Die in Art. 6 I Art. 6 Abs. 1 enthaltenen, zeitlich gestaffelten Zugangsrechte zum Arbeitsmarkt bauen systematisch aufeinander auf und sichern die stufenweise Eingliederung des türkischen Arbeitnehmers in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats. Nach dieser Bestimmung gilt Folgendes:
Die Stufen bauen aufeinander auf, sodass ein Arbeitnehmer sich auf die 3. Stufe erst berufen kann, wenn er zuvor die 1. und 2. Stufe durchlaufen hat. Aufgrund der Systematik der Regelung lässt sich auch nicht etwas anderes aus dem Wortlaut des 3. Spiegelstrichs ableiten, der nur an „vier Jahre ordnungsgemäße Beschäftigung“ anknüpft. Hierzu hat der EuGH in der Rechtssache Sedef Folgendes klargestellt:
„Aus der Systematik und der praktischen Wirksamkeit dieses mit Art 6 I ARB 1/80 geschaffenen Systems einer abgestuften Eingliederung der türkischen Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats folgt, dass die in den drei Gedankenstrichen dieser Bestimmung jeweils aufgestellten Bedingungen von den Betroffenen nacheinander erfüllt werden müssen. Jede andere Lösung könnte die Kohärenz des Systems zerstören, das der Assoziationsrat eingerichtet hat, um die Situation der türkischen Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat schrittweise zu festigen.“
EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Sedef, C-230/03, Rn. 37, ECLI:EU:2006:5
Nach Ansicht des EuGH in der Rechtssache Sedef setzt das Erreichen der 2. Stufe voraus, dass ein türkischer Arbeitnehmer drei Jahre bei demselben Arbeitgeber gearbeitet haben muss. Denn zum Erreichen der 3. Stufe sei nicht allein ausreichend,
„dass er im Aufnahmemitgliedstaat mehr als vier Jahre lang rechtmäßig eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt hat, wenn er nicht, erstens, mehr als ein Jahr bei demselben Arbeitgeber und, zweitens, zwei weitere Jahre für diesen gearbeitet hat“.
EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Sedef, C-230/03, Rn. 44, ECLI:EU:2006:5
Auch wenn die Stufen aufeinander aufbauen, so könnte aus Art. 2 ARB 2/76 abzuleiten sein, dass die 2. und 3. Stufe – entgegen der Ansicht des EuGH – nicht erfordern, dass der türkische Arbeitnehmer bei demselben Arbeitgeber gearbeitet haben muss. Hiergegen spricht das Verhältnis des Art. 6 Abs. 1 zu Art. 2 ARB 2/76.
Art. 2 Abs. 1 lit. a und b des Beschl. Nr. 2/76 bestimmte:
„a) Nach dreijähriger ordnungsgemäßer Beschäftigung in einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft alte Fassung hat ein türkischer Arbeitnehmer vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf ein bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates für den gleichen Beruf, den gleichen Tätigkeitsbereich und das gleiche Gebiet eingetragenes und zu normalen Bedingungen unterbreitetes Stellenangebot zu bewerben.
b) Nach fünf Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung in einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft hat ein türkischer Arbeitnehmer dort freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.“
Der ARB 1/80 soll nach seiner dritten Begründungserwägung im sozialen Bereich zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu einer besseren Regelung führen als die bis dahin bestehenden Regelungen, die durch den am 20.12.1976 erlassenen ARB 2/76 geschaffen worden waren. Die Vorschriften des Kap. II Abschnitt 1, zu denen Art. 6 gehört, bildeten somit einen weiteren, durch die Art. 48, 49 und 50 EG-Vertrag geleiteten Schritt zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer .
EuGH, U. v. 26.11.1998, Birden, C-1/97 Rn. 52, ECLI:EU:1998:568.
Stellt sich der ARB 1/80 aber nur als Fortentwicklung der Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger und ihrer Familienangehörigen dar, so kann er nicht hinter den Rechtsgewährungen zurückfallen, die bereits mit dem ARB 2/76 eingeräumt worden waren.
EuGH, U. v. 26.11.1998, Birden, C-1/97 Rn. 52, ECLI:EU:1998:568, zur Frage der Bedeutung des Merkmals "regulärer Arbeitsmarkt"
Sollte durch die Neufassung der Rechte von Arbeitnehmern die Rechtsstellung aber nicht verschlechtert werden, so könnte sich ein türkischer Arbeitnehmer auch nach Einführung des Art. 6 darauf berufen, dass ihm nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – unabhängig von der Anzahl der Arbeitgeberwechsel – ein Anspruch auf Weiterbeschäftigung im gleichen Beruf zusteht.
Ebenso Oberhäuser in HK-AuslR ARB 1/60 Art. 6 Rn. 28. Diese Frage bedarf noch der Klärung durch den EuGH.
Die Zuerkennung eines Anspruchs aus Art. 6 Abs. 1 ist von keinen weiteren Voraussetzungen als den ausdrücklich in dieser Vorschrift aufgeführten abhängig, insbesondere nicht von den Gründen, unter denen das Recht auf Einreise und Aufenthalt erlangt worden ist. Wurde bspw. die Aufenthaltserlaubnis ursprünglich zur Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft ausgestellt, so ist nach Wegfall dieses Aufenthaltszwecks bei Scheitern der Ehe trotzdem die Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG zu verlängern, wenn eine Verfestigung auf dem Arbeitsmarkt unter den Mindestvoraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 stattgefunden hat.
EuGH, U. v. 29.09.2011, Unal, C-187/10, Rn. 53, ECLI:EU:C:2011:623.
Der EuGH führt dazu aus :
„Art 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei ist dahin auszulegen, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der eine Aufenthaltserlaubnis für das Gebiet eines Mitgliedstaats erhalten hat, um dort mit einer Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats die Ehe zu schließen, und der dort seit mehr als einem Jahr mit gültiger Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber gearbeitet hat, nach dieser Bestimmung einen Anspruch auf Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis hat, selbst wenn seine Ehe zu dem Zeitpunkt, zu dem über den Verlängerungsantrag entschieden wird, nicht mehr besteht.“
EuGH, U. v. 16.12.1992, Kus, C-237/91, ECLI:EU:C:1992:527
Ebenso wie Art. 7 erlischt das Recht aus Art. 6 Abs. 1 unter zwei Voraussetzungen, nämlich nach Art. 14 Abs. 1 aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit oder weil der Betroffene den Arbeitsmarkt endgültig verlassen hat. Zu Einzelheiten siehe unter Ziff. 11.
EuGH, U. v. 06.06.1995, Bozkurt, C-434/93, Rn. 39, ECLI:EU:C:1995:168
EuGH, U. v. 10.02.2000, Nazli, C-340/97, Rn. 37, ECLI:EU:C:2000:77
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Als Bestandteil des EU-Rechts haben die Bestimmungen des ARB 1/80 Vorrang vor nationalen Rechtsvorschriften. Soweit nationale Bestimmungen mit Unionsrecht nicht im Einklang stehen, finden die betreffenden. nationalen Vorschriften auf türkische Arbeitnehmer keine Anwendung. Dies wurde vom EuGH in der Entscheidung Ertanir klargestellt.
EuGH, U. v. 30.09.1997, Ertanir, C-98/96.
Für den konkreten Fall bedeutet dies, dass entgegen der damals geltenden Vorschrift des § 4 Abs. 4 AAV (heute § 26 BeschV), wonach eine Aufenthaltserlaubnis für Spezialitätenköche nicht über eine Gesamtgeltungsdauer von drei Jahren hinaus verlängert werden durfte, eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis für diese Berufsgruppe unter den unionsrechtlichen Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 in Betracht kommt. Art. 6 Abs. 3 gestattet einem Mitgliedstaat nicht den Erlass einer nationalen Regelung, durch die ganze Kategorien türkischer Wanderarbeitnehmer wie z.B. Spezialitätenköche von vornherein von der Inanspruchnahme der durch Art. 6 Abs. 1, Spiegelstriche 1–3 verliehenen Rechte ausgeschlossen werden. In Art. 6 Abs. 3 wird den Mitgliedstaaten lediglich erlaubt, Vorschriften zur Konkretisierung von Art. 6 Abs. 1 zu erlassen. Sie werden jedoch nicht ermächtigt, die dem türkischen Arbeitnehmer zustehenden Rechte aus Art. 6 Abs. 1 an Bedingungen zu knüpfen oder einzuschränken (zu Einzelheiten vgl. Nr. 1.6.2f AAH-ARB 1/80).
Diese Rechtsprechung hat dazu geführt, dass die Ausländerbehörde bei der Ausübung ihres Ermessens im Rahmen von Verwaltungsanweisungen angehalten werden, die erstmalige Arbeitsaufnahme und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für türkische Spezialitätenköche restriktiv zu handhaben und insofern zu steuern, als durch eine strikte zeitliche Befristung unterhalb der Jahresschwelle des Art. 6 Abs. 1 ein Hineinwachsen in Ansprüche nach dem ARB 1/80 grundsätzlich verhindert werden soll (Nr. 1.6.3 AAH-ARB 1/80). Diese Ermessensbindung ist grundsätzlich zulässig, da Art. 6 Abs. 1 die Souveränität der Mitgliedstaaten bei der erstmaligen Zulassung von Arbeitnehmern zum nationalen Arbeitsmarkt nicht beschränkt.
HessVGH, B. v. 22.05.1996 – 12 TG 657/96, InfAuslR 1996, 483.
Dennoch sind die Ausländerbehörden verpflichtet, eine differenzierte Prüfung des Einzelfalls vorzunehmen und seinen wesentlichen Besonderheiten Rechnung zu tragen.
BayVGH, B. v. 14.11.1997 – 10 CS 97.559, InfAuslR 1998, 7.
Bei einem Antrag auf Verlängerung einer auf elf Monate befristeten Aufenthaltserlaubnis müssen daher besondere Umstände des Einzelfalls vorgebracht werden, die eine Ausnahme von der ermessensbindenden Weisung angezeigt erscheinen lassen. Diese können beispielsweise darauf gestützt werden, dass in einem konkreten örtlichen Bereich ein erhebliches Defizit an türkischen Spezialitätenköchen besteht, sodass viele Restaurants Gefahr laufen, ihren Betrieb bei restriktiver Handhabung der AAV ein- oder umstellen zu müssen.
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Voraussetzung für den Erwerb eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ist, dass der türkische Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats angehört, in dem er die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis begehrt. Hierbei wird auf die Lokalisierung des Arbeitsverhältnisses in dem betreffenden Mitgliedstaat abgestellt. In der Entscheidung Bozkurt führte der EuGH hierzu aus :
„Für die Zugehörigkeit eines solchen Arbeitnehmers zum regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats kommt es zunächst darauf an, ob das Arbeitsverhältnis im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats lokalisiert werden kann oder eine hinreichend enge Verknüpfung mit diesem Gebiet aufweist, wobei insbesondere der Ort der Einstellung des türkischen Staatsangehörigen, das Gebiet, in dem oder von dem aus die Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt wurde und die nationalen Vorschriften im Bereich des Arbeitsrechts und der sozialen Sicherheit zu berücksichtigen sind.“
EuGH, U. v. 06.06.1995, Bozkurt, C-434/93, ECLI:EU:C:1995:168
Auch bei fehlender Lokalisierung des Arbeitsverhältnisses wird die Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats bejaht, wenn ansonsten eine hinreichende Verknüpfung mit dem Mitgliedstaat besteht. Wegen der Sonderfälle „grenzüberschreitende Tätigkeit als Fernfahrer und türkische Seeleute“ wird auf die Nr. 2.4.3f der Allgemeinen Anwendungshinweise zum ARB 1/80 Bezug genommen. Demgegenüber gehören entsprechend den aufgezeigten Kriterien Werkvertragsarbeitnehmer ausländischer Firmen nicht dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats an. Sie verfügen regelmäßig allein über einen Arbeitsvertrag mit einer ausländischen Firma und werden für diese bspw. im Bundesgebiet tätig, ohne Zutritt zum hiesigen Arbeitsmarkt zu bekommen.
