B.   Stillhalteklausel des Art. 13 ARB

       I.  Überblick
      II.  Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen
     III.  Beschränkung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses

 I.

Überblick

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Die Standstill-Problematik erfordert eine Differenzierung zwischen den begünstigten Personengruppen, da sich nicht alle türkische Staatsangehörigen auf Standstill-Klauseln berufen können u. die einschlägigen Bestimmungen zudem unterschiedliche Voraussetzungen aufweisen. Demgemäß muss genau geprüft werden, ob u. ggf. welcher der verschiedenen Standstill-Klauseln der jeweilige türkische Staatsangehörige unterfällt. Dabei macht es einen Unterschied, ob es sich um Arbeitnehmer, ihre Familienangehörigen, Selbstständige oder Dienstleistungserbringer bzw. -empfänger handelt. Insgesamt sind folgende Bestimmungen zu unterscheiden:

  • für Familienangehörige und Arbeitnehmer: Art. 7 ARB 2/76,
  • für Familienangehörige und Arbeitnehmer: Art. 13 ARB 1/80,
  • für Selbstständige: Art. 41 I Zusatzprotokoll (ZP),
  • für Dienstleistungserbringer und -empfänger: Art. 41 I ZP.

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Bei der Anwendung der einzelnen Standstill-Klauseln sind nicht nur die unterschiedlichen Tatbestandsvoraussetzungen zu beachten, sondern auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie zu unterschiedlichen Zeiten wirksam geworden sind. Dabei gilt für die Anwendbarkeit:

  • das ZP vom 23. 11. 1970 ist am 01.01.1973 in Kraft getreten;
  • der ARB 1/80 vom 19. 9. 1980 ist am 01.07.1980 in Kraft getreten;
    nach Art. 16 ARB 1/80 ist aber Art. 13 ARB 1/80 erst ab dem 01.12.1980 anwendbar;
  • der ARB 2/76 vom 20.12.1976 ist am 01.12.1976 in Kraft getreten.

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II.

Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen

1.   Wirkungsweise

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Der EuGH hatte bereits in der Rechtssache Servince

EuGH, U. v. 20.09.1990, Sevince, C-192/89,

klargestellt, dass sowohl Art. 7 ARB 2/76 als auch Art. 13 ARB 1/80 unmittelbare Wirkung haben:

„Ebenso enthalten Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 u. Art. 13 des Beschlusses 1/80 eine eindeutige Stillhalteklausel, die die Einführung neuer Beschränkungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt für Arbeitnehmer verbietet, deren Aufenthalt u. Beschäftigung im Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind." Diese Rechtsauffassung wurde in den Rechtssachen Savas und Sahin

EuGH, U. v. 11.05.2000, Savas, C-37/98,
EuGH, U. v. 17.09.2009, Sahin, C-242/06, Rn 62.

erneut bestätigt. Nach Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft u. die Türkei „für Arbeitnehmer u. ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt u. Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neue Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen."

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Die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 steht neben den unmittelbar anwendbaren Rechten der Art. 6 und 7 ARB 1/80, die türkischen Arbeitnehmern und deren Familienangehörigen im Unionsrecht wurzelnde Beschäftigungs- und Aufenthaltsrechte vermitteln, und erfasst demnach nicht lediglich denjenigen Personenkreis, der noch keine Rechte in Bezug auf Aufenthalt und Beschäftigung hat. Dies folgt aus der mit der Stillhalteklausel verfolgten Zielsetzung, günstige Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu schaffen, indem den innerstaatlichen Stellen verboten wird, neue Hindernisse für die Ausübung dieser Freiheit einzuführen,

BVerwG, U. v. 28.04.2015 – 1 C 21/14, Rn. 28;
EuGH, U. v. 09.12.2010, Toprak u. Oguz, C-300/09 und C-301/09, Rn. 53 f.

sowie ihrer Funktion, allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen zu verbieten, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ARB 1/80 galten.

BVerwG, U. v. 28.04.2015 – 1 C 21/14, Rn. 28;
EuGH, U. v. 17.09.2009, Sahin, C-242/06, Rn. 63

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Der EuGH interpretiert die Stillhalteklausel nicht dahingehend, dass nur arbeits- und gewerberechtliche Regelungen dem Verschlechterungsverbot unterfallen, sondern auch die aufenthaltsrechtlichen Rahmenbedingungen einschließlich der Regeln über die Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltstiteln, Erteilungsverfahren und Gebühren.

