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EuGH: Besonderer Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige

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Die 7. Kammer des Europäischen Gerichtshofs hat am 4. Oktober in der Rechtssache C-349/06 (Polat) eine Entscheidung zum Ausweisungsschutz türkischer Staatsangehöriger getroffen. Die von der ausländerrechtlichen Praxis erhoffte Klärung, ob sich türkische Staatsangehörige auf Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG berufen können, blieb aus. Das Urteil leidet in den entscheidenden Passagen, die sich mit der Anwendbarkeit der Unionsbürgerrichtlinie befassen, an gravierenden Begründungsmängeln. Versucht man, der Entscheidung einen sinnvollen Inhalt beizulegen, so scheint der Gerichtshof die Ansicht zu vertreten, dass die neuen materiellen Anforderungen an die Ausweisung von Unionsbürgern nach den Grundsätzen des intertemporalen Rechts nicht rückwirkend auf abgeschlossene Verwaltungsverfahren angewendet werden dürfen (siehe hierzu die Anmerkung).

Sachverhalt
Herr Polat, der am 25. Juni 1972 geboren wurde, reiste kurz nach seiner Geburt 1972 zum Zweck der Familienzusammenführung zu seinen im Bundesgebiet lebenden Eltern nach Deutschland ein. Sein Vater war von 1971 an mit Unterbrechungen bis 1991 als Arbeitnehmer beschäftigt und bezieht seit dem 1. Oktober 1991 Altersrente.

Herr Polat absolvierte seine Schulausbildung in Deutschland und erwarb dort den Hauptschulabschluss. Seit dem 11. Juli 1988 ist er in Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für Deutschland. Von 1989 bis 1992 war er am Frankfurter Flughafen als Arbeitnehmer beschäftigt. Vom 1. Februar 1996 bis 28. November 1997 leistete er seinen Wehrdienst in der Türkei ab. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland übte er von 1998 bis 2000 erneut eine Beschäftigung aus und lebte von 1998 bis 2006 in der Wohnung seiner Eltern, wo er 2000 seinen Hauptwohnsitz anmeldete. In diesem Jahr unterstützte er seine Eltern mit 200 Euro monatlich und verfügte über ein Einkommen von 400 bis 1 400 Euro monatlich. Seit 2000 erhielt er Arbeitslosenunterstützung und übte nur noch kurzzeitig Beschäftigungsverhältnisse aus.

Noch als Minderjähriger beging Herr Polat Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz und Diebstahlsdelikte. Nach Vollendung des 21. Lebensjahrs wurde er 18-mal strafrechtlich verurteilt – hauptsächlich wegen Diebstahls und Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz –, zunächst zu Geldstrafen (9-mal zwischen 1994 und 1995), dann (zwischen 1998 und 2004) auch zu Freiheitsstrafen auf Bewährung. Mit Schreiben vom 16. Juli 2001 teilten ihm die nationalen Behörden mit, dass sie aufgrund der begangenen Straftaten beabsichtigten, seine Ausweisung anzuordnen. Nachdem er sich in eine Therapieeinrichtung begeben hatte, wurde von der beabsichtigten Ausweisung jedoch abgesehen. Nachdem Herr Polat wiederholt Drogenentzugstherapien abgebrochen und sein straffälliges Verhalten fortgesetzt hatte, widerriefen das Amtsgericht Frankfurt am Main und das Amtsgericht Rüsselsheim die gewährte Strafaussetzung zur Bewährung; vom 23. Juni 2004 bis 8. Februar 2006 befand Herr Polat sich in Haft.
Mit Bescheid vom 14. Oktober 2004 wies die Stadt Rüsselsheim Herrn Polat aus Deutschland aus und ordnete den sofortigen Vollzug der Maßnahme an. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die von ihm begangenen Straftaten und die darauf erfolgten Verurteilungen den Ist-Ausweisungstatbestand des § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG erfüllten. Herr Polat habe sich in Deutschland nicht integriert. Weder die Geldstrafen noch die Freiheitsstrafen zur Bewährung oder die Verwarnungen der Ausländerbehörde hätten ihn davon abhalten können, weitere erhebliche Straftaten zu begehen. Er sei in den Kreis der Wiederholungstäter einzustufen, und seine Ausweisung sei aus spezialpräventiven Gründen notwendig und erforderlich.
Nachdem sein Widerspruch gegen die Ausweisungsverfügung zurückgewiesen worden war, erhob Herr Polat am 3. August 2005 Klage beim Verwaltungsgericht Darmstadt und machte geltend, dass er erstmals inhaftiert sei und sich aktiv um eine stationäre Drogentherapie bemühe. Daher bestehe eine realistische Resozialisierungschance.

Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Darmstadt das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof unter anderem folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Für den Fall, dass von dem Fortbestehen einer Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 auszugehen ist (die Frage 1 wird bejaht oder die Frage 2 wird bejaht und die Fragen 3 und 4 verneint):
5. Kann sich ein türkischer Staatsangehöriger, der die Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 innehat und seit 1972 im Bundesgebiet lebt, auf den besonderen Ausweisungsschutz des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG berufen?
6. Ändert sich die Rechtslage, wenn der türkische Staatsangehörige sich innerhalb der zurückliegenden zehn Jahre vor Erlass der Ausweisungsverfügung vom 1. Februar 1996 bis 28. November 1997 zur Ableistung seines Wehrdienstes in der Türkei aufhielt?
Für den Fall, dass die Frage 5 zu verneinen oder die Frage 6 zu bejahen ist:
7. Kann sich ein türkischer Staatsangehöriger, der die Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 innehat und der seit 1972 im Bundesgebiet lebt, auf den besonderen Ausweisungsschutz des Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG berufen?Für den Fall, dass die Frage 7 zu verneinen ist:
8. Kann sich ein türkischer Staatsangehöriger, der die Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 innehat, auf den besonderen Ausweisungsschutz des Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG berufen?
Für den Fall, dass von dem Fortbestehen einer Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 auszugehen ist, stellt sich weiterhin die Frage:
9. Kann eine Vielzahl kleinerer Straftaten (im Wesentlichen Eigentumsdelikte), die für sich allein genommen nicht geeignet sind, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft zu begründen, aufgrund der hohen Anzahl eine Ausweisung rechtfertigen, wenn mit weiteren Straftaten zu rechnen ist und gegen Inländer bei gleicher Sachlage keine Maßnahmen ergriffen werden?

Maßgebliche Entscheidungsgründe
Der Gerichtshof stellt zunächst unter Hinweis auf das Urteil vom 18. Juli 2007, Derin (C-325/05, Slg. 2007, I0000), fest, dass der Kläger sich auf Art. 7 ARB 1/80 berufen kann. Anschließend wendet er sich der Frage zu, ob er sich auf die Rechte aus Art. 28 der Richtlinie 2004/38 berufen kann, und führt aus:

„Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist der Rückgriff auf die Richtlinie 2004/38 dadurch gerechtfertigt, dass der Gerichtshof Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 im Licht der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, Nr. 56, S. 850), ausgelegt habe. Da diese Richtlinie durch die Richtlinie 2004/38 ersetzt worden sei und nach deren Art. 38 Abs. 3 Bezugnahmen auf die aufgehobenen Bestimmungen oder Richtlinien als Bezugnahmen auf die Richtlinie 2004/38 gälten, sei nun zur Konkretisierung der Tragweite von Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 auf die Richtlinie 2004/38 zurückzugreifen.

Die Richtlinie 64/221 ist nach Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 mit Wirkung vom 30. April 2006 aufgehoben worden.

Herrn Polats Ausweisung wurde am 4. Oktober 2004 verfügt, und die Klage wurde am 3. August 2005 beim vorlegenden Gericht erhoben; es ist daher festzustellen, dass die Richtlinie 64/221 in dem für das Ausgangsverfahren maßgebenden Zeitraum noch in Kraft war.
Da die Richtlinie 2004/38 demzufolge im Ausgangsverfahren nicht anwendbar ist, brauchen die Fragen fünf bis acht nicht beantwortet zu werden.“

Weiter führt der Gerichtshof aus:

„Mit dieser Frage (Anm: der neunten Frage) möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 es ausschließt, dass eine Vielzahl kleinerer Straftaten, die für sich allein genommen nicht geeignet sind, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft zu begründen, die Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen rechtfertigen können, wenn mit weiteren Straftaten zu rechnen ist und gegen Inländer bei gleicher Sachlage neben der strafrechtlichen Verurteilung keine Maßnahmen ergriffen werden. …

Nach ständiger Rechtsprechung setzt der Rückgriff einer nationalen Behörde auf den Begriff der öffentlichen Ordnung voraus, dass außer der sozialen Störung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteile Rutili, Randnr. 27, vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C482/01 und C493/01, Slg. 2004, I5257, Randnr. 66, sowie Kommission/Deutschland, Randnr. 35).

Insbesondere hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass einem türkischen Staatsangehörigen die ihm unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 zustehenden Rechte nur dann im Wege einer Ausweisung abgesprochen werden können, wenn diese dadurch gerechtfertigt ist, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet. Eine solche Maßnahme kann daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zweck der Generalprävention angeordnet werden (Urteile Nazli, Randnrn. 61 und 63, sowie vom 7. Juli 2005, Dogan, C383/03, Slg. 2005, I6237, Randnr. 24).