EuGH, U. v. 09.08.1994, Van der Elst, C-43/93.
Durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Payir u.a. ist geklärt, dass Studenten und Au-pair-Kräfte dem regulären Arbeitsmarkt angehören.
EuGH, U. v. 24.01.2008, Payir, C-294/06;
HessVGH, U. v. 08.04.2009 – 11 A 2264/08.
Schwierigkeiten können sich bei der Abgrenzung von Arbeitsleistungen ergeben, die im Rahmen eines Ausbildungs- und Praktikantenverhältnisses erbracht werden. Grundsätzlich hindert nichts einen Mitgliedstaat daran, einem türkischen Staatsangehörigen die erstmalige Einreise und den Aufenthalt nur zu dem Zweck zu erlauben, in seinem Hoheitsgebiet eine besondere Berufsausbildung, namentlich im Rahmen eines Ausbildungsvertrags, zu absolvieren. Hierfür wird ihm grundsätzlich eine zweckgebundene, zeitlich befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Für den Fall, dass der Auszubildende jedoch im im Rahmen eines Ausbildungsverhältnisses Leistungen erbringt und dafür eine Vergütung erhält, mit der der Arbeitgeber zum Ausdruck bringt, dass diese für ihn wirtschaftlich nicht völlig bedeutungslos sind, gehört er aufgrund einer ordnungsgemäßen Beschäftigung als Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt im Sinne des Art. 6 Abs. 1 an.
EuGH, U. v. 19.11.2002, Kurz, C-188/00;
BVerwG, U. v. 19.09.2000 – 1 C 13.00, DVBl 2001, 220;
HessVGH, B. v. 12.01.1998 – 12 TG 4426/96, InfAuslR 1998, 207.
Unerheblich ist bei Vorliegen dieser Voraussetzungen, ob die Vergütung im Rahmen eines Ausbildungsverhältnisses erfolgt. Die erwerbsbezogenen Elemente des Ausbildungsverhältnisses, die neben den ausbildungsbezogenen Elementen existieren, rechtfertigen, den Auszubildenden während seiner Ausbildung unionsrechtlich als Arbeitnehmer und damit dem regulären Arbeitsmarkt zugehörig anzusehen (a.A. wohl Nr. 2.4.1 AAH-ARB 1/80). Ein türkischer Auszubildender, dessen Tätigkeit als erwerbsbezogen eingestuft werden kann, hat daher beispielsweise aufgrund einer dreijährigen Dauer der in einem Ausbildungsverhältnis bei nur einem Arbeitgeber verbrachten Tätigkeit bei Ablauf der Gültigkeitsdauer der zweckgebundenen Aufenthaltserlaubnis die Rechtsposition aus Art. 6 Abs. 1 2. Spiegelstrich erworben. Er hat damit das Recht zum Arbeitsplatzwechsel unter der Voraussetzung der Beschäftigung im gleichen Beruf. Häufig liegen hier auch die Voraussetzungen des Art. 7 S. 2 vor.
Werden fachliche Qualifikationen im Zusammenhang mit der Ausübung des erlernten Berufs erworben, gehört dieses Beschäftigungsverhältnis dem regulären Arbeitsmarkt an. Der EuGH stellt in der Rechtssache Günaydin nicht darauf ab, dass die Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis bei einem deutschen Arbeitgeber lediglich vorübergehend zur Vorbereitung auf eine Führungsaufgabe in dessen Tochterunternehmen in der Türkei erteilt wurden, sondern vergleicht das Arbeitsverhältnis in seiner Ausstattung mit gleichartigen Arbeitsverhältnissen von Mitkonkurrenten.
EuGH, U. v. 30.09.1997, Günaydin, C-36/96.
Entscheidend ist somit, ob der türkische Arbeitnehmer, der nach Abschluss seiner Berufsausbildung einer Beschäftigung im Lohn- und Gehaltsverhältnis nachgeht, als in einem normalen Arbeitsverhältnis stehend anzusehen ist. Dies ist dann zu bejahen, wenn für ihn bei der Ausübung der tatsächlichen und echten wirtschaftlichen Tätigkeit, die er für einen Arbeitgeber nach dessen Weisung leistet, die gleichen Arbeits- und Vergütungsbedingungen gelten wie für Arbeitnehmer, die in dem betreffenden Unternehmen gleiche oder gleichartige wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben und sich seine Situation somit objektiv nicht von derjenigen dieser Arbeitnehmer unterscheidet.
In die gleiche Richtung geht die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Birden .
EuGH, U. v. 26.11.1998, Birden, C-1/97.
Danach gehört ein Arbeitnehmer auch dann dem regulären Arbeitsmarkt an und kann die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 in Anspruch nehmen, wenn die Tätigkeit, die er verrichtet hat, mit öffentlichen Mitteln gefördert wurde und dazu bestimmt war, die Eingliederung eines begrenzten Personenkreises in das Berufsleben zu gewährleisten. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann der bestimmte Zweck, der mit der Ausübung einer unselbstständigen Tätigkeit verfolgt wird, dem Arbeitnehmer, der die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erfüllt, nicht die ihm dort gewährten abgestuften Rechte nehmen. Andernfalls würde der Beschluss Nr. 1/80 ausgehöhlt und jeder praktischen Wirksamkeit beraubt. Der Begriff „regulärer Arbeitsmarkt“ bezeichnet die Gesamtheit der Arbeitnehmer, die den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des betroffenen Staates nachkommen und somit das Recht haben, eine Berufstätigkeit in seinem Hoheitsgebiet auszuüben. Der Begriff ist nicht dahin gehend auszulegen, dass es einen allgemeinen und einen einem beschränkten Personenkreis vorbehaltenen besonderen Arbeitsmarkt gibt.
Dem regulären Arbeitsmarkt gehört nicht an, wer als Strafgefangener in der Vollzugsanstalt Arbeit leistet .
BVerwG Beschl. v. 08.05.1996 – 1 B 136.95, InfAuslR 1996, 299 = Buchholz 402.240 § 46 Nr. 8.
Demgegenüber ist durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Nazli geklärt, dass ein Freigänger, der außerhalb der Anstalt in einem freien Beschäftigungsverhältnis tätig ist, weiterhin dem regulären Arbeitsmarkt zuzurechnen ist (einschränkend Rn. 2.6.7 AAH-ARB 1/80).
EuGH, U. v. 10.02.2000, Nazli, C-340/97.
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Der in Art. 6 Abs. 1 verwendete Arbeitnehmerbegriff ist ein unionsrechtlicher Begriff, der in gleicher Weise zu verstehen ist wie in den die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft betreffenden Vorschriften, insbesondere Art. 45 AEUV. Der EuGH führte zum Arbeitnehmerbegriff in der Rechtssache Birden Folgendes aus:
„Nach ständiger Rechtsprechung hat der Begriff des Arbeitnehmers eine unionsrechtliche Bedeutung und ist nicht eng auszulegen. Dieser Begriff ist anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen. Arbeitnehmer ist jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei solche Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die wegen ihres geringen Umfangs völlig untergeordnet und unwesentlich sind. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Dagegen ist für die Frage, ob jemand als Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts anzusehen ist, die Art des Rechtsverhältnisses zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber unerheblich.“
EuGH, U. v. 26.11.1998, Birden, C-1/97.
Maßgeblich für die Annahme des Vorliegens eines Arbeitsverhältnisses sind folgende drei Kriterien:
Um feststellen zu können, ob die Arbeitnehmereigenschaft vorliegt, muss insbesondere die Dauer der von dem Ausländer verrichteten Tätigkeiten berücksichtigt werden.
EuGH, U. v. 26.02.1992 , Raulin, C-357/89.
Dabei ist die gesamte Berufstätigkeit zu berücksichtigen, die der Ausländer im Bundesgebiet verrichtet, und zu beachten, dass die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel die Arbeitnehmereigenschaft nicht ausschließt.
EuGH, U. v. 03.06.1986, Kempf, C-139/85.
Bei der Beurteilung der Frage, welchen Umfang die von dem Ausländer ausgeübte Tätigkeit haben muss, um nicht als völlig untergeordnet und unwesentlich zu gelten, kann sich an der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Genc orientiert werden. Der EuGH sieht eine Tätigkeit von zehn Stunden pro Woche als eine tatsächliche und echte Tätigkeit an, die nicht im Sinne der Definition des EuGH einen so geringen Umfang hat, dass sie nur völlig untergeordnet und unwesentlich ist. Der EuGH führt aus
„Zwar kann der Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet werden, ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich sind, doch lässt es sich unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit nicht ausschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses (…) als tatsächlich und echt angesehen werden kann“
EuGH, U. v. 04.02.2010, Genc, C-14/09.
In der Rechtssache Genc hat sich der EuGH an der Mindeststundenzahl für die Arbeitsaufnahme von Studenten nach Art. 17 Abs. 2 Studenten-RL orientiert, mit der Folge, dass die Mitgliedstaaten rechtlich gehindert sind, den Erwerb der Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 zu verhindern.
Damit hat der EuGH es ermöglicht, dem Beschäftigten die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Art. 45 AEUV zuzuerkennen.
Das BSG hat für die Gesamtbewertung der Ausübung einer Tätigkeit als Beschäftigung und damit die Zuweisung des Arbeitnehmerstatus insbesondere auf die Arbeitszeit, den Inhalt der Tätigkeit, eine Weisungsgebundenheit, den wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung, die Vergütung als Gegenleistung für die Tätigkeit, den Arbeitsvertrag und dessen Regelungen sowie die Beschäftigungsdauer abgestellt.
BSG, U. v. 12.09.2018 – B 14 AS 18/17 R, Rn. 20.
Nicht alle einzelnen dieser Merkmale müssen schon je für sich die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen genügen; maßgeblich ist ihre Bewertung in einer Gesamtschau.
BSG, U. v. 12.09.2018 – B 14 AS 18/17 R, Rn. 20.
Mit dem Weisungsrecht wird an das Direktionsrecht des Arbeitgebers angeknüpft, der Art, Zeit und Ort der Arbeit im Rahmen der Arbeitsverhältnisses näher konkretisieren kann. Auch wenn die klassischen Weisungsrechte zunehmend eine geringere Rolle spielen, weil den Arbeitnehmern mehr Eigenverantwortung, Eigeninitiative und auch mehr Selbstständigkeit zugestanden werden, so bleiben sie als Indiz für eine Beschäftigung von Bedeutung.
Das Kriterium der Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers ermöglicht die Berücksichtigung struktureller und organisatorischer Gegebenheiten, in deren Rahmen sich die Ausübung der Beschäftigung vollzieht. Eine Beschäftigung liegt daher idR dann vor, wenn die personellen und räumlichen Mittel zu seiner Bewältigung, mithin der betriebliche Rahmen, vom Arbeitgeber gestellt oder organisiert werden. Außerdem bestimmt der Arbeitgeber das Ziel der Beschäftigung und die Mittel, die er zur Erreichung des Ziels einsetzt.
Indizien für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung sind:
Die Rechtsprechung des EuGH zur Dauer des Beschäftigungsverhältnisses hat kasuistischen Charakter. Der EuGH hat sich u.a. bereits zu der möglichen Arbeitnehmerstellung von Schulabgängern, die auf der Suche nach ihrem ersten Arbeitsverhältnis sind, Teilzeitarbeitnehmern, Referendaren und Gelegenheitsarbeitskräften geäußert. Schulabgänger, die eine erste Beschäftigung suchen, haben noch keinen Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden und haben folglich keine tatsächliche und echte Berufstätigkeit ausgeübt.
S. hierzu EuGH, U. v. 11.07.2002, D'Hoop, C-224/98.
Hingegen hat der EuGH Teilzeitbeschäftigungen für geeignet angesehen, um die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen.