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Standstillklauseln wirken verfahrensrechtlich, indem sie in zeitlicher Hinsicht festlegen, nach welchen Bestimmungen eines Mitgliedstaates die Situation eines türkischen Staatsangehörigen zu beurteilen ist.

So auch Hailbronner, NVwZ 2009, 760 (761).

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Eine Stillhalteklausel schafft nicht aus sich heraus Rechte. Die mit ihr aufgestellte Verpflichtung läuft rechtlich auf eine Pflicht hinaus, untätig zu bleiben. Anders als eine materiell-rechtliche Vorschrift führt sie nicht zur Unanwendbarkeit des einschlägigen materiellen Rechts und tritt an dessen Stelle. Sie ist vielmehr eine quasi-verfahrensrechtliche Vorschrift, die in zeitlicher Hinsicht festlegt, nach welchen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Stellung eines türkischen Staatsangehörigen zu beurteilen ist, der in einem Mitgliedstaat von seinen wirtschaftlichen Freiheiten Gebrauch machen will.

EuGH, U. v. 15.11.2011, Dereci u.a., C-256/11, Rn. 89

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Um es bildlich auszudrücken: Mit ihnen wird das geltende Recht in jedem Mitgliedstaat, soweit es Beschränkungen der für türkische Staatsangehörige geltenden Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt betrifft, zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Stillhalteklausel eingefroren. Stillhalteklauseln verbieten allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit oder der Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Standstillklausel in dem betreffenden Mitgliedstaat galten. Damit ist die Wirkung der Standstillklausel in dem Mitgliedstaaten Europas von dem jeweiligen Zeitpunkt ihres Inkrafttretens abhängig

Zu Art. 13 vgl. EuGH, U. v. 17.09.2009, Sahin, C-242/06, Rn. 63;
zu Art. 41 ZP vgl. EuGH, U. v. 29. 9. 2007, Turn und Dari, C-16/05, Rn 49

mit der Folge, dass die Wirkung innerhalb der Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich sein kann.

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Die Vorschrift, die rechtlich eine reine Unterlassungspflicht beinhaltet, verleiht nicht unmittelbar ein Aufenthaltsrecht, sondern verwehrt den Vertragsparteien, die innerstaatlichen Regelungen für die Begünstigten gegenüber dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Klausel zu erschweren.

EuGH, U. v. 11.05.2000, Savas, C-37/98.

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Nicht erfasst werden daher Beschränkungen, die eine Vertragspartei bereits im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Standstill-Klausel erlassen hatte; deren Beibehaltung, auch in veränderter Form, ist daher grundsätzlich unschädlich.

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Der EuGH hat in der Rechtssache Sahin

EuGH, U. v. 17.09.2009, Sahin, C-242/06

auch eine belastende Veränderung der Rechtslage für zulässig erachtet, wenn die Belastung auch für Unionsbürger Geltung beanspruchte. Folglich können sich die türkischen Arbeitnehmer u. ihre Familienangehörigen nicht erfolgreich auf Art. 13 ARB 1/80 berufen, um zu verlangen, dass der Aufnahmemitgliedstaat sie aufgrund der Stillhalteklausel nach einer günstigeren nationalen Regelung behandelt, sofern Unionsbürger schlechter behandelt werden.

EuGH, U. v. 17.09.2009, Sahin, C-242/06, Rn 69 ff.

Denn eine andere Auslegung wäre mit Art. 59 ZP nicht vereinbar, der den Mitgliedstaaten untersagt, türkischen Staatsangehörige eine günstigere Behandlung zukommen zu lassen als EU-Angeh, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden.

EuGH, U. v. 17.09.2009, Sahin, C-242/06, Rn 71;
EuGH, U. v. 29.04.2010, Kommission ./. Niederlande, Rs C-92/07, Rn 62.

