Inhaltsverzeichnis

I. Abgrenzung zum subsidiären Schutz

II. Abgrenzung zum internen Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG

III. Voraussetzungen einer Verletzung von Art. 3 EMRK

 

I. Abgrenzung zum subsidiären Schutz

Die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung sind weitgehend identisch mit dem sachlichen Regelungsbereich des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Für die Anwendung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, der die Regelung des Art. 15 lit. b Richtlinie 2011/95/EU in nationales Recht umsetzt, genügt allein eine drohende Verletzung des Art. 3 EMRK nicht. Vielmehr muss eine den subsidiären Schutz begründende Gefahr eines ernsthaften Schadens in Form von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Abs. 3 AsylG stets von einem Akteur i.S.d. § 3c AsylG ausgehen

BVerwG, U. v. 20.05.2020 - 1 C 11.19 - Rn. 11
BVerwG, U. v. 31.01.2013 - 10 C 15.12 - Rn. 29

In der Rechtsprechung des Gerichtshof der Europäischen Union ist geklärt, dass der mit § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wortgleiche Art. 15 lit. b RL 2011/95/EU dahingehend auszulegen ist, dass es einer direkten oder indirekten Aktion eines Akteurs bedarf, die die unmenschliche Lebenssituation im Sinne einer Zurechenbarkeit, die jenseits nicht intendierter Nebenfolgen ein auf die bewirkten Effekte gerichtetes Handeln oder gar Absicht erfordert, zu verantworten hat.

Im Fall einer unzureichenden medizinischen Versorgung hat der Gerichtshof in der Rechtssache M'Bodj entschieden, dass der in Art. 15 lit. b RL 2004/83/EG (inzwischen: RL 2011/95/EU) genannte ernsthafte Schaden nicht bloß die Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems des Herkunftslandes sein darf.

EuGH, U. v. 18.12.2014 - C-542/13 - M'Bodj, Rn. 35, 41

Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, stellen für sich genommen hingegen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre (Erwägungsgrund 26 der Richtlinie 2004/83/EG; inzwischen: Erwägungsgrund 35 der Richtlinie 2011/95/EU).

Der EuGH verneint infolgedessen das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 15 lit. b RL  2011/95/EU, solange einem erkrankten Antragsteller bei Rückkehr die medizinische Versorgung nicht „absichtlich“ verweigert wird.

EuGH, U. v. 18.12.2014 - C-542/13 - M'Bodj, Rn. 41

Die Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustandes eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen, die allein auf das Fehlen angemessener Behandlungsmöglichkeiten in seinem Herkunftsland zurückzuführen ist, ohne dass diesem Drittstaatsangehörigen die Versorgung „vorsätzlich“ verweigert würde, kann daher keine ausreichende Rechtfertigung dafür sein, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.

Der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zufolge muss die schadenszufügende Handlung oder Unterlassung des Akteurs bewusst und zielgerichtet („absichtlich“ bzw. „vorsätzlich“) ausgeführt werden.

BVerwG, U. v. 20.05.2020 - 1 C 11.19 - Rn. 12

Ein ernsthafter Schaden muss daher durch direktes oder indirektes Behördenhandeln verursacht werden. Die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung muss auf Faktoren beruhen, die den Behörden des Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind.

II. Abgrenzung zum internen Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG

An den Zumutbarkeitsmaßstab bzw. das Zumutbarkeitsniveau bei dem internen Schutz nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG sind im Vergleich zu den Abschiebungsverboten wegen schlechter, nicht durch einen verantwortlichen Akteur verursachter humanitärer Verhältnisse nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 7 AufenthG höhere Anforderungen zu stellen.

OVG Bremen, U. v. 26.05.2020 - 1 LB 56/20 - Rn. 66

Das Kriterium der Zumutbarkeit, nämlich die Frage, ob vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sich ein Ausländer am Ort des internen Schutzes niederlässt, ist nicht mit dem Fehlen einer Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK gleichzusetzen.

OVG Bremen, U. v. 26.05.2020 - 1 LB 56/20 - Rn. 66

Die Zielsetzung des internationalen Schutzes, einen wirksamen Schutz vor Verfolgung und ernsthaften Schäden zu bieten schließt es aus, eine von Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden bedrohte Person auf eine interne Schutzalternative zu verweisen, deren Lebensbedingungen derart schlecht sind, dass das Existenzminimum nicht gewährleistet ist und daher ein dauerhafter Verbleib an diesem Ort nicht erwartet werden kann.

OVG Bremen, U. v. 26.05.2020 - 1 LB 56/20 - Rn. 6

Die für einen internen Schutz erforderliche Sicherung des Existenzminimums muss zudem auf Dauer gewährleistet sein. Das folgt aus dem Begriff des „Niederlassens“ („settle“), der eine dauerhafte Wohnsitznahme an einem Ort bezeichnet.