EuGH, U. v. 23.03.1982, Levin, 53/81, Rn. 17
Maßgeblich für die Einbeziehung von Teilzeitbeschäftigungen war der Gesichtspunkt, dass diese Möglichkeit der Arbeitsaufnahme für eine große Anzahl von Personen ein wirksames Mittel zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen darstellt, auch wenn sie möglicherweise zu Einkünften führt, die unter dem liegen, was als Existenzminimum angesehen wird. Deshalb würde die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt, wenn allein Personen in den Genuss der mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zuerkannten Rechte kommen würden, die einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen und daher regelmäßig ein Arbeitseinkommen beziehen, das mindestens dem in der betreffenden Branche garantierten Mindesteinkommen entspricht.
Die Begriffe des Arbeitnehmers und der Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis sind deshalb nach Ansicht des EuGH dahin gehend zu verstehen, dass die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer auch für Personen gelten, die nur eine Teilzeittätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausüben oder aufnehmen wollen und daraus nur ein unter dem in der betreffenden Branche garantierten Mindesteinkommen liegendes Einkommen erzielen oder erzielen würden.
EuGH, U. v. 23.03.1982, Levin, 53/81.
Vermag eine Teilzeitbeschäftigung damit grundsätzlich die Arbeitnehmerstellung zu begründen, so stellt sich in der Praxis die Frage nach dem zu fordernden Umfang der Berufsausübung. In der Rechtssache Raulin hat der EuGH entschieden, dass die Tatsache, dass der Betroffene im Rahmen der Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Stunden gearbeitet hat, ein Anhaltspunkt dafür sein kann, dass die ausgeübte Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich gewesen sind.
EuGH, U. v. 26.02.1992, Raulin, C-357/89, Rn. 14.
Die Betroffene hatte im Rahmen eines Arbeitsvertrags auf Abruf 60 Stunden in einem Zeitraum von gut zwei Wochen gearbeitet; eine abschließende Entscheidung über das Vorliegen der Arbeitnehmereigenschaft wurde dem mitgliedstaatlichen Gericht überlassen.
Die Grenze der Unwesentlichkeit ist bei einer Wochenarbeitszeit von sechs Stunden erreicht.
Der Hess. VGH hat eine Wochenarbeitszeit von 3,78 Stunden für unwesentlich angesehen,
HessVGH, B. v. 25.01.17 – 9 D 108/17.
Nur in ganz besonderen Fällen vermag hier eine Gesamtabwägung noch eine Arbeitnehmereigenschaft begründen. Demgegenüber hat der EuGH in der Rechtssache Kempf zur Feststellung einer tatsächlichen und echten Erwerbstätigkeit die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft durch eine Teilzeitarbeit von zwölf Wochenstunden als Musiklehrer für möglich gehalten.
EuGH, U. v. 03.06.1986, Kempf, C-139/85.
Gleiches galt für eine Beschäftigung von zwei Stunden pro Woche in der Rechtssache Meeusen.
EuGH, U. v. 08.06.1999, Meeusen, C-337/97.
In der Rechtssache Brown ließ der EuGH eine voruniversitäre praktische Ausbildung von rund acht Monaten zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft genügen.
EuGH, U. v. 21.06.1988, Brown, C-197/86.
Das BVerwG hat bei einer Raumpflegerin, die 5,5 Stunden wöchentlich mit einer Entlohnung von durchschnittlich etwa 180 EUR im Monat die Arbeitnehmereigenschaft bejaht[1]. Maßgeblich war eine Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses. Die Arbeitnehmerin hatte 2007 einen Arbeitsvertrag geschlossen, erhielt den Tariflohn und hatte einen Anspruch auf 28 Tage Urlaub sowie 125 EUR Urlaubsgeld.
BVerwG, U. v. 19.04.2012 – 1 C 10.11, Rn. 16.
Außerdem können nachfolgende Entscheidungen zum ARB 1/80, die unter Bezugnahme auf die o. g. Entscheidungen des EuGH ergangen sind, herangezogen werden:
Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass die Entscheidungen des EuGH stark vom jeweiligen Einzelfall abhängig sind. Lediglich Tätigkeiten, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen, sind danach nicht geeignet, die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen.
EuGH, U. v. 23.03.1982, Levin, 53/81
Zwar kann der Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet werden, ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich sind, doch lässt es sich unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit nicht ausschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich und echt angesehen werden kann und es somit ermöglicht, dem Beschäftigten die Arbeitnehmereigenschaft im vorgenannten Sinne zuzuerkennen (zu einem Fall mit einer Wochenarbeitszeit von fünf bis sechs Stunden bei einem Verdienst von 180 – 240 Euro).
EuGH, U. v. 04.02.2010, Genc, C-14/09.
Die ergänzende Inanspruchnahme von Sozialleistungen schließt die Arbeitsnehmereigenschaft nur dann aus, wenn sich der Betroffene ausschließlich aus diesem Grund im Bundesgebiet aufhält und die Freizügigkeit somit missbräuchlich in Anspruch nimmt.
EuGH, U. v. 21.06.1988, Lair, 39/86.
Außerdem ist – abgesehen vom Fall des Missbrauchs – in jedem Einzelfall zu prüfen, ob das Arbeitsverhältnis das Merkmal der Dauerhaftigkeit aufweist. Dieses Merkmal wird man dahin gehend konkretisieren können, dass es nur anzunehmen ist, wenn derjenige, der die Arbeit verrichtet, sich mit der Arbeit vertraut machen kann und/oder die verrichtete Arbeit für den Arbeitgeber einen wirtschaftlichen Wert hat.
Der Umstand, dass der EU-Bürger Rentner ist und eine (geringe) Altersrente bezieht, steht seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer nicht entgegen. Rentnern ist es nicht verboten, weiterzuarbeiten; sie sehen sich im Gegenteil nicht selten wegen der Höhe ihrer Rente veranlasst, weiter erwerbstätig zu sein, um ihren Lebensunterhalt vollständig zu sichern.
EuGH, U. v. 04.02.2010, Genc, C-14/09;
HmbOVG, Beschl. v. 05.01.2012 – 3 Bs 179/11, Rn. 12, zu einem 81-jährigen Arbeitnehmer.
Berufsausbildung und Praktikum: In den Rechtssachen Lawrie-Blum und Bernini hat der EuGH anerkannt, dass jemand, der im Rahmen einer Berufsausbildung ein Praktikum ableistet, als Arbeitnehmer anzusehen ist, wenn das Praktikum unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis durchgeführt wird.
EuGH, U. v. 03.07.1986, Lawrie-Blum, 66/85;
EuGH, U. v. 26.02.1982, Bernini, C-3/90.
Art. 7 Abs. 3 d Freizügigkeits-RL legt insoweit fest, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit erhalten bleibt, wenn der Unionsbürger eine Berufsausbildung beginnt. Die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft setzt voraus, dass zwischen dieser Ausbildung und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, es sei denn, der Betroffene hat zuvor seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren (§ 2 III 1 Nr. 3).
Bei der Einstufung eines Praktikantenverhältnisses als Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis war der Umstand der geringen Produktivität des Praktikanten, der geringen Anzahl von geleisteten Wochenstunden und der beschränkten Vergütung nicht maßgeblich. Erforderlich ist vielmehr, dass der Betroffene im Rahmen der Entwicklung der beruflichen Fähigkeiten genug Stunden geleistet hat, um sich mit der Arbeit vertraut zu machen.
Missbrauchsfälle: Ein Missbrauch ist anzunehmen, wenn eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde und der Betroffene in der Absicht handelte, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen wurden.
HessVGH, Beschl. v. 05.03.2019 – 9 B 56/19;
OVG NRW, Beschl. v. 28.03.2017 – 18 B 274/17, Rn. 3f.;
OVG RhPf, Beschl. v. 20.09.2016 – 7 B 10406/16, Rn. 34;
EuGH, U. v. 12.03.2014, O. und B., C-456/12, Rn. 58 m.w.N. ;
ders. U. v. 16.10.2012, Ungarn/Slowakische Republik, C-364/10.
Ein Missbrauch liegt bei Schwarzarbeit vor, d.h. in Fällen, in denen der Ausländer im kollusiven Zusammenwirken mit dem Arbeitgeber keine Sozialversicherungsbeiträge abführt.
HessLSG, B. v. 13.09.2007 – L 9 AS 44/07 ER, FEVS 59, 110;
LSG NRW, B. v. 29.04.2015 – L 2 AS 2388/14 B ER.
Auch in Fällen, in denen die Gesamtwürdigung aller Umstände dafürspricht, dass die Aufnahme des Arbeitsverhältnisses einzig dem Ziel dient, dem Unionsbürger einen Aufenthalt im Bundesgebiet und damit auch den Erhalt der gewährten finanziellen Leistungen unter Umgehung der Vorgaben des FreizügG/EU bzw. der Freizügigkeits-RL zu ermöglichen, liegt ein Missbrauch vor
HessVGH, B. v. 05.03.2019 – 9 B 56/19;
OVG NRW, B. v. 28.03.2017 – 18 B 274/17, Rn. 3f.
Anhaltspunkte für einen Missbrauch sind:
Der EuGH hat in der Rechtssache Lair einschränkend ausgeführt, dass Missbräuche durch die Bestimmung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nicht gedeckt würden und dass es sich um einen Missbrauch handle, wenn sich ein Arbeitnehmer nur mit der Absicht in einen Mitgliedstaat begibt, um dort nach einer sehr kurzen Berufstätigkeit Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen.
EuGH, U. v. 21.06.1988, Lair, 39/86;
in der Entscheidung ging es um die Dauer einer Studienfinanzierung.
Dabei hat der EuGH in der Rechtssache Ninni-Orasche aber klargestellt, dass eine zeitlich befristete Beschäftigung von zweieinhalb Monaten grundsätzlich geeignet ist, die Arbeitnehmereigenschaft nach Art. 39 EG zu begründen, ohne dass daraus allein schon ein Missbrauch geschlossen werden kann.
EuGH, U. v. 06.11.2003, Ninni-Orasche, C-413/01.
Vergütung: Neben der Dauerhaftigkeit des Arbeitsverhältnisses muss dem Beschäftigten eine Gegenleistung in Form einer Vergütung gewährt werden. Dabei kann den Entscheidungen des EuGH in den Rechtssache Lawrie-Blum und Bernini entnommen werden, dass auch Personen, die ein Praktikum im Rahmen ihrer Berufsausbildung ableisten, als Arbeitnehmer angesehen werden können, obwohl sie lediglich ein geringes Arbeitsentgelt beziehen.
EuGH, U. v. 03.07.1986, Lawrie-Blum, 66/85, Rn. 19-21,
EuGH, U. v. 26.02.1982, Bernini, C-3/90, Rn. 16.
Der EuGH verlangt insbesondere nicht, dass das Arbeitsentgelt so hoch ist, dass der Betroffene damit seinen Lebensunterhalt vollständig bestreiten kann. Vielmehr hat er in der Rechtssache Levin festgestellt, dass das Arbeitsentgelt auch unter „dem in der betreffenden Branche garantierten Mindesteinkommen [liegen kann]. Insoweit kann nicht zwischen Personen, die sich mit ihren Einkünften aus einer derartigen Tätigkeit begnügen wollen, und Personen differenziert werden, die diese Einkünfte durch andere Einkünfte, sei es aus Vermögen oder aus der Arbeit eines sie begleitenden Familienmitglieds, ergänzen.“
EuGH, U. v. 23.03.1982, Levin, 53/81, Rn. 16.
