III. Aussetzungsbefugnis (Abs. 1)

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Nach § 60a Abs. 1 AufenthG können die obersten Landesbehörden Abschiebungen anordnen. Zu diesen Behörden gehören die Innenministerien bzw. -senatoren oder durch Delegation die mittleren (Regierungspräsidien) und unteren Ausführungsebenen (Landräte, Oberbürgermeister); vgl. HK-AuslR/Bruns, § 60a, Rn. 6. Die allgemeine Anordnung der Aussetzung von Abschiebungen für längstens sechs Monate ist an dieselben Voraussetzungen gebunden wie die Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG. Die Anordnung kann ebenso wie nach § 23 Abs. 1 pauschal und endgültig bestimmte Gruppen von Ausländern, insbesondere Angehörige bestimmter Staaten begünstigen und damit jede weitere Prüfung der Ausländerbehörde erübrigen. Zulässig erscheint aber auch eine Anordnung, deren Einzelheiten erst noch z.T. durch die Ausländerbehörde für den Einzelfall festzustellen sind oder die der Ausländerbehörde in bestimmtem Umfang Ermessen einräumt. Die allgemeine Aussetzung kommt auch für Fallgestaltungen des § 60 Abs. 7 AufenthG und für die Zeit nach erfolglosem Abschluss des Asylverfahrens in Betracht.

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Die Rechtsnatur der allgemeinen Anordnung der Aussetzung ist nicht endgültig geklärt. Die Allgemeinanordnung stellt weder eine bloße Verwaltungsvorschrift noch eine Rechtsverordnung dar. Ihre Eigenart besteht darin, dass sie einerseits die Ausländerbehörde wie eine innerdienstliche Anordnung bindet, andererseits aber nach außen wirkt und die betroffenen Ausländer unmittelbar begünstigen soll. Als gesetzesausfüllende Anordnung unterliegt sie ähnlichen Anforderungen an Form und Bestimmtheit wie ein Rechtssatz und bedarf der Veröffentlichung (Renner, AiD Rn. 7/661-662). Das BVerwG sieht in ihr jedenfalls keine Norm und auch keine Allgemeinverfügung (BVerwG, U. v. 19.3.1996 – 1 C 34/93 – BVerwGE 100, 335).

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Die Voraussetzungen für den Abschiebungsstopp sind weitgefasst (Renner, AiD Rn 7/663-665). Völkerrechtliche Gründe können sich, da einschlägige unmittelbar zugunsten von Ausländern wirkende Normen des allgemeinen Völkerrechts und von Verträgen derzeit nicht bestehen, insbesondere aus Staatenverpflichtungen ergeben, die keine subjektiven Rechte enthalten. Humanitäre Erwägungen und politische Interessen eröffnen ein noch weiteres Feld. Zudem ist der Entschluss selbst dem politischen Ermessen anheimgestellt und deswegen gerichtlich, wenn überhaupt, nur in sehr engen Grenzen überprüfbar (dazu Bethäuser, ZAR 1996, 12; Göbel-Zimmermann, ZAR 1995, 23; Renner, AiD Rn. 7/677). Auch wenn das BMI sein Einvernehmen erteilt hat, kann sich der einzelne Ausländer nicht vor Erlass einer Anordnung in dem Aufenthaltsland unmittelbar auf einen IMK-Beschluss berufen (VG Berlin, U. v. 22.7.1996 – 35 A 934.96 – EZAR 015 Nr. 9). Trotz Einvernehmens sind die Länder auch nicht verpflichtet, einen zugrunde liegenden Beschluss der IMK uneingeschränkt zu verwirklichen (BVerwG, B. v. 14.3.1997 – 1 B 66/97 – EZAR 015 Nr. 14; VGH BW, B. v. 20.4.2002 – 13 S 314/02 – EZAR 015 Nr. 29).

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Den Inhalt können die Länder ebenso frei bestimmen (OVG Brandenburg, B. v. 15.8.2003 – 4 B 225/03 – EZAR 015 Nr. 34; OVG Bremen, B. v. 11.6.2002 – 1 B 228/02 – EZAR 015 Nr. 31). Sie sind vor allem in der Auswahl der begünstigten Gruppe rechtlich nicht weiter gebunden als durch das Willkürverbot. Als Kriterien können vor allem Staatsangehörigkeit, regionale Herkunft, ethnische oder religiöse Zugehörigkeit herangezogen werden, aber auch ein erfolglos durchlaufenes Asylverfahren, Aufenthaltsdauer, Unterhaltssicherung und Straflosigkeit. Es können auch Gruppen begünstigt werden, für deren Angehörige eines der Abschiebungshindernisse des § 60 Abs. 2, 5 oder 7 Satz 1 gegeben ist. Auch die Einzelheiten der zu erteilenden Duldung können nach weitem Ermessen bestimmt werden. Beschränkungen und Vorbehalte sind zulässig (a.A. OVG Berlin, B. v. 5.4.1995 – 8 S 577.94 ua – InfAuslR 1995, 257). Bei der Umsetzung eines IMK-Beschlusses sind die Bundesländer jedenfalls nicht in der Weise gebunden, dass dem einzelnen Ausländer Rechte zustehen, die nicht durch den Länder-Erlass gedeckt sind (BVerwG, B. v. 14.3.1997 – 1 B 66/97 – EZAR 015 Nr. 14). Die Länder brauchen den IMK-Beschluss nicht wörtlich zu übernehmen (OVG Brandenburg, B. v. 6.8.2002 – 4 B 110/02 – EZAR 015 Nr. 30).