OVG Bremen, U. v. 26.05.2020 - 1 LB 56/20 - Rn. 72

 

III. Voraussetzungen einer Verletzung von Art. 3 EMRK

Unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung

Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen. Dieser fordert in ständiger Rechtsprechung nur für die Tatbestandsalternativen der „Folter“ und der „unmenschlichen Behandlung“ ein vorsätzliches Handeln, nicht hingegen für die Tatbestandsalternative der „erniedrigenden Behandlung“.

BVerwG, U. v. 08.08.2018 - 1 B 25.18 - Rn. 8

Hierzu führt der EGMR in aus: Es sei zwar zu berücksichtigen, ob es der Zweck der Behandlung gewesen sei, das Opfer zu erniedrigen oder zu demütigen, aber auch wenn das nicht gewollt war, schließe dies die Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK nicht zwingend aus („the absence of any such purpose cannot conclusively rule out a finding of a violation of Article 3“).

EGMR, U. v. 21.01.2011 - Nr. 30696/09 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Rn. 220

Der EuGH und das Bundesverwaltungsgericht sind dieser Rechtsprechung gefolgt.

BVerwG, U. v. 08.08.2018 - 1 B 25.18 - Rn. 8

Der EuGH hat in der Rechtssache N.S. u.a.  entschieden, dass die Überstellung von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Systems unter bestimmten Umständen gegen das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC/Art. 3 EMRK verstoßen kann, wenn sie an einen Mitgliedstaat überstellt werden, bei dem ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller systemische Mängel aufweisen.

EuGH, U. v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - N.S. u.a., ECLI:EU:C:2011:865, Rn. 86 bis 94 und 106

In der Rechtsprechung des EGMR ist weiter geklärt, dass die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) erreichen müssen, um ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK/Art. 4 GRC zu begründen.

EGMR, U. v. 13.12.2016 - Nr. 41738/10 - Paposhvili/Belgien, Rn. 174;
EuGH, U. v. 16.02.2017 - C-578/16 - PPU, C.K. u.a., Rn. 68
so auch BVerwG, U. v. 08.08.2018 - 1 B 25.18 - Rn. 9

Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenen körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen.

EGMR , U. v. 21.01.2011 - Nr. 30696/09 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Rn. 219
EGMR, U. v. 13.12.2016 - Nr. 41738/10 - Paposhvili/Belgien, Rn. 174

Nach den Schlussanträgen des Generalanwalts beim EuGH Wathelet vom 25. Juli 2018 (C-163/17 - Rn. 143) muss sich der Betroffene in „einer besonders gravierenden Lage“ befinden.

Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts können schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen.

BVerwG, U. v. 31.01.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12, Rn. 23 und 25,
BVerwG, U. v. 08.08.2018 - 1 B 25.18 - Rn. 9

Allerdings enthält Art. 3 EMRK weder eine Verpflichtung der Vertragsstaaten, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen noch begründet Art. 3 EMRK eine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen

EGMR, U. v. 21.01.2011 - Nr. 30696/09 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Rn. 249
BVerwG, U. v. 08.08.2018 - 1 B 25.18 - Rn. 10

Der EGMR hat aber für die als besonders verletzlich gewertete Gruppe der Asylsuchenden eine gesteigerte Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten gesehen, weil sich diese durch die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31 S. 18) (heute: Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen ) zur Gewährleistung bestimmter Minimalstandards bei der Aufnahme von Asylsuchenden verpflichtet haben. Bei diesem besonders schutzbedürftigen Personenkreis können schlechte Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erfüllen, wenn die Betroffenen - in einem ihnen vollständig fremden Umfeld - vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und staatlicher Untätigkeit und Indifferenz gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden.

EGMR, U. v. 21.01.2011 - Nr. 30696/09 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Rn. 250 ff.
BVerwG, U. v. 31.01.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12, Rn. 24

Die vorstehend wiedergegebene Rechtsprechung von EGMR, EuGH und Bundesverwaltungsgericht ist auf anerkannte Flüchtlinge zu übertragen, die sich darauf berufen, dass die Lebensbedingungen, denen sie im Staat ihrer Flüchtlingsanerkennung ausgesetzt sind, Art. 3 EMRK widersprechen.

BVerwG, U. v. 08.08.2018 - 1 B 25.18 - Rn. 11
so schon BVerwG, B. v. 02.08.2017 - 1 C 37.16 - juris, Rn. 20

Auch für diesen Personenkreis ergibt sich eine gesteigerte Schutzpflicht der EUMitgliedstaaten, der sie sich in Gestalt der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9) unterworfen haben. Auch bei ihnen kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im Zielstaat der Abschiebung erreicht sein, wenn sie ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen. Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls.

BVerwG, U. v. 08.08.2018 - 1 B 25.18 - Rn. 12

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG setzt keine "Extremgefahr" im Sinne der Rechtsprechung zu § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG voraus.

BVerwG, U. v. 08.08.2018 - 1 B 25.18 - Rn. 13