Als Entgelt für die ausgeübte Beschäftigung reicht es aber nicht aus, wenn eine Person im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Erhaltung, Wiederherstellung oder Förderung der Arbeitsfähigkeit eingesetzt wird. In der Rechtssache Bettray hat der EuGH entscheidend darauf abgestellt, dass die im Rahmen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ausgeübten Tätigkeiten nicht als tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeiten angesehen werden könnten, da sie nur ein Mittel der Rehabilitation oder der Wiedereingliederung der Arbeitnehmer in das Arbeitsleben darstellen. Die betreffenden Beschäftigungen seien Personen vorbehalten, die infolge von Umständen, die in ihrer Person begründet liegen, nicht in der Lage sind, einer Beschäftigung unter normalen Bedingungen nachzugehen.
EuGH, U. v. 31.05.1989, Bettray, 344/87.
Demgegenüber wurde in der Rechtssache Steymann entschieden, dass ein Mitglied der Bhagwan-Vereinigung durchaus unter den Arbeitnehmerbegriff fällt, auch wenn die Gegenleistung, die diese Person erhält, nur mittelbar aus der tatsächlich erbrachten Arbeit herrührt
EuGH, U. v. 05.10.1988, Steymann, 196/87.
Diesen Entscheidungen lässt sich als Grundsatz entnehmen, dass jedenfalls Gegenleistungen dann nicht als Arbeitsentgelt anzusehen sind, wenn sie im Rahmen von Maßnahmen gewährt werden, die lediglich als Instrument zur Integration von Personen mit persönlichen Unzulänglichkeiten gewährt werden und daher nicht als Form von Arbeit angesehen werden können.
Erlöschen der Arbeitnehmereigenschaft: Mit der Rechtsprechung des EuGH ist davon auszugehen, dass der Betroffene grundsätzlich mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Arbeitnehmereigenschaft verliert, diese Eigenschaft nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses aber dennoch bestimmte Folgewirkungen zeitigt.
EuGH, U. v. 21.06.1988, Lair, 39/86;
EuGH, U. v. 26.02.1992, Raulin, C-357/89.
In den vom EuGH bisher zu entscheidenden Fällen zur Beziehung zwischen einer Erwerbstätigkeit und einer späteren Berufsausbildung bzw. einem Studium hat der EuGH durchaus auch Folgewirkungen der Arbeitnehmereigenschaft anerkannt. Zu Einzelheiten siehe unten bei § 2 III 1 Nr. 2.
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Die Ordnungsmäßigkeit einer Beschäftigung im Sinne der Art. 6 Abs. 1 setzt eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt und damit das Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechts voraus. Außerdem muss die Beschäftigung im Einklang mit den aufenthaltsrechtlichen und arbeitserlaubnisrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats stehen
EuGH, U. v. 20.09.1990, Sevince, C-192/89;
ders., U. v. 16.12.1992, Kus, C-237/91;
ders., U. v. 06.06.1995, Bozkurt, C-434/93.
Für die Beantwortung der Frage, ob der türkische Arbeitnehmer ordnungsgemäß im regulären Arbeitsmarkt beschäftigt ist, sind steuer- und sozialversicherungsrechtliche Rechtsverstöße im Zusammenhang mit der Beschäftigung allenfalls erheblich, wenn der türkische Arbeitnehmer insoweit gegen ihn selbst treffende Rechtspflichten verstößt oder wenn er sich an entsprechenden Rechtsverstößen des Arbeitgebers kollusiv beteiligt, etwa indem er mit ihm die Abrede trifft, dass die Arbeitsvergütung ohne Berücksichtigung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen – „schwarz“ – ausgezahlt werden soll.
VGH BW, U. v. 10.10.2007 – 11 S. 2967/06, InfAuslR 2008, 61.
Keine gesicherte, sondern nur eine vorläufige Rechtsposition auf dem Arbeitsmarkt hat ein türkischer Arbeitnehmer während des Zeitraums, in dem sein Widerspruch oder seine Klage aufschiebende Wirkung gegen eine ablehnende. behördliche Entscheidung entfaltet. Dies gilt auch für Beschäftigungszeiten, in denen sein Aufenthalt gem. § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG (vormals § 69 Abs. 3 AuslG) als erlaubt oder nach § 81 Abs. 3 S. 2 AufenthG (vormals § 69 Abs. 2 S. 1 AuslG) als geduldet gilt.
Für das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht kommt es nicht darauf an, ob die materiell bestehende Rechtsposition durch ein formelles Dokument bescheinigt ist. Unerheblich ist, ob die Ausländerbehörde die bisherige Rechtsposition durch einen Aufenthaltstitel bestätigt oder diese wegen Rechtswidrigkeit aufgehoben hat; entscheidend ist, ob sich der Arbeitnehmer auf eine im Einklang mit den maßgeblichen Vorschriften stehende gesicherte Rechtsposition und damit einen ordnungsgemäßen Aufenthalt berufen kann
HessVGH, Beschl. v. 21.09.1998 – 6 TG 2276/97.
Ein türkischer Arbeitnehmer kann Rechte aus Art. 6 Abs. 1 grundsätzlich nur dann herleiten, wenn seine Beschäftigung ununterbrochen rechtmäßig war. Allerdings sind bei der Berechnung der Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung kurze Zeiträume zu berücksichtigen, in denen er keine gültige Aufenthaltserlaubnis oder Arbeitserlaubnis gehabt hat, wenn die zuständige Behörde die Ordnungsmäßigkeit des Aufenthalts nicht infrage gestellt und eine neue Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis erteilt hat.
Insoweit hat der EuGH ausgeführt:
„Insoweit ist unerheblich, dass der Kläger zwischen 1985 und 1989 dreimal die Verlängerung seiner befristeten Arbeitserlaubnis jeweils erst nach dem Ablauf von deren Geltungsdauer beantragt hat, so dass er während kurzer Zeiträume nicht im Besitz einer gültigen Arbeitserlaubnis war, denn die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats haben die Ordnungsgemäßheit seines Aufenthalts deswegen nicht in Frage gestellt, sondern ihm vielmehr jedes Mal eine neue Arbeitserlaubnis erteilt […].“
EuGH, U. v. 16.03.2000, Ergat, C-329/97.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Abschnitt 2.3 AAH-ARB 1/80 Bezug genommen.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der ordnungsgemäßen Beschäftigung ist im Falle der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis der letzte Tag der Geltungsdauer der bisher erteilten Aufenthaltstitel, im Falle der nachträglichen zeitlichen Beschränkung der Aufenthaltserlaubnis der Zeitpunkt der Befristung
HessVGH, Beschl. v. 29.03.1995 – 12 TH 2856/94, NVwZ-RR 1995, 470.
Eine ordnungsgemäße Beschäftigung ist bereits zum Zeitpunkt der Täuschung über das Aufenthaltsrecht nicht mehr gegeben, unabhängig davon, ob der Betroffene noch – formal – über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt, z.B. weil er eine Scheinehe eingegangen war oder weil er die Behörde über das Fortbestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft getäuscht hat. Der EuGH sieht in einem solchen Fall die Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 nicht als gegeben an, da die Beschäftigung aufgrund einer Aufenthaltserlaubnis ausgeübt wurde, die der türkische Arbeitnehmer allein durch eine Täuschung erwirkt hat
EuGH, U. v. 05.06.1997, Kol, C-285/95.
Dabei ist nicht erforderlich, dass es wegen der Täuschungshandlung zu einer Verurteilung gekommen ist. Maßgeblich ist lediglich, ob der Betroffene der Behörde gegenüber nachweislich falsche Angaben zum Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft gemacht hat. In diesem Falle verfügt er über keine gesicherte Rechtsposition, sodass bereits zum Zeitpunkt der Täuschung eine ordnungsgemäße Beschäftigung nicht mehr gegeben ist, auch wenn die Behörde die Aufenthaltserlaubnis erst nachträglich zeitlich beschränkt
BVerwG, U. v. 17.06.1998 – 1 C 27.96, DVBl 1998, 1028.
In Bezug auf die Titelfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG fehlt es an einer gesicherten Rechtsstellung, wenn der Aufenthaltstitel nicht erteilt wird.
EuGH, U. v. 07.11.2013 Demir, C-225/12;
BayVGH, Beschl. v. 18.08.2014 – 10 CS 14.1324, Rn. 8,
ders., Beschl. v. 04.08.2005 – 10 CS 05.1658;
SächsOVG Beschl. v. 01.08.2014 – 3 B 104/14;
dass., Beschl. v. 17.05.2010 – 3 B 88/10;
OVG LSA, Beschl. v. 07.07.2014 – 2 M 29/14;
HessVGH, Beschl. v. 15.10.2008 – 11 B 2104/08, InfAuslR 2009, 177;
wohl auch BVerwG, U. v. 30.03.2010 – 1 C 6.09, BVerwGE 136, 211 Rn. 22;
a.A. Pfaff, ZAR 2007, 415;
Pfersich, ZAR 2009, 147, Anm. zu HessVGH, Beschl. v. 15.10.2008 – 11 B 2104/08, ZAR 2009, 146.
Nach der Rechtsprechung des EuGH setzt die Ordnungsgemäßheit der Beschäftigung im Sinne der Art. 6 Abs. 1 „eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt voraus“
EuGH, U. v. 20.09.1990, Sevince, C-192/89, und.
EuGH, U. v. 16.12.1992, Kus, C-237/91.
Eine verfahrensrechtliche Rechtsstellung ist daher nicht ausreichend, um einen ordnungsgemäßen Aufenthalt zu begründen. In der Rechtssache Kus (s. o.) hat der EuGH ausdrücklich im 1. Leitsatz darauf hingewiesen, dass ein türkischer Arbeitnehmer die Anforderungen an einen ordnungsgemäßen Aufenthalt nicht erfüllt,
„wenn er diese Beschäftigung im Rahmen eines Aufenthaltsrechts ausgeübt hat, das ihm nur aufgrund einer nationalen Regelung eingeräumt war, nach der der Aufenthalt während des Verfahrens zur Erteilung einer Arbeitserlaubnis im Aufnahmeland erlaubt ist“.
Diese Rechtsprechung verneint eine gesicherte Rechtsposition für jedes zur Durchführung eines Verfahrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eingeräumte Aufenthaltsrecht ohne Rücksicht darauf, ob – wie in dem zugrunde liegenden Sachverhalt – die vorläufige Rechtsposition durch eine gerichtliche Entscheidung begründet worden war oder unmittelbar auf einer Bestimmung des nationalen Ausländerrechts beruhte.
In der Rechtssache Demir hat der EuGH diese Rechtsprechungslinie fortgeführt und festgestellt, dass eine „ordnungsgemäße Beschäftigung“ eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats und damit ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht voraussetzt. Dies hat zur Folge, dass die Ausübung einer Beschäftigung durch einen türkischen Arbeitnehmer im Rahmen einer Erlaubnis zum vorläufigen Aufenthalt, die nur bis zur endgültigen Entscheidung über sein Aufenthaltsrecht gilt, nicht als „ordnungsgemäß“ eingestuft werden kann
EuGH, U. v. 07.11.2013 Demir, C-225/12, Rn. 47;
BayVGH, Beschl. v. 18.08.2014 – 10 CS 14.1324, Rn. 8,
ders., Beschl. v. 04.08.2005 – 10 CS 05.1658;
SächsOVG Beschl. v. 01.08.2014 – 3 B 104/14;
dass., Beschl. v. 17.05.2010 – 3 B 88/10;
OVG LSA, Beschl. v. 07.07.2014 – 2 M 29/14;
HessVGH, Beschl. v. 15.10.2008 – 11 B 2104/08, InfAuslR 2009, 177;
wohl auch BVerwG, U. v. 30.03.2010 – 1 C 6.09, BVerwGE 136, 211 Rn. 22;
a.A. Pfaff, ZAR 2007, 415;
Pfersich, ZAR 2009, 147, Anm. zu HessVGH, Beschl. v. 15.10.2008 – 11 B 2104/08, ZAR 2009, 146.