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Ob den nach dem Inhalt des Erlasses begünstigten Ausländer ein unmittelbarer Anspruch zusteht, ist streitig. Teilweise wird angenommen, die Erlasse erschöpften sich in der verwaltungsinternen Steuerung des Ermessens, der Ausländer könne sich also nur auf eine Gleichbehandlung nach ständiger Verwaltungspraxis berufen (BVerwG, U. v. 19.9.2000 – 1 C 19/99 – BVerwGE 112, 63; HambOVG, B. v. 28.8.1996 – Bs VI 153/96 – NVwZ-Beil 1997, 26; NdsOVG, B. v. 7.3.1997 – 11 M 737/97 – NdsVBl 1997, 156.). Mehrheitlich wird dagegen in Schrifttum und Rechtsprechung die Ansicht vertreten, die Anordnungen begründeten unmittelbare Rechtspositionen, die nicht abhängig sind von der Auslegung durch das Landes-IM und von der Verwaltungsübung der nachgeordneten Behörden (VGH BW, U. v. 17.2.1993 – 1 S 103/92 – EZAR 019 Nr. 2; U. v. 20.7.1993 – 11 S 261/93 – InfAuslR 1994, 21; OVG Bremen, B. v. 28.1.2000 – 1 B 406/99 – EZAR 015 Nr. 20; HessVGH, B. v. 27.7.1995 – 12 TG 2342/95 – EZAR 046 Nr 5; OVG NW, B. v. 13.7.1994 – 17 B 2830/93 – EZAR 015 Nr. 5; ThürOVG, B. v. 1.3.1995 – 3 EO 376/94 – ThürVBl 1995, 181). Letzterer Ansicht ist im Blick auf die rechtssatzmäßige Ausgestaltung und die Vereinheitlichungsfunktion der Anordnung zu folgen. Mit der allgemeinen Anordnung auf Landesebene soll gerade ein uneinheitlicher Verwaltungsvollzug, wie bei internen Richtlinien möglich, ausgeschlossen werden. Im Falle des Einvernehmens soll eine möglichst bundesweit einheitliche Handhabung durch die obersten Landesbehörden und die Ausländerbehörden sichergestellt werden. Die Aufgabe des Einvernehmens kann nicht darauf reduziert werden, zu verhindern, dass sich einzelne Bundesländer zu weit von einer bundeseinheitlichen Rechtsanwendung entfernten (so aber BVerwG, U. v. 19.9.2000 – 1 C 19/99 – BVerwGE 112, 6).

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Die Anordnung hat eine ähnlich weitreichende Bedeutung wie die nach § 23 AufenthG und ist deshalb an das Einvernehmen des BMI gebunden, falls sie die Dauer von sechs Monaten überschreitet. Zulässig ist die Aussetzung für eine längere Zeit entweder von vornherein oder in mehreren Schritten. Durch das Erfordernis des Einvernehmens sind voneinander abweichende generelle Abschiebungsstopps der Länder ausgeschlossen. Es greift allerdings nur bei einer Verlängerung ein, nicht bei einem Neuerlass. Für die Frage der Identität der Aussetzungsanordnung ist sowohl auf die Personengruppe als auch auf den Grund der Aussetzung abzuheben (Göbel-Zimmermann, ZAR 1995, 23; HessVGH, B. v. 27.7.1995 – 12 TG 2342/95 – EZAR 046 Nr. 5). Dabei ist es unerheblich, wenn die Anordnung nach kurzer Unterbrechung wiederholt wird (HessVGH a.a.O.). Um einen Neuerlass handelt es sich vor allem bei nicht unwesentlicher Änderung der Rechts- oder Sachlage (vgl Bäuerle/Kleindiek, NVwZ 1995, 433; Bethäuser, ZAR 1996, 12; Göbel-Zimmermann a.a.O.). Zuständig sind die obersten Behörden der Länder.

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Über das Einvernehmen entscheidet allein das BMI. Es bedarf dazu nicht der Zustimmung der Länder. Maßgeblich ist allein das Ziel der Einheitlichkeit der Behandlung der fraglichen Gruppe und insgesamt der ausländerpolitischen Maßnahmen zugunsten von Flüchtlingen oder anderen Ausländern im gesamten Bundesgebiet. Einheitlichkeit bedeutet aber nicht völlige Übereinstimmung (Renner, AiD Rn 7/671-673). Da die Verhältnisse meistens in allen Ländern ähnlich gelagert sind, kann das BMI i.d.R. die Zustimmung von der einvernehmlichen Verständigung mit allen Bundesländern abhängig machen. Anders verhält es sich aber, wenn Regelungsbedarf nur für einzelne Länder oder ein einziges Land besteht.

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Ausgeführt wird die generelle Aussetzung durch Erteilung einer Duldung im Einzelfall. Auf sie besteht je nach dem Inhalt der Anordnung u.U. ein Rechtsanspruch, sie bewirkt aber keinen rechtmäßigen Aufenthalt, selbst wenn sie länger andauert. Ob der Ausländer eine Duldung verlangen kann, hängt freilich von den Einzelheiten der Anordnung ab. Sie kann unmittelbar wirken, wenn die Voraussetzungen abschließend bestimmt sind und es keiner weiteren Ermittlungen und Feststellungen bedarf. Sie kann aber auch den Nachweis weiterer Voraussetzungen verlangen, z.B. Unterhaltsfähigkeit oder Straflosigkeit. Dann treten die Rechtsfolgen erst mit Erfüllung dieser Anforderung ein.
Der Anspruch auf Duldungserteilung steht der Strafbarkeit entgegen (BVerfG-K, B. v. 6.3.2003 – 2 BvR 397/02 – EZAR 355 Nr. 34, s. dazu ausführlich bei § 95 Rn. 37).

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