf Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland in ein Asylverfahren nach Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG/Nr. 343/2003). (Bestätigung VG Frankfurt am Main, Urteil vom 08.07.2009 - 7 K 4376/07.F.A (3), NVwZ 2009, 1176 = AuAS 2009, 189 = InfAuslR 2009, 406).
Zum Beschleunigungsgebot und zur sofortigen Haftaufhebung bei Zurückschiebung nach Griechenland

Ein für die Abschiebung vorgesehener Ausländer kann nicht aufgrund schlichter Untätigkeit der ausländischen Behörden bis auf weiteres in der Bundesrepublik inhaftiert bleiben, ohne dass deutliche Bestrebungen der Beteiligten, die Zurückschiebung zeitnah herbeizuführen, erkennbar sind.
Kommentierung zur Haft im Asylverfahren

Die Kommentierung gibt einen Überblick zu der wesentlichen Rechtsprechung zur Haft im Zusammenhang mit Asylverfahren und bezieht sich auf folgende Entscheidungen:

  • BVerfG - 2 BvR 1516/93 - B. v. 14.05.1996; - 2 BvR 1033/06 - B. v. 10.12.2007; - 2 BvR 1073/06 - B. v. 02.07.2008; - 2 BvR 1537/08 - B. v. 25.02.2009
  • BGH - V ZB 51/10 - B. v. 08.04.2010; - V ZB 213/09 - B. v. 06.05.2010; - V ZB 78/10 -, B. v. 14.10.2010; - V ZB 206/11 - B.v. 01.03.2012; - V ZB 183/11 - B. V. 01.03.2012
  • OLG Hamburg - 2 Wx 1/09 - B. v. 28.01.2009
  • OVG Hamburg - 3 So 93/09 - B. v. 18.09.2009
  • LG Verden - 3T12/08 - B. v. 09.03.2009
  • OLG Brandenburg - 11 Wx 3/09 - B. v. 24.02.2009
  • OLG München - 34 Wx 135/05 - B. v. 14.11.2005; - 34 Wx 087/06 - B. v. 06.07.2006; - 34 Wx 136/07 - B. v. 30.01.2008; - 34 Wx 044/08 - B. v. 02.06.2008; - 34 Wx 006/09 - B. v. 05.02.2009; - 34 Wx 008/09 - B. v. 10.02.2009
  • OLG Frankfurt Main - 20 W 411/05 - 02.03.2006; - 20 W 129/09 - B. v. 29.04.2009
  • OLG Celle - 22 W 16/06 - B. v. 06.02.2008
  • OLG Hamm - 15 W 327/07 - B. v. 08.01.2008
  • OLG Saarbrücken - 5 W 56/07 - 17 - B. v. 21.03.2007; - 5 W 11/09 - 1, 5 W - B. v. 28.09.2009; LG Saarbrücken - 5 T 514/10 - B. v. 06.12.2010
  • OLG Köln - 16 Wx 76/05 - B. v. 29.06.2005; - 16 Wx 150/07 - B. v. 20.07.2007
  • OLG Düsseldorf - I-3 Wx 313/03 - B. v. 12.11.2003; - I-3 Wx 123/06 - B. v. 30.05.2006; - I-3 Wx 93/07 - B. v. 01.06.2007
  • KG Berlin - 25 W 45/04 - B. v. 19.12.2005
  • OLG Braunschweig - 6 W 33/04 - B. v. 13.12.2005
  • OLG Schleswig-Holstein - 2 W 112/03 - B. v. 07.01.2004; - 2 W 125/05 - B. v. 08.07.2005
  • LG Osnabrück - 11 T 1149/04 (47) - B. v. 19.01.2005
  • OLG Dresden - 3 W 1366/04 - B. v. 03.12.2004
  • BayOblG - 4Z BR 43/04 - B. v. 25.05.2004
  • VG Frankfurt am Main, B. v. 06.02.2009 - 7 L 4072//08.F.A. -
  • VG Augsburg - Au 6 E 12.30016 -, B. v. 20.01.2012; - Au 6 S 12.30031 - und gleichlautend - Au 6 S 12.30033 -, B. v. 15.02.2012
  • OVG Hamburg - 3 Bs 182/08 -, B. v. 02.10.2008
  • OVG Lüneburg - 11 ME 588/09 -, B. v. 06.01.2010
  • BVerwG - 1 B 219/97 -, B. v. 03.12.1997
  • VGH Hessen - 7 TZ 413/98 -, B. v. 20.03.1998
  • VGH Baden-Württemberg - 13 S 457/96 -, Urteil v. 27.10.1998
  • OLG Oldenburg - 13 W 29/10 -, B. v. 08.11.2010