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Dabei richtet sich die Standstill-Klausel nicht nur gegen Beschränkungen durch Gesetz oder Verordnung, sondern erfasst auch nachteilige Veränderungen durch Verwaltungsvorschriften. Hierzu hat der EuGH in der Rechtssache Toprak und Oguz ausgeführt:

EuGH, U. v. 09.12.2010, Toprak u. Oguz, C-300/09 und C-301/09, Rn 30 f.;
ebenso BVerwG, U. v. 30.04.2009 – 1 C 6.08 –, juris.

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2.   Anwendbarkeit

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Für Arbeitnehmer und Familienangehörige ist unmittelbar Art. 7 ARB 2/76 u. nicht erst Art. 13 ARB 1/80 anwendbar. Der EuGH hat in der Rechtssache Yön klargestellt, dass Art. 7 ARB 2/76 nicht rückwirkend durch das Inkrafttreten des Art. 13 ARB 1/80 aufgehoben wurde.

"Zwar trat der Beschluss Nr. 2/76 zum Zeitpunkt des Ablaufs der ersten zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen der Gemeinschaft und der Türkei vorgesehenen Stufe, dem 30. November 1980, außer Kraft und wurde ab 1. Dezember 1980 durch den Beschluss Nr. 1/80 ersetzt, doch kann dieser Vorgang nicht dahin ausgelegt werden, dass der Beschluss Nr. 2/76 rückwirkend durch den Beschluss Nr. 1/80 aufgehoben wurde und keine Anwendung mehr findet."

EuGH, U. v. 07.08.2018, Yön, C-123/17, Rn. 51

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Die rückwirkende Aufhebung des Beschlusses Nr. 2/76 würde zu einer Verschlechterung der Rechtsstellung türkischer Arbeitnehmer führen, da „neue Beschränkungen“ im Sinne von Art. 7 dieses Beschlusses, die von den Mitgliedstaaten nach dem Inkrafttreten dieser Bestimmung, aber vor dem Inkrafttreten von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 eingeführt wurden, von keiner Stillhalteklausel mehr erfasst würden, was weder damit im Einklang stünde, dass der Beschluss Nr. 1/80 zu einer besseren Regelung zugunsten der türkischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen führen soll, noch mit dem Grundkonzept einer schrittweisen Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen der Gemeinschaft und der Türkei, auf dem das Assoziierungsabkommen fußt.

EuGH, U. v. 07.08.2018, Yön, C-123/17, Rn. 53

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Der Wortlaut des Art. 7 ARB 2/76 unterscheidet sich im Wortlaut nur dadurch von Art. 13 ARB 1/80, dass er ausschließlich Arbeitnehmer u. nicht auch deren Familienangehörige begünstigt. Erst durch Art. 13 ARB 1/80 wurde nach „Arbeitnehmer" zusätzlich die Worte „und ihre Familienangehörigen" aufgenommen. Gleichwohl hat der EuGH in der Rechtssache Yön die Norm auch auf den Familiennachzug von Familienangehörigen zu Arbeitnehmern angewandt.

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Findet die Standstill-Klausel des Art. 7 ARB 2/76 findet neben Art. 13 ARB 1/80 Anwendung, so sind alle seither eingetretenen aufenthalts- u. arbeitsmarktrechtlichen Beschränkungen auf türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen nicht erst seit dem 01.12.1980, sondern bereits seit dem 01.12.1976, d.h. dem Inkrafttreten des ARB 2/76, unanwendbar.

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 3.   Ordnungsgemäßer Aufenthalt

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Begünstigt werden türkische Staatsangehörige, deren Aufenthalt und Beschäftigung ordnungsgemäß sein müssen. Das Tatbestandsmerkmal „ordnungsgemäß" bezieht sich ausdrücklich auch auf den Aufenthaltsstatus u. nicht nur – wie Art. 6 ARB 1/80 – auf die Ausübung einer Beschäftigung.

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Hinsichtlich der Ordnungsmäßigkeit des Aufenthalts i.S.v. Art. 13 ARB 1/80 hat der EuGH in der Vergangenheit die Auffassung vertreten, der türkische Arbeitnehmer oder sein Familienangehöriger müsse die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats auf dem Gebiet der Einreise, des Aufenthalts und gegebenenfalls der Beschäftigung beachtet haben, sodass er sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet dieses Staates befinde.