Dies gilt auch für die Titelfiktion, denn auch nach § 81 Abs. 4 AufenthG „gilt“ der bisherige Aufenthaltstitel lediglich vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend. Der Ausländer wird durch die Neuregelung des § 81 Abs. 4 AufenthG somit nur graduell bessergestellt, er hält aber gleichwohl noch keine gesicherte Aufenthaltsposition, zumindest nicht im Sinne der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 6.
BayVGH Beschl. v. 04.08.2005 – 10 CS 05.1658.
In diesem Zeitraum zurückgelegte Beschäftigungszeiten sind nicht ordnungsgemäß, da sie nur auf einer vorläufigen, verfahrensrechtlichen Rechtsposition beruhen; andernfalls würde einer behördlichen Entscheidung, durch die das Aufenthaltsrecht abgelehnt würde, jede Bedeutung genommen und dem Arbeitnehmer ermöglicht, für sich die in Art. 6 Abs. 1 vorgesehenen Rechte während eines Zeitraums zu begründen, in dem er die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt
Zu weiteren Einzelfällen wird auf Nr. 2.3.2 AAH-ARB 1/80 verwiesen.
Die Annahme einer materiell-rechtlichen Wirkung der Fiktion würde die Stellung unbegründeter Verlängerungsanträge und eine Verzögerung des Verfahrens geradezu herausfordern. Sie würde es auch der Ausländerbehörde ermöglichen, durch den Zeitpunkt ihrer Entscheidung Einfluss auf die materielle Rechtslage zu nehmen. Dies war vom Gesetzgeber ersichtlich nicht gewollt
BVerwG, U. v. 30.03.2010 – 1 C 6.09, BVerwGE 136, 211 Rn. 22.
Eine spätere positive behördliche oder gerichtliche Entscheidung führt jedoch nachträglich zur Ordnungsmäßigkeit der in diesem Zeitraum zurückgelegten Beschäftigungszeiten und deren Anrechnungsfähigkeit
SächsOVG Beschl. v. 01.08.2014 – 3 B 104/14;
dass., B. v. 17.05.2010 – 3 B 88/10;
EuGH, U. v. 20.09.1990, Sevince, C-192/89.
Eine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne der Art. 6 Abs. 1 liegt auch dann nicht vor, wenn der türkische Staatsangehörige lediglich über eine asylverfahrensrechtliche Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 S. 1AsylVfG oder eine Duldung verfügt. Ein Anspruch auf eine Aufenthaltsgestattung wird allein durch ein Asylgesuch oder eine Asylantragstellung begründet; sie dient lediglich dem Zweck der Durchführung des Asylverfahrens. Eine behördliche Prüfung des Aufenthaltsbegehrens findet nicht statt. Somit kann auch keine gesicherte aufenthaltsrechtliche Position vermittelt werden.
BVerwG Beschl. v. 27.08.1997 – 1 B 169.97, Buchholz 402.240 § 6 AuslG 1990 Nr. 12.
Dagegen begründet der Besitz einer Aufenthaltserlaubnis zu Studien- oder Ausbildungszwecken nach den §§ 16ff. AufenthG ebenso wie zuvor die Aufenthaltsbewilligung eine gesicherte Rechtsposition und damit eine ordnungsgemäße Beschäftigung, zumal der Studienaufenthalt nach § 16 Abs. 4 AufenthG in ein Daueraufenthaltsrecht einmünden kann. Aber auch dann, wenn der Ausbildungsaufenthalt nach nationalem Recht nicht auf einen Daueraufenthalt ausgerichtet ist, kann allein die Zwecksetzung sowie eine zeitliche Beschränkung eines Aufenthaltstitels dem türkischen Arbeitnehmer, wenn er ansonsten die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erfüllt, nicht die durch diese Vorschrift verliehenen abgestuften Rechte nehmen
EuGH, U. v. 30.09.1997, Günaydin, C-36/96;
NdsOVG, B. v. 20.10.2011 – 11 ME 280/11, InfAuslR 2012, 12.
An dem zeitlichen Erfordernis der Beschäftigung von mindestens einem Jahr mangelt es auch nicht deshalb, weil eine ordnungsgemäße Beschäftigung eine werktäglich ununterbrochene Tätigkeit von mindestens einem Jahr voraussetzen würde
So aber Welte ZAR 2010, 53ff.;
Huber AufenthG ARB 1/80 Art. 6 Rn. 23,
die ein Student aber nach § 16 Abs. 3 AufenthG in der Regel nicht rechtmäßig ausüben dürfe. Ein solches Erfordernis einer werktäglich ununterbrochenen Tätigkeit lässt sich weder dem Wortlaut des Art. 6 noch der dazu ergangenen maßgeblichen Rechtsprechung des EuGH entnehmen
Ebenso NdsOVG, B. v. 20.10.2011 – 11 ME 280/11, InfAuslR 2012, 12;
HessVGH, U. v. 08.04.2009 – 11 A 2264/08, Rn. 34;
Gutmann GK-AufenthG ARB 1/80 Art. 6 Rn. 64;
Hailbronner AuslR ARB 1/80 Art. 6 Rn. 37;
a.A. Welte ZAR 2010, 53ff.;
Huber AufenthG ARB 1/80 Art. 6 Rn. 23.
Denn andernfalls wären nach deutschem Recht sozialversicherungsfreie geringfügige Beschäftigungsverhältnisse von vornherein ungeeignet, dem Betroffenen die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Art. 6 zu vermitteln, obwohl eine entsprechende Teilzeitbeschäftigung typischerweise nur an einzelnen und nicht an allen Werktagen ausgeübt wird. Ausreichend ist es daher, wenn die 120 ganzen oder 240 halben Tage Beschäftigung im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses gleichmäßig auf das Jahr verteilt werden
Ebenso NdsOVG, B. v. 20.10.2011 – 11 ME 280/11, InfAuslR 2012, 12;
HessVGH, U. v. 08.04.2009 – 11 A 2264/08, Rn. 34;
Gutmann GK-AufenthG ARB 1/80 Art. 6 Rn. 64;
Hailbronner AuslR ARB 1/80 Art. 6 Rn. 37;
a.A. Welte ZAR 2010, 53ff.;
Huber AufenthG ARB 1/80 Art. 6 Rn. 23.
Sofern die Tage am Stück genommen werden, kann keine Rechtsposition nach Art. 6 erworben werden, da in diesem Fall die Beschäftigung nicht über einen Zeitraum von einem Jahr ausgeübt wird.
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Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich erfordert eine mindestens einjährige ununterbrochene ordnungsgemäße Beschäftigung bei ein und demselben Arbeitgeber, um ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht auszulösen.
EuGH, U. v. 29.05.1997, Eker, C-386/95.
Diese Vorschrift beruht auf dem Rechtsgedanken, dass nur eine vertragliche Beziehung, die ein Jahr lang aufrechterhalten wird, eine Verfestigung des Arbeitsverhältnisses erkennen lässt, die ausreicht, um dem türkischen Arbeitnehmer die Fortsetzung seiner Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber zu gewährleisten. Außerdem würde die Systematik der durch die drei Spiegelstriche von Art. 6 Abs. 1 eingeführten Stufen der schrittweisen Eingliederung des türkischen Arbeitnehmers in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats erschüttert, wenn der Betroffene das Recht hätte, eine Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber aufzunehmen, solange er nicht einmal die im 1. Spiegelstrich von Abs. 1 enthaltene Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Beschäftigung von einem Jahr erfüllt hat. Beschäftigungszeiten von weniger als einem Jahr bei verschiedenen Arbeitgebern können nicht kumuliert werden, um die erste Verfestigungsstufe des Art. 6 Abs. 1 zu erlangen.
Führt nach den vorstehenden Ausführungen ein Arbeitgeberwechsel innerhalb des ersten Beschäftigungsjahres zum Erlöschen der bis dahin erworbenen anrechenbaren Beschäftigungszeiten, so ist damit aber noch lange nicht die ausländerbehördliche Praxis vereinbar, die häufig mit einer Befristung der Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Abs. 2 reagiert. Gegen die Befristung sprechen zwei Gründe:
Grundsätzlich hat der türkische Arbeitnehmer erst nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung die Möglichkeit, den Arbeitsplatz zu wechseln, sofern der neue Arbeitgeber derselben Berufsgruppe angehört. Unterhalb der zweiten Verfestigungsstufe führt ein freiwilliger Arbeitgeberwechsel daher grundsätzlich zum Verlust bereits erworbener Rechte aus Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich, dh, Beschäftigungszeiten beim ersten Arbeitgeber gehen verloren; eine andere Sichtweise wäre mit der Systematik des Art. 6 Abs. 1 nicht vereinbar.
Einzelheiten siehe oben Rn. 15.
Ist bei einem freiwilligen Arbeitgeberwechsel vor Ablauf von drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung vom Wegfall einer erworbenen Rechtsposition auszugehen, so gilt Gleiches nicht für den unfreiwilligen Arbeitgeberwechsel. Grundlage für die abweichende Beurteilung bildet Art. 6 Abs. 2 S. 2. Danach berühren die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit (zu diesem Begriff siehe unten) nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche. Verliert ein türkischer Arbeitnehmer nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung seinen Arbeitsplatz und meldet er sich ordnungsgemäß arbeitslos, so bleiben nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 seine Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich unberührt. Der dort verwendete Begriff „Ansprüche“ beinhaltet, dass es sich nicht um Zeiten von beliebiger – ggf. äußerst kurzer – Dauer handelt, sondern um vorherige Beschäftigungszeiten, die ausreichend lang sind, um einen Anspruch auf die Beschäftigung zu begründen, der nach der Logik dieser Vorschrift – unbeschadet der vorübergehenden Unterbrechung der Erwerbstätigkeit aus Gründen, die dem türkischen Arbeitnehmer nicht angelastet werden können – fortbestehen soll. Diese Vorschrift soll verhindern, dass ein türkischer Arbeitnehmer, der wieder zu arbeiten beginnt, nachdem er wegen langer Krankheit oder unverschuldeter Arbeitslosigkeit nicht arbeiten konnte, von Neuem – wie ein türkischer Arbeitnehmer, der in dem betreffenden Mitgliedstaat noch nie eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt hat – die in Art. 6 Abs. 1 vorgeschriebenen Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung zurücklegen muss.
EuGH, U. v. 26.10.2006, Güzeli, C-4/05, Rn. 44.
Dient Art. 6 Abs. 2 S. 2 der Aufrechterhaltung der Ansprüche, die ein türkischer Arbeitnehmer aufgrund vorher zurückgelegter Beschäftigungszeiten bereits erworben hat, kann dies aber nur bedeuten, dass dem türkischen Arbeitnehmer ein Arbeitgeberwechsel außerhalb der gesetzlichen Systematik gestattet wird. Andernfalls bestünde das Problem, dass dem arbeitslos gemeldeten türkischen Arbeitnehmer vom Arbeitsamt eine neue Stelle angeboten wird, die er nicht annehmen dürfte, um seine Rechtsansprüche aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit zu erhalten. Lehnt er aber die seitens der Arbeitsverwaltung angebotene Stelle ab, so ist er nicht mehr unfreiwillig arbeitslos (siehe unten) mit der Folge, dass er nicht mehr die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 2 S. 2 erfüllt und deshalb seine Rechtsansprüche verliert.
Die gesetzliche Konzeption des Art. 6 Abs. 2 S. 2 gebietet daher, einen Arbeitgeberwechsel zuzulassen, der eine Folge unfreiwilliger Arbeitslosigkeit ist. Die Regelung des Art. 6 Abs. 2 S. 2 lässt mithin einen Arbeitgeberwechsel ausnahmsweise nach Ablauf eines Jahres ordnungsgemäßer Beschäftigung zu, wenn der türkische Arbeitnehmer unfreiwillig arbeitslos geworden ist (a.A. wohl Nr. 2.5.2 der AAH-ARB 1/80).