    Überarbeitungsstand: 13.05.2012

    Zur Feststellungslast bei Einreise aus sicherem Drittstaat
    1. Ein (formloses) Asylgesuch i.S.v. § 13 Abs. 1 AsylVfG führt zu einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 S. 1 AsylVfG, wenn der Betroffene nicht unerlaubt aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist.
    2. Die materielle Beweislast trägt nicht der Betroffene, wenn nach ausreichenden Ermittlungen und Würdigung aller wesentlichen Umstände Zweifel verbleiben, ob der Betroffene aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Die Haftanordnung kann mithin nicht ergehen, denn für den Eingriff in das grundrechtlich geschützte Freiheitsrecht müssen die gesetzlichen Haftvoraussetzungen positiv feststehen, Art. 2 Abs. 2 S. 2 und 3 i.V.m. Art. 104 Abs.1 GG.
    Zur Dauer der Zurückschiebungshaft bei Überstellung nach Griechenland im Dublin II - Verfahren bei Einreichung einer Petition beim Deutschen Bundestag.

    Zurückschiebungshaft darf grundsätzlich auch dann angeordnet oder aufrechterhalten werden, wenn die Zurückschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen für einen vorübergehenden Zeitraum nicht durchführbar ist.
    Das Gericht hat insoweit eine Interessenabwägung vorzunehmen, die einerseits den mit der Haft verbundenen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und andererseits das staatliche Interesse berücksichtigt, auf das Sicherungsmittel der Haft nicht sofort schon dann verzichten zu müssen, wenn eine Zurückschiebung zwar aktuell (aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen oder aus Rücksichtnahme auf ein anderes Verfassungsorgan) nicht durchführbar ist, eine Prognose indes die (zeitnahe) Möglichkeit der Beseitigung oder des Wegfalls des Zurückschiebungshindernisses ergibt (BVerfG EZAR 048 Nr. 23).
    1. Zum Rechtsschutzinteresse bei erlittener unrechtmäßiger Zurückschiebungshaft und zur Erforderlichkeit einer (weiteren) Anhörung im Beschwerdeverfahren.
    2. Die Bundespolizei ist auch zuständig für die Zurückschiebung und Beantragung von Haft im Grenzraum, sofern die Einreise vor einigen Monaten über eine andere Grenze als die im Falle des Aufgriffsortes erfolgte.
    3. Zur Bedeutung eines im EU-Ausland gestellten Asylbegehrens auf den Aufenthaltsstatus in Deutschland.

      Korrigierte Fassung: Stand 22.08.2009
    Erneut zur Bedeutung der Stellung einer Asylantrages gem. § 14 Abs. 3 AsylVfG aus der Haft heraus.
    Die Übermittlungsart ist für den Asylantrag nicht vorgeschrieben.
    Zur Begründung des Haftgrund der Entziehungsabsicht nach § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 AufenthG im Rahmen der Zurückschiebungshaft.
    Zur Unzulässigkeit einer Zurückschiebungshaft im Rahmen der VO (EG) Nr. 343/2003 („Dublin II“).
    Es ist nicht Sinn und Zweck der Zurückschiebungshaft, die freiwillige Ausreise – sei sie nun legal oder illegal – in den Zielstaat zu verhindern. Die Besorgnis, dass die Zurückschiebung nicht abwartet und die Ausreise in den Zielstaat schon vorher (illegal) unternommen werde, erfordert nicht die Sicherung der Zurückschiebung durch Haft.

    Inhaftierung eines Asylbewerbers in Griechenland

    Griechenland verstößt mit der Inhaftierung eines türkischen Asylbewerbers wegen der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gegen Artikel 3 EMRK sowie gegen Artikel 5 Abs. 1 und 4 der EMRK, da die Festnahme unrechtmäßig war und der Asylbewerber die Rechtmäßigkeit der Festnahme nach griechischem Recht nicht anfechten konnte.

    Pressemitteilung des EGMR in englischer Sprache.
    Das Urteil ist nur in französisch verfügbar.