EuGH, U. v. 17.09.2009, Sahin, C-242/06, Rn 53;
EuGH, U. v. 21.10.2003, Abatay und Sahin, C-317/01 und C-369/01, InfAuslR 2004, 32, Rn 84.

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Ein ordnungsgemäßer Aufenthalt liegt daher nur dann vor, wenn der türkische Staatsangehörige die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über die Einreise, den Aufenthalt und gegebenenfalls die Beschäftigung beachtet hat, so dass seine Lage im Hoheitsgebiet dieses Staates rechtmäßig ist.

BVerwG, U. v. 10.12.2014 – 1 C 15.14, Rn. 14
EuGH, U. v. 07.11.2013, Demir, C-225/12, Rn. 35 m.w.N.

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Das Merkmal ordnungsgemäß stellte damals sicher, dass die türkischen Staatsangehörigen sich im Einklang mit den nationalen Bestimmungen im Bundesgebiet aufhalten müssen, so dass weder aus einem illegalen Aufenthalt noch einer unrechtmäßigen Beschäftigung rechtliche Vorteile abgeleitet werden können.

Ebenso VGH BW, B. v. 15. 2. 2001 – 13 S. 2500/00;
zur Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt s. VG Berlin, U. v. 3. 7. 2002 – VG 11 A 565.01 – InfAuslR 2002, 384 (390).

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In der Rechtssache Dereci hat der EuGH zu Art. 41 I ZP ausgeführt, dass eine illegale Einreise die Ordnungsgemäßheit der Situation nicht in Frage stelle, wenn dem türkischen Staatsangehörigen durch nationale Recht gestattet werde, einen Aufenthaltstitel im Inland zu beantragen.

EuGH, U. v. 15.11.2011, Dereci, C-256/11, Rn 99 f.

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Insoweit führt eine Erlaubnisfiktion nach § 81 III 1 AufenthG oder eine Titelfiktion nach § 81 IV AufenthG zur Anwendbarkeit der Stillhalteklausel, auch wenn der rechtmäßige Aufenthalt, der auf einer Fiktionswirkung beruht, nicht ausreicht, um die Rechtsstellung nach Art. 6 oder 7 ARB 1/80 zu erwerben.

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In der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs wird betont, dass die Verbürgungen des Art. 13 ARB 1/80 wegen der Gleichartigkeit und wegen derselben Zielsetzung im Lichte der Parallelvorschrift des Art. 41 I ZP auszulegen seien; diese Vorschrift verbiete bei selbstständig Tätigen neue Beschränkungen der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit und verlange insbesondere keinen ordnungsgemäßen Aufenthalt.

EuGH, U. v. 09.12.2010, Toprak u. Oguz, C-300/09 und C-301/09, Rn 54;
EuGH, U. v. 29.04.2010, Kommission ./. Niederlande, Rs C-92/07, Rn 48;
EuGH, U. v. 17.09.2009, Sahin, C-242/06, Rn 65.

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Für die Anwendung der Stillhalteklauseln komme es nicht darauf an, ob sich ein türkischer Staatsangehöriger zu dem Zeitpunkt, zu dem er einen Antrag auf Niederlassung im Gebiet eines Mitgliedstaats stellt, rechtmäßig in diesem Staat aufhält oder nicht.

EuGH, U. v. 20.09.2007, Tum und Dari, C-16/05, Rn 59.
So auch Kommission in der Stellungnahme zu Dereci.

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Unter Verkennung des unterschiedlichen Wortlauts von Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 ZP hat der EuGH den Anwendungsbereich des Art. 13 ARB 1/80 an den des Art. 41 ZP, der auch den Zuzug türkischer Staatsangehöriger erfasst, angeglichen.

EuGH, U. v. 17.09.2009, Sahin, C-242/06, Rn 63 ff.

Insoweit führte der EuGH in der Rechtssache Sahin aus:

„64 Der Gerichtshof hat demgemäß insbesondere festgestellt, dass Art. 41 I des ZP von dem Zeitpunkt an, zu dem der Rechtsakt, dessen Bestandteil diese Bestimmung ist, in dem Aufnahmemitgliedstaat in Kraft getreten ist, neuen Beschränkungen der Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit einschließlich solchen entgegensteht, die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats betreffen, die dort von diesen wirtschaftlichen Freiheiten Gebrauch machen wollen (...).