Der Umstand, dass mehrere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, ist hierbei für sich genommen ohne Bedeutung.

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich darüber hinaus, dass gegen Inländer, die der Straftaten schuldig befunden werden, die Anlass zu der im Ausgangsverfahren fraglichen Ausweisungsverfügung gegeben haben, neben der strafrechtlichen Verurteilung keine zusätzliche Sanktion verhängt wird.

Hierzu genügt der Hinweis, dass die in den Art. 39 EG und 46 EG enthaltenen Vorbehalte es den Mitgliedstaaten erlauben, gegenüber den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung Maßnahmen zu ergreifen, die sie insofern bei ihren eigenen Staatsangehörigen nicht anwenden könnten, als sie nicht die Befugnis haben, diese auszuweisen oder ihnen die Einreise in das nationale Hoheitsgebiet zu untersagen (vgl. Urteile vom 4. Dezember 1974, van Duyn, 41/74, Slg. 1974, 1337, Randnrn. 22 und 23, vom 18. Mai 1982, Adoui und Cornuaille, 115/81 und 116/81, Slg. 1982, 1665, Randnr. 7, Calfa, Randnr. 20, und vom 26. November 2002, Oteiza Olazabal, C100/01, Slg. 2002, I10981, Randnr. 40).

Nach alledem ist auf die neunte Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass er der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der mehrfach strafrechtlich verurteilt wurde, nicht entgegensteht, vorausgesetzt, dass dessen persönliches Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob das im Ausgangsverfahren der Fall ist.“

Anmerkung
Mit der Entscheidung begibt sich der Gerichtshof der Möglichkeit, frühzeitig wichtige Fragen der Anwendbarkeit des besonderen Ausweisungsschutzes der Unionsbürgerrichtlinie auf türkische Staatsangehörige, die Rechtspositionen nach Art. 7 ARB 1/80 innehaben, zu klären und zwingt damit zu einer neuen Vorlage. Gleichzeitig führt die Entscheidung zu einer Verunsicherung bei den Rechtsanwendern, weil die Argumentation des Gerichtshofs, mit der die Anwendbarkeit der Unionsbürgerrichtlinie abgelehnt wurde, feststehende Grundsätze scheinbar in Frage stellt. Der Gerichtshof stützt seine Argumentation auf drei Sätze: “Die Richtlinie 64/221 ist nach Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 mit Wirkung vom 30. April 2006 aufgehoben worden. Herrn Polats Ausweisung wurde am 4. Oktober 2004 verfügt, und die Klage wurde am 3. August 2005 beim vorlegenden Gericht erhoben; es ist daher festzustellen, dass die Richtlinie 64/221 in dem für das Ausgangsverfahren maßgebenden Zeitraum noch in Kraft war. Da die Richtlinie 2004/38 demzufolge im Ausgangsverfahren nicht anwendbar ist, brauchen die Fragen fünf bis acht nicht beantwortet zu werden.“

Die Argumentation ist in mehrfacher Hinsicht nicht verständlich, letztlich sogar unrichtig. So ist es schlichtweg falsch, wenn behauptet wird, dass die Richtlinie im Zeitpunkt des Verwaltungsverfahrens bzw. der Klage noch nicht in Kraft gewesen sei. Die Richtlinie 2004/38/EG war nach Art. 39 am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, d.h. am 20. Oktober 2004, in Kraft getreten. Zu diesem Zeitpunkt waren weder das Widerspruchs- noch das Klageverfahren abgeschlossen gewesen.

Es liegt die Vermutung nahe, dass der Gerichtshof die Frage des Inkrafttretens mit der Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinienbestimmungen verwechselt. Aber auch dann, wenn die Argumentation darauf abzielen sollte, dass die Richtlinie zu den genannten Zeitpunkten noch nicht unmittelbar anwendbar gewesen sei, ist die Begründung nicht nachvollziehbar: Gehört es doch zu einem der wenigen feststehenden Grundsätze, dass maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage einer Ausweisungsentscheidung der Zeitpunkt der letzten Tatsacheninstanz ist. Hier hatte das Verwaltungsgericht aber noch nicht entschieden, sondern gerade wegen der Notwendigkeit, die neue Rechtslage berücksichtigen zu müssen, vorgelegt. Gilt der Grundsatz bezüglich des maßgeblichen Entscheidungszeitpunktes nun nicht mehr? Es würde wohl zu weit gehen, den unreflektierten Sätzen eine so weitreichende Bedeutung zumessen zu wollen.

