A.   Bedeutung und Entwicklung der Verwaltungsformalitäten im gemeinschaftlichen Rechtsetzungsverlauf

 

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Erklärtes Ziel des ersten Vorschlags der Unionsbürgerrichtlinie vom 23.05. 2001 war es, dass die tatsächliche Ausübung der Freizügigkeit nicht durch schwerfällige und nicht gerechtfertigte Verwaltungsmodalitäten und -verfahren behindert wird.

Die Kommission wies darauf hin, dass das bestehende Gemeinschaftsrecht für den Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit hier bereits in Art. 40 EGV (jetzt Art. 46 AEUV) Befugnisse verliehen hat. Im Sekundärrecht sei für Arbeitnehmer sowie auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs vorgesehen worden, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Formalitäten und Verfahren für die Beschaffung der Aufenthaltsdokumente soweit irgend möglich zu vereinfachen.

Für Unionsbürger war im Primärrecht in Art. 18 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 21 Abs. 2 AEUV) zur Erleichterung der Ausübung der Freizügigkeit der Erlass von Vorschriften ermöglicht worden.

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Die Gemeinschaft hatte jedoch während des Rechtsetzungsverfahrens unter Geltung des EG-Vertrages gem. Art. 18 Abs. 3 zur Erleichterung der Freizügigkeit auf dem Gebiet von Pässen und Personalausweisen sowie Aufenthaltstiteln keine Befugnis zum Erlass von Rechtsvorschriften. Die Vereinheitlichung von Aufenthaltstiteln durch europäische Rechtsakte beruhte auf der Kompetenz der Gemeinschaft zur Grenzüberwachung.

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Nunmehr ermächtigt Art. 77 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union die Gemeinschaft zur Erleichterung der Ausübung des Freizügigkeits- und des Aufenthaltsrechts gem. Art. 20 Abs. 2 lit. a auch zum Tätigwerden auf dem Gebiet von Pässen, Personalausweisen, Aufenthaltstiteln oder diesen gleichgestellten Dokumenten.

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Mit der Unionsbürgerrichtlinie sollte die Pflicht, im Besitz eines Aufenthaltstitels zu sein, auf Fälle beschränkt werden, in denen sie gerechtfertigt sei. Gerechtfertigt wurde diese nur noch für die Familienangehörigen angesehen, die nicht Unionsbürger sind. Letzteren sollte „die ihnen durch das Gemeinschaftsrecht zuerkannte Freizügigkeit“ durch eine Aufenthaltskarte erleichtert werden.

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Die Kommission verwies auf den deklaratorischen Charakter eines Aufenthaltstitels für Unionsbürger. Das Recht der Unionsbürger, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort zu den im Vertrag genannten Zwecken aufzuhalten, fließe „nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs unmittelbar aus dem Vertrag oder, je nach Sachlage, aus den zu seiner Durchführung ergangenen Bestimmungen (siehe z.B. das Urteil in der Rechtssache 48/75, Royer, vom 8. April 1976, Slg. 1976, Seite 497, Rdnrn. 31 ff.). Dieses Recht wird unabhängig von der Erteilung eines Aufenthaltstitels durch die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaats erworben. Die Erteilung dieses Aufenthaltstitels ist also eine Handlung, mit der ein Mitgliedstaat die persönliche Stellung eines Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats nach den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts feststellt, mit anderen Worten: der Aufenthaltstitel hat, so der Gerichtshof, nur eine deklaratorische Wirkung und wirkt nicht rechtsbegründend hinsichtlich des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger.“

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Zwar sehe der EG-Vertrag nicht ausdrücklich die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines Unionsbürgers vor, doch leiteten sich diese Rechte aus dem Recht auf Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft ab, das untrennbar mit dem Recht auf Schutz des Familienlebens verbunden sei. Letzteres sei als ein Grundrecht, das Teil der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ist, durch das Gemeinschaftsrecht geschützt und in die EU-Grundrechtecharta aufgenommen worden.

Nach Vorlage des ersten Richtlinienvorschlages wurde dieser Begründung durch zwei Entscheidungen des EuGH nachhaltig gestützt.

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So traf der EuGH in der Rechtssache Carpenter (s. § 1 Erl. 3 g) seine Entscheidung vom 11.07.2002 zugunsten der drittstaatsangehörigen Klägerin deutlich im Licht des in der Menschenrechtskonvention und in der (seinerzeit noch nicht verbindlichen) Grundrechtscharta.

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In einer weiteren Entscheidung vom 25.07.2002 in der Rechtssache Mrax (s. § 2 Erl. 3 b) unterstrich der EuGH das aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsende Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Ehegatten eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers.