65 Da der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 und diejenige in Art. 41 I des ZP gleichartig sind und dass die beiden Klauseln dasselbe Ziel verfolgen (...), muss die in der vorstehenden Randnummer wiedergegebene Auslegung ebenso in Bezug auf die Stillhalteverpflichtung gelten, die die Grundlage von Art. 13 im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit bildet."

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Insofern wird von der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 auch der Zuzug türkischer Staatsangehöriger in die Mitgliedstaaten der EU erfasst und nicht nur eine Regelungen für türkische Staatsangehörige getroffen, denen aufgrund der nationalen Einreisebestimmungen die Einreise in das Bundesgebiet gestattet worden ist.

Dienelt in OK-MNet-ARB 1/80 unter II.

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Ob der EuGH mit seiner neuen Rechtsprechungslinie den Anwendungsbereich des Art. 13 ARB 1/80 über das Tatbestandsmerkmal „ordnungsgemäß" hinaus auf Fälle erweitert, in denen der türkische Staatsangehörige noch keinen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet begründet hat, bleibt abzuwarten. Die Ausführungen in den vorgenannten Entscheidungen, in denen die Angleichung des Art. 13 ARB 1/80 an Art. 41 ZP erfolgte, waren nicht entscheidungstragend. In der Rechtssache Dereci, in der ausdrücklich die Frage nach dem ordnungsgemäßen Aufenthalt aufgeworfen worden war, hat der EuGH den unterschiedlichen Anwendungsbereich beider Regelungen betont und ausdrücklich die Ordnungsgemäßheit des Aufenthalts geprüft. Eine Klärung wird daher erst mit der neuerlichen Vorlage aus den Niederlanden in der Rechtssache Demir (Vorlage C-225/12) zu erwarten sein.

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Für eine Erweiterung des Art. 13 ARB 1/80 auch auf die Einreise von Familienangehörigen spricht der Schutzzweck des Art. 7 ARB 1/80. Wie der EuGH in der Rechtssache Dülger

EuGH, U. v. 19.07.2012, Dülger, C-451/11.

betont hat, dient Art. 7 I ARB 1/80 einem doppelten Zweck:

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Erstens sollen bis zum Ablauf des Zeitraums von drei Jahren Familienangehörige die Möglichkeit erhalten, bei dem Arbeitnehmer zu leben, um so durch Familienzusammenführung die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, zu begünstigen

EuGH, U. v. 19.07.2012, Dülger, C-451/11, Rn 39;
EuGH, U. v. 29.03.2012, Kahveci und Inan, C-7/10 und C 9/10, Rn. 32.

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Zweitens soll diese Vorschrift eine dauerhafte Eingliederung der Familie des türkischen Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat fördern, indem dem betroffenen Familienangehörigen nach drei Jahren ordnungsgemäßen Wohnsitzes selbst der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird..

EuGH, U. v. 19.07.2012, Dülger, C-451/11, Rn 39;
EuGH, U. v. 29.03.2012, Kahveci und Inan, C-7/10 und C 9/10, Rn. 33.

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Dient die Vorschrift aber auch dem Schutz des Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß im Bundesgebiet aufhält, so spricht einiges dafür, dass es ausreicht, dass sich dieser rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Für diese Auslegung spricht auch, dass von Familienangehörigen nicht verlangt werden kann, dass ihre Beschäftigung ordnungsgemäß ist. Denn der Anwendungsbereich der Stillhalteklausel ist nicht davon abhängig, dass die Familienangehörigen selbst einer Beschäftigung nachgehen.