War die Richtlinie aber im maßgeblichen Zeitpunkt sowohl in Kraft als auch unmittelbar anwendbar, so läuft die Begründung des Gerichtshofs ins Leere. Versucht man eine Begründung zu erahnen, so könnte diese im intertemporalen Recht zu finden sein. Es mag der Gedanke tragend gewesen sein, dass die Einhaltung neuer Anforderungen an eine Ausweisungsverfügung erst dann von einer Ausländerbehörde verlangt werden können, wenn diese zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides galten.

Eine dahingehende Argumentation wäre durchaus tragfähig: Die RL 2004/38/EG enthält keine ausdrückliche Übergangsvorschrift, der entnommen werden könnte, dass die materiellen Anforderungen an eine Ausweisung von noch unter der Geltung der RL 64/221/EWG erlassenen Ausweisungsverfügungen jetzt an den Maßstäben der neuen Regelungen in Art. 28 RL 2004/38/EG überprüft werden sollen. Eine etwaige Rückwirkung einer Gemeinschaftsvorschrift lässt sich aber nicht nur aus einer ausdrücklichen Übergangsregelung ableiten, sondern kann sich ebenfalls durch Auslegung ergeben. So hat der Europäische Gerichtshof in den verbundenen Rechtssachen Salumi (EuGH Urteil vom 12. November 1981 – Rs. 212-217/80 – Slg. 1981, S. 2735, Rn. 8) ausgeführt: „Da die Verordnung … keine Übergangsbestimmung enthält, ist zur Ermittlung ihrer zeitlichen Geltung unter Berücksichtigung ihres Wortlautes, ihrer Zielsetzung und ihres Aufbaus auf allgemein anerkannte Auslegungsgrundsätze zurückzugreifen.“

Dabei hat der Gerichtshof in der Rechtssache Bout (EuGH, Urteil vom 10. Februar 1982 – Rs. 21/81 – Slg. 1982, S. 381, Rn. 13) zugleich auf den Ausnahmecharakter einer Rückwirkung hingewiesen. Er führte in der Entscheidung grundlegend aus: „… daß nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, […], die Vorschriften des materiellen Gemeinschaftsrechts, um die Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu gewährleisten, so auszulegen sind, daß sie für vor ihrem Inkrafttreten entstandene Sachverhalte nur gelten, soweit aus ihrem Wortlaut, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau eindeutig hervorgeht, daß ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist.“ Die Formulierung lässt erkennen, dass der Grundsatz der Nicht-Rückwirkung den Normalfall darstellt.

Eine nachvollziehbare Argumentation würde daher dahin gehen, dass sich keine Behörde die Verschärfung der Ausweisungsmaßstäbe entgegenhalten lassen muss, die im Zeitpunkt des Verwaltungsverfahrens noch nicht galten. Ob dies der Gerichtshof so entscheiden wollte, bleibt angesichts der wenig brauchbaren Argumentation aber letztlich offen; auch wenn nach meiner Ansicht einiges für eine dahingehende Interpretation der Entscheidung spricht.

Auch dieser Ansatz würde aber weitergehende Frage aufwerfen: Stellen die in Art. 28 RL 2004/38/EG enthaltenen Vorgaben tatsächlich Verschärfungen des Ausweisungsrechts dar? Diese vorgreifliche Frage hätte der Gerichtshof zunächst erörtern müssen. Gerade bei Art. 28 Abs. 1 RL 2004/38/EG ist kaum ersichtlich, dass es sich um eine Veränderung des Ausweisungsmaßstabs handelt. Auch bei Absatz 3 ist dies nicht ohne Weiters eindeutig: die Rechtsgrundlagen des ordre-public-Vorbehalts im EG-Vertrag sind unverändert geblieben. Da die Richtlinie diese primärrechtlich verankerten Grundsätze nur konkretisiert, ist die Frage erlaubt, ob die Neugestaltung des Art. 28 RL 2004/38/EG überhaupt eine Änderung der Ausweisungsmaßstäbe bewirken kann.

Als Fazit kann nur festgestellt werden, dass die Überlastung des Gerichtshofs auch an seinen Entscheidungen Spuren hinterlässt.

Dr. Klaus Dienelt

Link zur Entscheidung

http://curia.europa.eu/jurisp/cgi-bin/form.pl?lang=de&newform=newform&Submit=Suchen&alljur=alljur&jurcdj=jurcdj&jurtpi=jurtpi&jurtfp=jurtfp&alldocrec=alldocrec&docj=docj&docor=docor&docop=docop&docav=docav&docsom=docsom&docinf=docinf&alldocnorec=alldocnorec&docnoj=docnoj&docnoor=docnoor&typeord=ALLTYP&allcommjo=allcommjo&affint=affint&affclose=affclose&numaff=&ddatefs=&mdatefs=&ydatefs=&ddatefe=&mdatefe=&ydatefe=&nomusuel=&domaine=RELA&mots=&resmax=100