BVerwG entscheidet zur Frage des Abschiebungsschutzes wegen kritischer Versorgungslage in Afghanistan

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Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat sich am 8. September 2011 - im Anschluss an Entscheidungen vom 29. Juni 2010 - in vier Revisionsverfahren mit der Frage befasst, ob abgelehnten Asylbewerbern die Rückkehr nach Afghanistan angesichts der dortigen Lebensverhältnisse zugemutet werden kann (vgl. Pressemitteilung Nr. 58/2010).

Die Kläger der Verfahren sind zwischen 1955 und 1986 geborene Männer aus Afghanistan, von denen zwei ledig sind und sich die beiden anderen ohne ihre Familien in Deutschland aufhalten. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte ihre Asylanträge und in der Folgezeit ein Wiederaufgreifen des Verfahrens ab und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat im Berufungsverfahren entschieden, dass den Klägern in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) Abschiebungsschutz zu gewähren sei. Sie seien zwar gesund, beruflich aber nicht besonders qualifiziert und hätten deshalb kaum Aussicht, eine Arbeit zu finden und damit ihren eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Da sie auch nicht auf familiäre Unterstützung rechnen könnten, müssten sie sich ausschließlich von Tee und Brot ernähren. Dadurch würden sie alsbald und unausweichlich in einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen und damit in eine extreme Gefahrenlage geraten. Weil die Verwaltungsgerichte jeweils nur dieses Abschiebungsverbot bejaht und lediglich das Bundesamt Berufung eingelegt habe, seien weitere Abschiebungsverbote, die nach Unionsrecht begründet sein könnten, im Berufungsverfahren nicht zu prüfen.

Der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat auf die Revision des Bundesamts die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs aufgehoben, weil er den Klägern den nachrangigen nationalen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG zugesprochen hat, ohne zuvor das Vorliegen des - während des gerichtlichen Verfahrens in Kraft getretenen - unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbots geprüft und verneint zu haben. Hat das Bundesamt - neben der Frage der Asylberechtigung bzw. der Flüchtlingsanerkennung - auch über das Vorliegen sonstiger (subsidiärer) Abschiebungsverbote entschieden, ist mit Inkrafttreten des Gesetzes, mit dem im August 2007 in Deutschland die Abschiebungsverbote der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt worden sind, grundsätzlich in allen (gerichtlichen) Asylverfahren auch der weitergehende unionsrechtlich begründete Abschiebungsschutz zwingend zu prüfen. In Übergangsfällen, in denen das Bundesamt vor der Umsetzung entschieden hat, ist dieses unionsrechtlich begründete Abschiebungsverbot nur dann nicht mehr Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens, wenn darüber in der Sache entschieden und hiergegen kein Rechtsmittel eingelegt worden ist. Eine solche Sachentscheidung lag in den heute verhandelten Verfahren nicht vor.

Hinsichtlich des nationalen Abschiebungsschutzes hat der Verwaltungsgerichtshof zwar zutreffend angenommen, dass es sich hier um allgemeine Gefahren handelt, bei denen Abschiebungsschutz grundsätzlich nur im Wege einer generellen politischen Leitentscheidung (z.B. durch einen Abschiebestop-Erlass) gewährt werden kann. Fehlt es - wie hier - an einer solchen Anordnung, kann Abschiebungsschutz im Einzelfall nur bei einer extremen Gefahrenlage zugesprochen werden. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber in Bezug auf die rechtlichen Maßstäbe, die von der Rechtsprechung für die Annahme einer extremen Gefahrenlage entwickelt worden sind, seine Überzeugung auf einer nicht hinreichend tragfähigen Tatsachengrundlage und damit im Ergebnis ähnlich fehlerhaft gebildet wie das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in den vom Bundesverwaltungsgericht im Juni 2010 entschiedenen Verfahren.

Die Verfahren sind deshalb zur erneuten Prüfung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen worden.

BVerwG 10 C 14.10, 15.10, 16.10 und 20.10 - Urteile vom 8. September 2011

Quelle: Presseerklärung des BVerwG

Hinweis:

Die Presseerklärung lässt erkennen, dass sich der 10. Senat mit dem Verhältniss der unionsrechtlichen Abschiebungsverbote und des nationalen Abschiebungsverbots auseinander gesetzt hat. Indem der Senat das nationale Abschiebungsverbot als nachrangig bezeichnet macht er klar, dass es nicht der Disposition des Klägers unterliegt, wie er die Hilfsanträge stellt. Die unionsrechtlichen Abschiebungsverbote bilden den vorrangig zu prüfenden Streitgegenstand.

Außerdem wurde für Altfälle, in denen das Bundesamt vor dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes entschieden hat, klargestellt, dass die unionsrechtlichen Abschiebungsverbote immer vom Verwaltungsgericht zu prüfen sind. Eine unterlassene Prüfung durch das VG führt dazu, dass das OVG - unabhängig vom Umfang der Berufungszulassung - den weitergehenden unionsrechtlich begründete Abschiebungsschutz prüfen muss.