BVerwG, U. v. 10.12.2014 – 1 C 15.14, Rn. 14

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 4.   Familienangehörige

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Soweit von Art. 13 ARB 1/80 Familienangehörige erfasst werden, kann indes nicht davon ausgegangen werden, dass die Standstill-Klausel nur zur Anwendung gelangt, wenn der Familienangehörige selbst auch ordnungsgemäß beschäftigt ist. Eine derartige Einschränkung würde dem Zweck des ARB 1/80 zuwiderlaufen, der gerade auch die Familienzusammenführung fördern wollte, ohne die Rechte aus Art. 7 S. 1 ARB 1/80 an die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu knüpfen. Vielmehr hat der EuGH in der Rechtssache Eyüp

EuGH, U. v. 22.06.2000, Eyüp, C-65/98

die eigenständige Bedeutung der in Art. 7 S. 1 ARB 1/80 geregelten Familienzusammenführung hervorgehoben, wonach diese Bestimmung bezweckt,

„die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu fördern, um die Beschäftigung u. den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt des betreffenden Mitgliedstaats angehört, dadurch zu erleichtern, dass die Familienangehörigen, die zu dem Wanderarbeiter ziehen durften, zunächst bei diesem leben dürfen und später zudem das Recht erhalten, in diesem Staat eine Beschäftigung aufzunehmen".

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Demgemäß unterfallen der Standstill-Klausel auch Familienangehörige, die lediglich mit dem Arbeitnehmer in häuslicher Gemeinschaft leben, ohne selbst einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, sofern ihr Aufenthalt ordnungsgemäß ist.

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Wegen der Einzelheiten zu dem Begriff Familienangehörige wird auf die Kommentierung zu Art. 7 ARB 1/80 verwiesen.

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 5.   Beschränkung des Zugangs zum Arbeitsmarkt

35

Die Formulierung „keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt" weist nicht auf eine aufenthaltsrechtliche, sondern allein auf eine Begünstigung der Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt hin. Insoweit haben die Standstill-Klauseln der Art. 7 ARB 2/76 u. 13 ARB 1/80 zunächst einmal Auswirkungen für alle erfolgten nachteiligen Änderungen des Arbeitsgenehmigungsrechts. Auf Arbeitnehmer sind alle Änderungen, die seit dem 01.12.1976 vorgenommen wurden, nicht anwendbar; für Familienangehörige gilt dies für alle zum 01.12.1980 erfolgen Verschärfungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt. War zu dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt eine Tätigkeit arbeitserlaubnisfrei und wird für ihre Ausübung heute eine Zustimmung benötigt, so ist eine derartige Verschärfung des Zugangs zum Arbeitsmarkt auf türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen nicht anzuwenden

Gutmann, InfAuslR 2000, 318 (321).

36

Dass auch Familienangehörige erfasst werden, ist insoweit kein Wertungswiderspruch, da Art. 7 ARB 1/80 gerade auch dieser Personengruppe Zugangsrechte zum Arbeitsmarkt vermittelt. Schützt das Unterlassungsgebot aber seinem Wortlaut nach ausschließlich den unveränderten Zugang zum Arbeitsmarkt, so entfaltet es gleichwohl mittelbar aufenthaltsrechtliche Wirkungen, soweit ausländerrechtliche Maßnahmen zur Beeinträchtigung des Arbeitsmarktzuganges führen oder der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet beendet werden soll.

37

Den Standstill-Klauseln des Art. 7 ARB 2/76 u. des Art. 13 ARB 1/80 kommt aufenthaltsrechtliche Bedeutung zu, soweit

38

Da die Standstill-Klausel nach ihrem Sinn u. Zweck nicht dem Erhalt erlangter Rechtspositionen dient, sondern als Ordnungsvorschrift einer weiteren Beschränkung der Zugangsvoraussetzungen zum Arbeitsmarkt vorbeugen will, ist sie dahingehend auszulegen, dass einem türkischen Arbeitnehmer bzw. seinem Familienangehörigen – unabhängig davon, wann ihnen die Einreise in das Bundesgebiet gestattet wurde – der Aufenthalt zum Zwecke der Ausübung einer Beschäftigung nach den Vorschriften zu eröffnen ist, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Standstill-Klausel galten, d.h. für Arbeitnehmer ist der 01.12.1976 und für Familienangehörige der 01.12.1980 maßgeblich. Gleiches gilt für die Möglichkeit der Beendigung des Aufenthalts.

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 III.

Beschränkung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses

40

Der EuGH hat eine immanente Schranke des Anwendungsbereichs der Stillhalteklauseln geschaffen. Danach stellt die Einführung einer neuen Beschränkung keinen Verstoß gegen die Stillhalteklausel dar, sofern sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist u. geeignet ist, die Erreichung des angestrebten legitimen Zieles zu erreichen, u. nicht über das zu dessen Erreichung erforderliche hinausgeht.