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Bezüglich der Unionsbürger wurde den Aufnahmemitgliedstaaten, die ein Anmeldeverfahren vorsehen, unverändert über den gesamten Rechtsetzungsverlauf bis zur Verabschiedung der Richtlinie dieses Formalitätserfordernis zugestanden. Hierzu führte bereits der ersten Richtlinienvorschlag, KOM (2001) 0257, aus:

„Es handelt sich um eine einfache Anmeldung bei den zuständigen Behörden, die einige Mitgliedstaaten bereits in ihrem nationalen Recht vorgesehen haben und die unter den gleichen Bedingungen mutatis mutandis erfolgen soll, wie es für eigene Staatsangehörige vorgesehen ist. Diese Verpflichtung ergibt sich aus der Befugnis der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu ergreifen, die es den Behörden erlauben, eine genaue Kenntnis von den Bevölkerungsbewegungen im Hoheitsgebiet zu haben (siehe in diesem Zusammenhang das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache 118/75, Watson, Rdnrn. 17 und 18 vom 7. Juli 1976). Ein Verstoß gegen diese Pflicht kann mit nicht diskriminierenden und verhältnismäßigen Sanktionen geahndet werden.“

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Für drittstaatsangehörige Familienmitglieder des Unionsbürgers wird die Pflicht zur Beantragung der Aufenthaltskarte in Art. 9 der UnionsbürgerRL fortgeführt. Nach Art. 10 dient die Aufenthaltskarte „zum Nachweis des Aufenthaltsrechts des Familienangehörigen eines Unionsbürgers“.

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Die Verletzung der Pflicht zur Beantragung der Aufenthaltskarte kann von den Mitgliedstaaten verhältnismäßig und nicht diskriminierend sanktioniert werden.

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Über die Abschaffung der Aufenthaltserlaubnispflicht für Unionsbürger hinaus, ist die in Kraft getretene Unionsbürgerrichtlinie hinter ehrgeizigeren Zielen des ersten Richtlinienvorschlag wie auch noch des geänderten Richtlinienvorschlags zurückgeblieben, ohne dass dies im FreizügG/EU deutlich wird bzw. eine Umsetzung erfahren hat.

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Soweit § 5 FreizügG/EU die Bestimmungen von Art. 8 bis 11, Art. 14, 19 und 20 aufgreift, zeigen insbesondere nachstehende Änderungen im Rechtsetzungsverlauf zur Unionsbürgerrichtlinie den Kompromisscharakter der gefundenen Regelungen auf.

Die ursprünglich vorgesehene Anmeldefrist für Unionsbürger von sechs Monaten wurde in Anpassung an den wieder auf drei Monate verkürzten voraussetzungslosen Aufenthalt gem. Art. 6 in Art. 8 auf mindestens drei Monate festgesetzt.

In gleicher Weise wurde wieder die mindestens dreimonatige Antragsfrist für die Aufenthaltskarte in Art. 9 für Familienangehörige aus Drittstaaten eingeführt.

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Das bis 2003 vorgesehene System der Selbstbescheinigung („Grundsatz der Selbstbescheinigung bis zum Beweis des Gegenteils“ EP 23.01.2003) der Unionsbürger hinsichtlich des Bestehens einer Erwerbstätigkeit bzw. des Vorhandenseins ausreichender Existenzmittel und bestehenden Krankenversicherungsschutzes wurde in Art. 8 nicht beibehalten. Mit Ausnahme für Studierende wurde erst nach November 2003 in Art. 8 Abs. 3 für die Geltendmachung der Freizügigkeit die Vorlage von Nachweisen gefordert.

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Ebenfalls positionierte sich der Rat am 10.11.2003 gegen die vereinfachte Geltendmachung des Verwandtschaftsverhältnisses durch Erklärung und forderte den Nachweis der familiären Beziehung durch Vorlage einer Bescheinigung,

Sah Art. 11 in ursprünglicher Fassung die Gültigkeit der Aufenthaltskarte noch unberührt an durch Abwesenheitszeiten von sechs aufeinanderfolgenden Monaten und unbegrenzte Abwesenheit aus wichtigen Gründen, ist lediglich die Erfüllung militärischer Pflichten entfristet geblieben. Die unschädliche Abwesenheit aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwerer Krankheit, Studium, Berufsausbildung oder berufliche Entsendung wurde auf höchstens zwölf aufeinanderfolgende Monate begrenzt.

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In gleicher Weise wurde dies in Art. 16 Abs. 3 der UnionsbürgerRL zum Maßstab für unschädliche Abwesenheiten, die die Kontinuität des Aufenthalts unberührt lassen.

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Nach erstem Richtlinienvorschlag konnte das Recht auf Daueraufenthalt nur durch Abwesenheiten vom Aufnahmemitgliedstaat, die vier aufeinander folgende Jahre überschreiten, in Verlust geraten. Der Richtlinienvorschlag sah zudem eine „Aberkennung“ des Rechts vor.
Im geänderten Richtlinienvorschlag vom 15.04.2003 ließen dann Aufenthaltsunterbrechungen von bis zu vier aufeinander folgenden Jahren die Gültigkeit der (noch für Unionsbürger und Familienangehörige gemeinsam geregelten) Daueraufenthaltskarte unberührt.

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In Art. 16 Abs. 4 wurde mit dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates der Abwesenheitszeitraum, der zum „Verlust“ des Daueraufenthaltsrechts führt, statt der vorgeschlagenen vier Jahre auf zwei Jahre festgesetzt. Diese Änderung bedingte auch eine Änderung in Art. 20 Abs. 3, der die Gültigkeit der Daueraufenthaltskarte betrifft. Zur Begründung des Gemeinsamen Standpunktes führte der Rat aus, diese Änderung sei damit zu rechtfertigen, dass nach einer zweijährigen Abwesenheit die Verbindung zum Aufnahmemitgliedstaat als gelockert gelten kann. Die Gründe für die Abwesenheit über diesen Zeitraum sind nach der Richtlinie für den Verlust des Daueraufenthaltsrechts oder das Ungültigwerden der Daueraufenthaltskarte nicht maßgeblich.

 

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