Die Systematik des Art. 6 Abs. 1 schließt eine Rückkehr zum ersten Arbeitgeber aus. Selbst dann, wenn die erste Verfestigungsstufe nach Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich nach einjähriger ordnungsgemäßer Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber erreicht und anschließend eine ordnungsgemäße Beschäftigung unterhalb der zweiten Verfestigungsstufe ausgeübt wird, verleiht Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich kein Recht auf Erneuerung der Arbeitserlaubnis beim ersten Arbeitgeber.
EuGH, U. v. 05.10.1994, Eroglu, C-355/93
Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich soll nur die Fortsetzung einer Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber über die ursprüngliche Beschäftigungsdauer von einem Jahr hinaus garantieren. Ein Arbeitgeberwechsel ist erst nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber assoziationsrechtlich unschädlich. Jeder frühere Wechsel des Arbeitgebers lässt den bereits erworbenen Anspruch aus Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich wieder erlöschen, es sei denn, es liegt ein Fall des Art. 6 Abs. 2 S. 2 vor.
Nach einer vierjährigen ordnungsgemäßen Beschäftigung eröffnet Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich die Möglichkeit eines uneingeschränkten Zugangs zum Arbeitsmarkt, ohne dass dem türkischen Arbeitnehmer der Vorrang der Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten der EU entgegengehalten werden kann. Dieses Recht impliziert auch – ebenso wie Art. 45 AEUV, dessen geltende Grundsätze soweit wie möglich als Leitlinien für die Behandlung türkischer Arbeitnehmer im Rahmen der ARB 1/80 herangezogen werden können –, sich im Aufnahmestaat für eine angemessene Zeit aufzuhalten, um dort eine neue Stelle zu suchen. Der türkische Arbeitnehmer, der die 3. Stufe des Art. 6 Abs. 1 erreicht hat, unterliegt beim Arbeitgeberwechsel nicht mehr den Vorgaben des Art. 6 Abs. 2, d.h. er behält sein Recht auch dann, wenn er den Arbeitsplatz kündigt und eine neue Arbeitsstelle annimmt.
Der EuGH hat dies in der Rechtssache Sedef (Urt. v. 10.01.2006 – C-230/03 Rn. 54) mit folgenden Worten festgestellt:
„Erfüllt der türkische Arbeitnehmer dagegen den Tatbestand des Art 6 I 3. Gedankenstrich, so setzt die praktische Wirksamkeit des ihm in dieser Bestimmung zuerkannten uneingeschränkten Rechts auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis sein Recht voraus, die Ausübung einer Berufstätigkeit vorübergehend aufzugeben und binnen angemessener Frist eine andere zu suchen; Art 6 II findet in diesem Fall keine Anwendung (vgl. U. Dogan, Rn 16, 18 und 19).“
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Beschäftigungsrechtliche und daraus folgende aufenthaltsrechtliche Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1 setzen voraus, dass die erforderliche Beschäftigung nicht durch Fehlzeiten unterbrochen ist, es sei denn, die Unterbrechung ist nach Art. 6 Abs. 2 unschädlich. Erfüllt der türkische Arbeitnehmer den Tatbestand des Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich, so findet Art. 6 Abs. 2 keine Anwendung.
EuGH, U. v. 10.01.2006, Sedef, C-230/03 Rn. 54
(mit Verweis auf Dogan, Rn. 16, 18 und 19).
Art. 6 II unterscheidet zwischen zwei Kategorien von Unterbrechungen der Beschäftigung und sieht für sie unterschiedliche Folgen vor:
Art. 6 Abs. 2 S. 1 betrifft nur Zeiten tatsächlicher Unterbrechung der Beschäftigung, ohne dass das Arbeitsverhältnis aufgelöst wird (Jahresurlaub, Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurze Krankheit). Diese relativ kurzen Zeiten der Abwesenheit des Arbeitnehmers werden Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgesetzt und führen zur Anrechnung im Rahmen der Beschäftigungszeiten des Art. 6 Abs. 1. Dabei sind gemäß dem Rundschreiben der BA vom 24.11.1980 Krankheitszeiten bis zu drei Monaten unschädlich und wirken anspruchsbegründend.
ANBA 1981, 2 (3) – abgedr. in Huber HdB, AuslR und Asylrecht, E 402.1.
Die in Art. 6 Abs. 2 S. 2 genannten beschäftigungslosen Zeiten, die durch lange Krankheit oder unverschuldete Arbeitslosigkeit bedingt sind, werden zwar nicht Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgesetzt; die Unterbrechung ist jedoch insofern unschädlich, als der Arbeitnehmer dadurch nicht die aufgrund der vorherigen ordnungsgemäßen Beschäftigungszeiten erworbenen Ansprüche verliert. Aus dem Wortlaut „die […] erworbenen Ansprüche“ wird gefolgert, dass bei Eintritt der längeren Arbeitsunterbrechung bereits assoziationsrechtliche Ansprüche bestehen müssen. Art. 6 Abs. 2 S. 2 findet daher grundsätzlich vor Erreichen der ersten Verfestigungsstufe keine Anwendung.
EuGH, U. v. 26.10.2006, Güzeli, C-4/05, Rn. 44.
Etwas anderes könnte in Fällen gelten, in denen ein Arbeitnehmer vor Erreichen des ersten Spiegelstrichs in Untersuchungshaft genommen wird und anschließend vom Arbeitgeber wieder eingestellt wird.
Art. 6 Abs. 2 betrifft nur Unterbrechungen, in denen der Arbeitnehmer aus tatsächlichen Gründen nicht arbeiten kann. Beschäftigungslose Zeiten, in denen er aus Rechtsgründen nicht arbeiten darf, weil er bspw. nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels oder der erforderlichen Zustimmung zur Ausübung einer Beschäftigung ist, werden von dieser Regelung nicht erfasst.
BVerwG, U. v. 29.04.1997 – 1 C 3.95, Buchholz 402.240 § 6 AuslG 1990 Nr. 10 zur alten Rechtslage.
Auch auf den Fall, dass eine tatsächlich nicht unterbrochene Beschäftigung, die zeitweise nicht ordnungsgemäß ist, weil z.B. der erforderliche Aufenthaltstitel oder die erforderliche Zustimmung zur Ausübung einer Beschäftigung fehlt, ist Art. 6 Abs. 2 nicht, auch nicht entsprechend, anwendbar.
Grundsätzlich setzt die Regelung des Art. 6 Abs. 2 S. 2 voraus, dass der türkische Staatsangehörige sich bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit der Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellt, d.h. sich arbeitslos meldet:
„Hingegen steht unter Berücksichtigung der besonderen tatsächlichen Umstände des Ausgangsverfahrens, wie sie im Vorlagebeschluss dargelegt sind, nichts dem entgegen, dass das vorlegende Gericht diese Unterbrechungen als Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit im Sinne von Art 6 II 2 des Beschlusses ansieht, selbst wenn der Kläger sich nicht als Arbeitsuchender hat registrieren lassen, wie es diese Bestimmung grundsätzlich verlangt.“
EuGH, U. v. 10.01.2006, Sedef, C-230/03, Rn. 56
Bei der Berechnung der Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung im Rahmen der Art. 6 Abs. 1 sind kurze Zeiträume zu berücksichtigen, in denen der türkische Arbeitnehmer zwar keine gültige Aufenthaltserlaubnis oder Arbeitserlaubnis besaß, die zuständige Behörde jedoch die Ordnungsmäßigkeit des Aufenthalts nicht infrage gestellt, sondern eine Aufenthaltserlaubnis erteilt bzw. verlängert hat.
EuGH, U. v. 30.09.1997, Ertanir, C-98/96,
EuGH, U. v. 16.03.2000, Ergat, C-329/97.
Art. 6 Abs. 2 verleiht aber nicht das Recht, bei endgültiger Arbeitsunfähigkeit in dem Mitgliedstaat zu verbleiben, da der Betroffene dann nicht mehr dem regulären Arbeitsmarkt angehört.
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Dass Arbeitslosigkeit nicht automatisch zur Folge hat, dass ein türkischer Staatsangehöriger nicht mehr als Arbeitnehmer anzusehen ist und damit aus dem Anwendungsbereich des ARB 1/80 fällt, ergibt sich unmittelbar aus Art. 8 II, der sich mit der Vermittlung von „regulär als Arbeitslose gemeldeten türkischen Arbeitnehmern“ befasst. Aus dieser Norm lässt sich ableiten, dass die Arbeitnehmereigenschaft jedenfalls nicht automatisch entfällt, wenn sich der arbeitslose türkische Staatsangehörige bei der Arbeitsverwaltung regulär als arbeitslos gemeldet hat.
Maßgeblich für die Beurteilung der Auswirkungen von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit für türkische Arbeitnehmer, die die 1. und 2. Stufe erreicht haben, ist Art. 6 Abs. 2 S. 2. Hier richteten sich die Folgen der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit nach Art. 6 Abs. 2 S. 2. Ob ein türkischer Staatsangehöriger unfreiwillig arbeitslos geworden ist, ist nach dem Rundschreiben der BA vom 24.11.1980
ANBA 1981, 2 (3) – abgedr. in Huber HdB AuslR und Asylrecht E 402.1.
in sinngemäßer Anwendung des § 119 AFG (heute § 144 SGB III) festzustellen
VG Berlin, B. v. 13.05.1994 – VG 29A2001.93, InfAuslR 1994, 310.
Unfreiwillig ist die Arbeitslosigkeit, wenn sie vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig oder durch einen legitimen Grund gerechtfertigt ist.
EuGH, U. v. 10.01.2006, Sedef, C-230/03, Rn. 52
Dass auch ein schuldhaftes Verhalten im Hinblick auf die Auflösung des Arbeitsverhältnisses schädlich ist, steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH. Denn in der Rechtssache Tetik[1] stellt er darauf ab, dass Art. 6 Abs. 2 S. 2 Zeiten der Beschäftigungslosigkeit betrifft, „die auf eine lange Krankheit oder unverschuldete Arbeitslosigkeit zurückzuführen sind, also den Fall, dass die Beschäftigungslosigkeit des Arbeitnehmers nicht auf einem schuldhaften Verhalten seinerseits beruht (wie sich auch aus der Verwendung des Adjektivs ‚unverschuldet‘ in der deutschen Fassung ergibt)“.
EuGH, U. v. 23.01.1997, Tetik, C-171/95.
Weiterhin ist zu beachten, dass es nicht nur darauf ankommt, aus welchem Grund ein Arbeitsverhältnis aufgelöst wurde, sondern – Art. 6 Abs. 2 S. 2 spricht von „Zeiten“ – auch zu berücksichtigen ist, ob der Arbeitnehmer sich weigert, eine zumutbare Beschäftigung anzunehmen bzw. sich weigert, an einer beruflichen Ausbildung oder Weiterbildung teilzunehmen (§ 144 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGB III). Insoweit ist ein historischer Rückblick auf die VO 15/61/EWG über die ersten Maßnahmen zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft vom 16.08.1961 hilfreich. Diese VO enthielt in den Art. 6 und 7 Regelungen, an die sich der Assoziationsrat bei der Schaffung des Art. 6 orientiert haben dürfte
Die Vorschrift des Art. 7 VO 15/61/EWG enthält bezüglich der Folgen unfreiwilliger Arbeitslosigkeit folgende Regelung:
(1) Bei Anwendung des Art. 6 gelten Unterbrechungen von bis zu insgesamt 40 Tagen im Jahr sowie der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfall oder Berufskrankheit als Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung
(2) Die Zeiten einer vom zuständigen Arbeitsamt festgestellten unfreiwilligen Arbeitslosigkeit sowie einer Unterbrechung wegen längerer Krankheit oder Ableistung eines Wehrdienstes gelten nicht als Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung; sie beeinträchtigen jedoch nicht die Anrechnung der zuvor abgeleisteten oder nach Abs. (1) anerkannten Beschäftigungszeit, wenn der Arbeitnehmer seine Tätigkeit wieder aufnimmt
a) bei Arbeitslosigkeit, sobald ihm im Einklang mit den innerstaatlicher Rechtsvorschriften eine Beschäftigung angeboten worden ist;
b) innerhalb eines Zeitraumes von höchstens 30 Tagen nach Beendigung der Krankheit oder des Wehrdienstes.