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Eine Rechtfertigung erfordert, daher

  • einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses und
  • die Vehältnismäßigkeit der Maßnahme

Im Anwendungsbereich von Art 13 prüft der Gerichtshof neben dem Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (Art. 14 ARB 1/80) auch ungeschriebene Gemeinwohlgründe. 

42

Bislang hat der EuGH drei zwingende Gründe des Allgemeininteresses ausdrücklich anerkannt:

  • Verhinderung der rechtswidrigen Einreise und des rechtswidrigen Aufenthalts,
  • Bekämpfung von Zwangsheiraten,
  • Gewährleistung der erfolgreichen Integration von Drittstaatsangehörigen,
  • wirksame Steuerung der Migrationströme und
  • Gewährleistung einer erfolgreichen Integration der Drittstaatsangehörigen im betreffenden Mitgliedstaat.

EuGH, U. v. 10.07.2014, Dogan, C-138/13, zu Art 41 ZP
EuGH, U. v. 12.04.2016, Genc, C-561/14, zu Art. 13 ARB 1/80
EuGH, U. v. 07.11.2013, Demir, C-225/12, zu Art 13 ARB 1/80
EuGH, U. v. 29.03.2017, Tekdemir, C-625/15, zu Art. 13 ARB 1/80

Der EuGH legt bei der Anerkennung zwingender Gründe des Allgemeininteresses keine sonderlich strengen Maßstäbe an und belässt den Mitgliedstaaten so einen gewissen Handlungsspielraum.

43

Der Gerichthof legt in der Rechtssache Tekdemir dar, dass die Einführung eines Visumverfahrens für im Bundesgebiet geborene Kinder unter 16 Jahren für eine wirksame Migrationssteuerung notwendig sein ist. Wenn das Visumverfahren dazu führt, dass der Arbeitnehmer vor die Wahl gestellt wird, entweder die Trennung von seinem Kind hinzunehmen oder den Verlust seines Arbeitsplatzes in Kauf zu nehmen, dann kann ein Visumverfahren nur dann verhältnismäßig sein, wenn die Prüfung eines Aufenthaltsrechts nur im Rahmen eines Visumverfahrens möglich ist.

44

Der EuGH führt in der Rechtssache Tekdemir hierzu aus:

„Insoweit wird nicht vorgetragen und erst recht nicht bewiesen, dass die zuständige Behörde n u r dadurch in die Lage versetzt würde, die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Klägers des Ausgangsverfahrens im Rahmen der Familienzusammenführung zu beurteilen, dass er das deutsche Hoheitsgebiet verlässt und nachträglich ein Visumverfahren einleitet.“

EuGH, U. v. 29.03.2017, Tekdemir, C-625/15, Rn. 49

45

Im Kern bedeutet dies, dass ein Visumverfahren immer dann unverhältnismäßig ist, wenn die Ausländerbehörde die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Inland prüfen kann. Damit ist ein Verweis auf das Visumverfahren allein aus ordnungsrechtlichen Gründen nicht zulässig!

46

Für das Visumerfordernis beim Ehegattennachzug wird von von einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses auzugehen sein. Ein Visumverfahren ist auch geeignet und erforderlich, um Migrationsströme zu überwachen. 

47

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt jedoch auch, dass die Modalitäten der Umsetzung einer solchen Verpflichtung nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist. Insoweit verlangen die einschlägigen deutschen Rechtsvorschriften, dass ein Drittstaatsangehöriger, der einen Aufenthaltstitel erhalten möchte, mit dem erforderlichen Visum nach Deutschland eingereist ist und die für den Aufenthaltstitel wesentlichen Angaben bereits in seinem Visumantrag gemacht hat. Von dem Visumerfordernis kann jedoch abgesehen werden, wenn es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar wäre, einen nachträglichen Visumantrag zu verlangen.

48

Da § 5 Abs. 5 Satz 2 AufenthG eine Bewertung des Einzelfalls zulässt, steht das in den deutschen Rechtsvorschriften vorgesehene Verfahren zur Umsetzung des Visumerfordernisses mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang.

 

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