Diese Zeiten gelten jedoch bis zu 40 Tagen als Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung soweit diese 40 Tage nicht bereits durch Unterbrechungen nach Abs. (1) in Anspruch genommen worden sind.
Dieser Vorgängerregelung lässt sich entnehmen, dass Zeiten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit jedenfalls so lange unschädlich sind, bis dem EU-Bürger von der Arbeitsagentur eine zumutbare Beschäftigung angeboten wurde, die seine Arbeitslosigkeit beendet hätte. Weigert sich daher ein türkischer Arbeitnehmer, eine ihm angebotene und zumutbare Beschäftigung aufzunehmen, so führt dies zum Verlust der erworbenen Anwartschaften nach Art. 6 Abs. 1.
Die Notwendigkeit, den Obliegenheiten, die mit der Meldung als arbeitslos verbunden sind, nachzukommen, bedeutet auch, dass entgegen der sonstigen Systematik des Art. 6 Abs. 1 ein Arbeitgeber- oder Berufswechsel unschädlich ist. Wenn dem türkischen Staatsangehörigen die Anwartschaften, die er im Rahmen der Art. 6 Abs. 1 erworben hat, erhalten bleiben sollen, dann kann dies nicht dazu führen, dass er einen Arbeitsplatz, der ihm von der Arbeitsverwaltung angeboten wird, oder den er selbst durch Eigenbemühungen gefunden hat, ablehnen muss, um seine Rechtsstellung nicht zu gefährden. Zumal die Ablehnung zu einer Sperrzeit führen würde, mit der Folge, dass der türkische Staatsangehörige nicht mehr unfreiwillig arbeitslos wäre.
Zur Notwendigkeit, sich arbeitslos zu melden, hat der EuGH festgestellt:
„Hingegen steht unter Berücksichtigung der besonderen tatsächlichen Umstände des Ausgangsverfahrens, wie sie im Vorlagebeschluss dargelegt sind, nichts dem entgegen, dass das vorlegende Gericht diese Unterbrechungen als Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit im Sinne von Art 6 II 2 des Beschlusses ansieht, selbst wenn der Kläger sich nicht als Arbeitsuchender hat registrieren lassen, wie es diese Bestimmung grundsätzlich verlangt.“
EuGH, U. v. 10.01.2006, Sedef, C-230/03
Als Maßstab für Art. 6 Abs. 2 S. 2 kann nur mit Einschränkung auf die Regelung für kurzeitig beschäftigte Unionsbürger zurückgegriffen werden, da die türkischen Arbeitskräfte noch keinen freien Zugang zu jeder Beschäftigung haben. Es spricht jedoch einiges dafür, dass auch die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger den Vorgaben des Art. 7 Abs. 3c Freizügigkeits-RL insoweit angenähert werden kann, als die Frist von sechs Monaten auch hier die Untergrenze bildet, während der die Arbeitnehmereigenschaft erhalten bleibt (zum Inhalt der Vorschrift siehe oben).
Aber auch bezüglich der 1. und 2. Stufe sollte über die Frist von sechs Monaten hinaus auch der Zeitraum unfreiwilliger Arbeitslosigkeit als unschädlich angesehen werden, für den der Arbeitslose von der BA Leistungen in Gestalt von Arbeitslosengeld II erhält. Dies bedeutet indes nicht, dass der Verlust der Leistungen etwa wegen Ablaufs der Bewilligungsdauer dazu führt, dass die Anwartschaften nach dem ARB 1/80 verloren gehen. Ob die Frist – wie bei türkischen Staatsangehörigen, die die 3. Stufe erreicht haben – verlängert werden kann, wenn die türkischen Staatsangehörigen, die nur die 1. Und 2. Verfestigungsstufe erreicht haben, weiterhin als arbeitslos und -suchend gemeldet sind und ernsthaft den Wiedereintritt in das Arbeitsleben anstreben, erscheint zweifelhaft. Unterbrechungen von einigen Wochen, bei denen sich der türkische Staatsangehörige nicht arbeitslos gemeldet hat, können gleichfalls unschädlich sein, wenn der Betroffene anschließend ohne Weiteres einen Arbeitsplatz findet
EuGH, U. v. 10.01.2006, Sedef, C-230/03, Rn 58 ff.
Ein türkischer Arbeitnehmer, der die 3. Stufe des Art. 6 Abs. 1 erreicht hat, unterliegt nicht mehr den Vorgaben des Art. 6 Abs. 2, wie der EuGH in der Rechtssache Sedef festgestellt hat:
„Erfüllt der türkische Arbeitnehmer dagegen den Tatbestand des Art 6 I 3. Gedankenstrich, so setzt die praktische Wirksamkeit des ihm in dieser Bestimmung zuerkannten uneingeschränkten Rechts auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis sein Recht voraus, die Ausübung einer Berufstätigkeit vorübergehend aufzugeben und binnen angemessener Frist eine andere zu suchen; Art 6 II findet in diesem Fall keine Anwendung (vgl U. Dogan, Rn 16, 18 u. 19).“
EuGH, U. v. 10.01.2006, Sedef, C-230/03, Rn. 54.
Der EuGH hat daraus geschlossen, dass ein solcher türkischer Arbeitnehmer das Recht hat, sein Arbeitsverhältnis vorübergehend zu unterbrechen. Trotz einer derartigen Unterbrechung gehört er für den Zeitraum, der angemessen ist, um eine andere Beschäftigung zu finden, weiterhin im Sinne von Art. 6 Abs. 1 dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats an. Er hat daher in diesem Staat Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis, um weiter sein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben, sofern er tatsächlich eine neue Arbeit sucht und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung steht, um innerhalb eines angemessenen Zeitraums eine andere Beschäftigung zu finden
EuGH, U. v. 10.01.2006, Sedef, C-230/03
unter Hinweis auf Urt. Tetik, Rn. 30, 31, 41, 46 und 48, sowie Nazli, Rn. 38 und 40.
Die vorstehende Auslegung, die auf das durch Art. 6 Abs. 1 eingeführte System und die praktische Wirksamkeit der dem türkischen Arbeitnehmer durch den dritten Spiegelstrich dieser Bestimmung eingeräumten Rechte auf Beschäftigung und Aufenthalt gestützt ist, hat unabhängig davon zu gelten, welchen Grund die Abwesenheit des Betroffenen vom Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats hat, sofern diese Abwesenheit vorübergehender Natur ist. Nach diesen Grundsätzen setzt die Beibehaltung der Arbeitnehmereigenschaft für türkische Arbeitnehmer, die die Rechtsposition des 3. Spiegelstrichs erreicht haben und arbeitslos geworden sind, drei Kriterien voraus:
Langfristige Arbeitslosigkeit stellt sich nach Ablauf eines angemessenen Zeitraums daher nicht als unschädliche Unterbrechung der Beschäftigung dar. Ein türkischer Arbeitnehmer hat kein Recht auf Verbleib im Aufnahmestaat, wenn er wegen dauerhafter Arbeitslosigkeit oder auch Arbeitsunfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar ist. In diesem Fall ist davon auszugehen, dass der Betroffene den Arbeitsmarkt des Aufnahmestaates endgültig verlassen hat, sodass das von ihm begehrte Aufenthaltsrecht keinerlei Bezug zu einer – sei es auch künftigen – Beschäftigung aufweist;
EuGH, U. v. 06.06.1995, Bozkurt, C-434/93,
ein vom Arbeitsmarktzugang losgelöstes Aufenthaltsrecht besteht – anders als bei Art. 7 – nicht.
Bei der Beurteilung, welcher Zeitraum angemessen ist, der einem als arbeitslos gemeldeten türkischen Staatsangehörigen eingeräumt werden muss, um sich eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu suchen, könnte der erworbene Rechtsstatus nach dem ARB 1/80 von Bedeutung sein. Sofern der türkische Staatsangehörige bereits einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt erlangt hat (Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich, Art. 7 S. 1, 2. Spiegelstrich oder S. 2), wäre zu überlegen, ob er einem EU-Arbeitnehmer gleichgestellt werden kann. Dieser kann sich auf Art. 7 Abs. 3b und 3c Freizügigkeits-RL berufen, wonach die Arbeitnehmereigenschaft trotz Arbeitslosigkeit in folgenden Fällen erhalten bleibt:
Für eine Übertragung der Bestimmung würde zunächst die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Bozkurt sprechen. Denn dort hebt der EuGH das Ziel des ARB 1/80, geleitet durch die Art. 48, 49 und 50 des Vertrags zu einer weiteren Stufe bei der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer überzugehen, hervor und führt aus:
„Um die Beachtung dieses Ziels sicherzustellen, scheint es unabdingbar, dass auf die türkischen Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechts besitzen, soweit wie möglich die im Rahmen dieser Artikel geltenden Grundsätze übertragen werden.“
EuGH, U. v. 06.06.1995, Bozkurt, C-434/93.
Sind aber türkische Staatsangehörige der 3. Stufe Unionsbürgern nach Art. 7 Abs. 3b Freizügigkeits-RL gleichzustellen, so hat dies zur Folge, dass eine klare Begrenzung des Aufenthaltsrechts bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nicht vorhanden ist. Als Grenze gilt nur die Notwendigkeit, „innerhalb eines angemessenen Zeitraums“ eine Beschäftigung zu finden. Außerdem lässt die Systematik des Art. 7 Abs. 3b und 3c Freizügigkeits-RL darauf schließen, dass eine Frist von sechs Monaten zur Arbeitssuche auf jeden Fall zu gewähren ist; diese Frist bildet die Untergrenze in Bezug auf die Beibehaltung der Arbeitnehmereigenschaft.
Solange ein türkischer Staatsangehöriger Arbeitslosengeld bezieht, dürfte von einem angemessenen Zeitraum der Arbeitsplatzsuche und damit von einem Fortbestehen der Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich auszugehen sein. Eine Grenze, ab der die Angemessenheit nicht mehr gewahrt wäre, wird damit aber nicht markiert. Die Angemessenheit wird vielmehr in einer Abwägung zwischen der Dauer der tatsächlichen Beschäftigungszeit und des Zeitraums der Arbeitslosigkeit zu bestimmen sein. Weitere Einzelheiten unter der Kommentierung zu § 2 III FreizügG/EU.
EuGH, U. v. 23.01.1997, Tetik, C-171/95.
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Anders als die unfreiwillige Arbeitslosigkeit vermag eine Eigenkündigung des Arbeitnehmers zum Verlust der erworbenen Rechtsansprüche nach dem ARB 1/80 zu führen. Dies gilt selbst dann, wenn der türkische Arbeitnehmer die höchste Verfestigungsstufe des Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich erreicht hat. Eine andere Ansicht würde gegen Art. 59 des ZP verstoßen, weil selbst EG-Arbeitnehmern, die Freizügigkeit nach Art. 45 AEUV genießen, das Recht zum Aufenthalt im Mitgliedstaat im Falle freiwilliger Arbeitslosigkeit entzogen werden kann. Wenn ein türkischer Arbeitnehmer, der eine Rechtsposition nach dem 2. oder 3. Spiegelstrich erworben hat, die es ihm gestattet, seinen Arbeitgeber zu wechseln, seine Arbeitsstelle kündigt, um eine andere Beschäftigung zu suchen, so folgt daraus nicht ohne Weiteres, dass er den Arbeitsmarkt dieses Staates endgültig verlassen hat, sofern er dort weiterhin dem regulären Arbeitsmarkt angehört.
In einer Situation, in der es dem Arbeitnehmer nicht gelingt, unmittelbar nach Aufgabe seiner vorherigen Beschäftigung ein neues Arbeitsverhältnis einzugehen, gehört der Arbeitnehmer nach Ansicht des EuGH in der Rechtssache Tetik dem regulären Arbeitsmarkt aber nur dann weiterhin an,
„wenn der Betroffene alle Formalitäten erfüllt, die im betreffenden Mitgliedstaat gegebenenfalls vorgeschrieben sind, zum Beispiel indem er sich als Arbeitsuchender meldet und der Arbeitsverwaltung dieses Mitgliedstaats während des dort vorgeschriebenen Zeitraums zur Verfügung steht“.
EuGH, U. v. 23.01.1997, Tetik, C-171/95
Hierdurch sieht der EuGH zugleich gewährleistet, dass der türkische Staatsangehörige innerhalb des angemessenen Zeitraums, der ihm zur Begründung eines neuen Arbeitsverhältnisses einzuräumen ist, sein Aufenthaltsrecht nicht missbraucht, sondern tatsächlich eine neue Beschäftigung sucht.
Grundsätzlich geklärt ist auch die Frage, wie lange ein türkischer Arbeitnehmer, der seinen Arbeitsplatz durch Eigenkündigung verloren hat, sich im Bundesgebiet aufhalten darf, um einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Denn der EuGH verweist in der Rechtssache Tetik (siehe oben) insoweit auf die Ausführungen in dem Verfahren Antonissen.
EuGH, U. v. 26.02.1991, Antonissen, C-292/89.
In Anlehnung an diese Rechtsprechung des EuGH zur Dauer des den EU-Angehörigen für eine Arbeitssuche einzuräumenden Aufenthaltsrecht ist in Fällen, in denen das Arbeitsverhältnis durch Kündigung des Arbeitnehmers aufgelöst wurde, von einer Zeitdauer von mindestens drei Monaten auszugehen.
Diese Drei-Monats-Frist ist keine starre Frist, sondern – wie auch § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU zeigt – im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH dahin gehend unionsrechtlich auszulegen, dass sie nur dann einem weiteren Aufenthalt entgegensteht, wenn der Betroffene nicht nachweist, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht (s. Art. 14 Abs. 2b Freizügigkeits-RL). Denn der EuGH hat in der Entscheidung Antonissen zur Freizügigkeit von Stellungssuchenden ausgeführt (1. Ls.)
„Zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach Art 48 EG-Vertrag (jetzt Art 45 AEUV) gehört auch das Recht der Angehörigen der Mitgliedstaaten, sich in den anderen Mitgliedstaaten frei bewegen zu können und sich dort aufzuhalten, um eine Stelle zu suchen. Der Aufenthalt des Stellensuchenden kann zeitlich begrenzt werden; die praktische Wirksamkeit des Art 48 ist jedoch nur gewahrt, wenn dem Betroffenen ein angemessener Zeitraum eingeräumt wird, um im Aufnahmemitgliedstaat von Stellenangeboten, die seinen beruflichen Qualifikationen entsprechen, Kenntnis zu nehmen und sich gegebenenfalls bewerben zu können. Das Unionsrecht regelt die Länge dieses Zeitraums nicht. Es verwehrt es daher dem Recht eines Mitgliedstaats nicht, einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der zum Zwecke der Stellensuche in sein Gebiet eingereist ist, unbeschadet einer Klagemöglichkeit auszuweisen, wenn er nach sechs Monaten keine Stelle gefunden hat, sofern der Betroffene nicht nachweist, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht.“
EuGH, U. v. 26.02.1991, Antonissen, C-292/89
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In der Praxis war lange Zeit umstritten, ob die Verbüßung einer Freiheitsstrafe zum Erlöschen der assoziationsrechtlichen Rechtsposition führt. Diese Frage ist für türkische Staatsangehörige, die die 3. Verfestigungsstufe des Art. 6 Abs. 1 erreicht haben, durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Dogan geklärt worden. Hier wurde Folgendes zur Auswirkung von Strafhaft ausgeführt:
„Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der nach Art 6 Abs. 1 3. Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 ein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis hat, dieses Recht nicht deswegen verliert, weil er während seiner – auch mehrjährigen – Inhaftierung keine Beschäftigung ausübt, wenn seine Abwesenheit vom regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats nur vorübergehend ist. Die Rechte, die dem Betroffenen durch diese Bestimmung im Bereich der Beschäftigung und entsprechend im Bereich des Aufenthalts eingeräumt werden, können nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gemäß Art 14 I dieses Beschlusses oder aufgrund des Umstands beschränkt werden, dass der betreffende türkische Staatsangehörige den Zeitraum überschritten hat, der angemessen ist, um nach seiner Freilassung eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu finden.“
EuGH, U. v. 07.07.2005, Dogan, C-383/03 Rn. 29ff.
Sind die Auswirkungen von Strafhaft für die türkischen Arbeitnehmer, die die 3. Stufe des Art. 6 Abs. 1 erreicht haben, geklärt, so bleibt die Frage offen, welche Auswirkungen derartige Unterbrechungen auf die Rechtspositionen nach Art. 6 Abs. 1 1. u 2. Spiegelstrich haben. Hier ist grundsätzlich Art. 6 Abs. 2 S. 2 anwendbar mit der Folge, dass es maßgeblich darauf ankommt, wie lange die Haftzeit im geschlossenen Vollzug erfolgt ist. Solange ein Strafgefangener im offenen Vollzug einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann, hat er den regulären Arbeitsmarkt nicht verlassen.
Demgegenüber führt langjährige bzw. lebenslange Strafhaft zum Verlust der durch Art. 6 eingeräumten Rechte auf Zugang zu Beschäftigung und auf Gewährung des Aufenthaltsrechts. Dabei steht eine endgültige Klärung der Frage, ab welchem Zeitraum die Rechtsstellung verloren geht, noch aus. Zur Beurteilung der Frage, welche Dauer der Strafhaft zum Erlöschen der erworbenen Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 führt, könnte auf Regelungen des Unionsrechts zurückgegriffen werden, die sich mit den Auswirkungen von Unterbrechungen des Aufenthalts auf den Aufenthaltsstatus von EU-Bürgern befassen. So regelt Art. 16 Abs. 4 Freizügigkeits-RL, dass Aufenthaltsunterbrechungen, die zwei aufeinanderfolgende Jahre überschreiten, zum Verlust des Daueraufenthaltsrechts für Unionsbürger führen. Nach dieser Regelung kommt es nicht darauf an, warum ein EU-Bürger das Land verlassen hat. Allein die Unterbrechung des Aufenthalts von mehr als zwei Jahren führt zum Wegfall des Daueraufenthaltsrechts. Entfällt aber eine verfestigte Rechtsposition eines EU/Bürgers, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, so könnte dies einen Maßstab für das Erlöschen der Rechtsposition nach Art. 6 Abs. 1 1. u 2. Spiegelstrich bilden. Diese Frist könnte auf den geschlossenen Vollzug übertragen werden mit der Folge, dass die Rechtspositionen der 1. und 2. Stufe aus Art. 6 nach Ablauf von zwei Jahren entfallen würden.
Gegen eine Übertragbarkeit spricht aber, dass es sich bei der Strafhaft um einen Fall des unfreiwilligen Verlassens des Arbeitsmarkts handelt, während Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG die Rechtsfolge an ein freiwilliges Verlassen des EU-Staates, in dem die Beschäftigung ausgeübt worden war, knüpft. Außerdem sind die Rechtsfolgen bzgl. freizügigkeitsberechtigten EU-Bürgern und türkischen Staatsangehörigen nicht ohne Weiteres gleichzustellen. Denn der EU-Bürger kann jederzeit erneut in den bisherigen EU-Staat einreisen und seine Beschäftigung aufnehmen, während das Erlöschen der Rechtsstellung bei türkischen Arbeitnehmern – sofern das nationale Aufenthaltsrecht keine Ansprüche vermittelt – zum Verlust des Aufenthaltsrechts führt und auch bei einer erneuten Arbeitsaufnahme nicht wieder auflebt.
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Ebenso wie Art. 7 erlischt das Recht aus Art. 6 Abs. 1 unter zwei Voraussetzungen, nämlich nach Art. 14 I aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit oder weil der Betroffene den Arbeitsmarkt endgültig verlassen hat:
EuGH, U. v. 06.06.1995, Bozkurt, C-434/93, Rn. 39
EuGH, U. v. 10.02.2000, Nazli, C-340/97, Rn. 37
Art. 6 gilt somit für türkische Arbeitnehmer, die erwerbstätig oder vorübergehend arbeitsunfähig sind. Er bezieht sich dagegen nicht auf die Lage eines türkischen Staatsangehörigen, der den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats endgültig verlassen hat, weil er z.B. das Rentenalter erreicht hat oder weil er vollständig und dauernd arbeitsunfähig ist:
EuGH, U. v. 06.06.1995, Bozkurt, C-434/93, Rn. 39
EuGH, U. v. 10.02.2000, Nazli, C-340/97, Rn. 37
Dabei führt das Erreichen des Rentenalters nicht automatisch dazu, dass die Rechtsstellung entfällt. Soweit der EuGH in der Rechtssache Nazli davon ausgeht, dass im Falle des Erreichens des Rentenalters davon auszugehen sei, dass der Betroffene den Arbeitsmarkt des betreffenden Mitgliedstaates endgültig verlassen habe, wurde hiermit lediglich die (widerlegbare) Vermutung begründet, der Betreffende habe den Arbeitsmarkt endgültig verlassen.
EuGH, U. v. 10.02.2000, Nazli, C-340/97, Rn. 37
Arbeitet der türkische Staatsangehörige nach dem Erreichen der Altersgrenze weiter, ohne gegen gesetzliche Bestimmungen zu verstoßen, so bleibt die Arbeitnehmereigenschaft erhalten. Allein die Möglichkeit, weiterhin einer Beschäftigung nachzugehen, genügt hingegen nicht. Beendet der Arbeitnehmer seine Beschäftigung mit Erreichen des Rentenalters, so entfällt die Rechtsstellung. Die Aufnahme einer Beschäftigung zu einem späteren Zeitpunkt führt nicht zum Wiederaufleben der Rechtsstellung.
Auch bei nicht nur kurzzeitiger Strafhaft, insbesondere lebenslanger Strafhaft oder Sicherungsverwahrung, kann die Rechtsstellung erlöschen.
OVG Saarl, B. v. 04.08.2015 – 2 B 73/15, LS. 1.
Dabei ist zu beachten, dass ein türkischer Staatsangehöriger auch in der Haft als Strafgefangener die Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erwerben kann, wenn ihm auf der Grundlage eines freien Beschäftigungsverhältnisses gem. § 39 StVollzG gestattet wurde, einer Beschäftigung oder Berufsausbildung nachzugehen, und der Gefangene der Versicherungspflicht in der Sozialversicherung, der Beitragspflicht zur Bundesagentur und der Steuerpflicht wie ein freier Arbeitnehmer (Auszubildender) unterliegt. Daher gehört ein Freigänger, der außerhalb der Vollzugsanstalt in einem freien Beschäftigungsverhältnis steht, dem regulären Arbeitsmarkt an
EuGH, U. v. 10.02.2000, Nazli, C-340/97.
Etwas anderes gilt aber dann, wenn der türkische Staatsangehörige im Rahmen der Arbeitspflicht gem. § 41 StVollzG innerhalb oder außerhalb der Justizvollzugsanstalt – regelmäßig und unter Aufsicht – eine zugewiesene Arbeit, Berufsausbildung, sonstige Beschäftigung oder Hilfstätigkeit ausübt, unabhängig, ob hierfür Arbeitsentgelt (§ 43 StVollzG) gewährt wird.
BVerwG, B. v. 08.05.1996 – 1 B 136.95, InfAuslR 1996, 299.
Der Unterschied beider Fallgruppen wird auch dadurch erkennbar, dass nur im Rahmen der § 39 StVollzG eine Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit zur Ausübung der Beschäftigung erforderlich werden kann.
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