Durch die Ausnahmeregelung in § 9 Abs. 2 Satz 6 i. V. m. § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG wollte der Gesetzgeber den durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gebotenen besonderen Schutz von kranken und behinderten Menschen Rechnung tragen und diese nicht von einer ansonsten möglichen weiteren Aufenthaltsverfestigung durch Versagung einer Niederlassungserlaubnis wegen Fehlens dieser besonderen Integrationsvoraussetzung ausschließen.
BayVGH, B. v. 14.5.2009 – 19 ZB 09.785 – Rn. 16
OVG B-B, B. v. 13.12.2011 – OVG 12 B 24.11 – Rn. 22
Aus dieser Ausnahmeregelung folgt jedoch nicht, dass jeder aufgrund einer Krankheit oder Behinderung eingeschränkt Erwerbsfähige ohne weiteres die genannte Privilegierung für sich in Anspruch nehmen kann. Bereits nach dem Wortlaut nicht erfasst sind Fälle, in denen der Ausländer (nur) aufgrund im normalen Lebensverlauf auftretender Alterserscheinungen oder Einschränkungen der Leistungsfähigkeit durch alterstypische Erkrankungen an der Erfüllung der Voraussetzungen der Lebensunterhaltssicherung gehindert ist.
BayVGH, B. v. 14.5.2009 – 19 ZB 09.785 – Rn. 16
Insbesondere dient die Vorschrift nicht dazu, bei Personen im Rentenalter, deren Aufenthaltszeit im Bundesgebiet für den Erwerb ausreichender Rentenansprüche zu kurz war oder die in dieser Zeit aus anderen Gründen solche nicht im ausreichenden Maße erworben haben, vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhaltes abzusehen.
BayVGH, B. v. 14.5.2009 – 19 ZB 09.785 – Rn. 16
Denn dies würde dem grundlegenden Ziel des Erfordernisses der Lebensunterhaltssicherung, die Zuwanderung in die sozialen Systeme der Bundesrepublik zu verhindern, zuwiderlaufen.
Nicht erforderlich ist, dass Umstände, die unter die Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 i. V. m. § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG fallen, zur vollständigen Erwerbsunfähigkeit führen. Im Hinblick auf die gesetzliche Zielsetzung, auch behinderten Ausländern eine Aufenthaltsverfestigung zu ermöglichen, wenn sie wegen ihrer Behinderung nicht arbeiten können, ist auch zu berücksichtigen, dass die Erfüllbarkeit der (vollständigen) Lebensunterhaltssicherung auch dem nur eingeschränkt Erwerbsunfähigen krankheits- oder behinderungsbedingt unmöglich sein kann
OVG B-B, B. v. 13.12.2011 – OVG 12 B 24.11 – Rn. 22
BayVGH, B. v. 18.06.2015 – 10 C 15.675 – Rn. 11
Nicht erforderlich ist weiter, dass die unter § 9 Abs. 2 Satz 6 i. V. m. § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG fallende Krankheit oder Behinderung allein ursächlich für die Unmöglichkeit der Erfüllung der Lebensunterhaltssicherung nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist. Dem Wortlaut der Norm ist nicht zu entnehmen, dass die dort in Bezug genommenen Gründe allein ursächlich sein müssen. Auch der Normzweck, der auf die Ermöglichung einer Aufenthaltsverfestigung behinderter Ausländer und somit auf die Verhinderung von Benachteiligungen Behinderter, die wegen ihrer Behinderung nicht arbeiten können, zielt, spricht gegen eine solche Einschränkung. Denn dieser Schutzzweck greift unabhängig davon Platz, ob der betroffene Ausländer auch aus anderen Gründen an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gehindert ist, insbesondere wenn der weitere Hinderungsgrund temporärer Natur ist.
OVG NRW, U. v. 15.10.2014 - 17 A 1150/13 - juris Rn. 67 zum Fall eines minderjährigen behinderten Ausländers
Zur Bestimmung der krankheits- oder behinderungsbedingten Erwerbsunfähigkeit sind die sozialrechtlichen Bestimmungen über die (teilweise) Erwerbsunfähigkeit heranzuziehen, insbesondere § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 SGB VI, wonach teilweise erwerbsgemindert derjenige ist, der wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Erforderlich zum Nachweis der tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 i. V. m. § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist eine fachärztliche Aussage darüber, ob und in welchem Umfang der die Niederlassungserlaubnis begehrende Ausländer noch arbeitsfähig ist und eine Vergleichsberechnung des theoretisch durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Einkommens und der dem Ausländer zustehenden öffentlichen Leistungen
BayVGH, B. v. 18.06.2015 – 10 C 15.675 – Rn. 11
Es bedarf hier einer konkreten Betrachtung dahingehend, inwieweit der Ausländer aufgrund der der Behinderung zugrundeliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei einer ihm theoretisch möglichen Tätigkeit seinen Lebensunterhalt - gemessen an sozialgesetzlichen Maßstäben - verdienen könnte.
BayVGH, U. v. 16.04.2008 – 19 B 07.336 – Rn. 40
Da bei Personen im Rentenalter die Generierung von Einkommen durch eigene Erwerbstätigkeit nicht mehr im Vordergrund steht, sondern vielmehr der Lebensunterhalt grundsätzlich durch während des vorangegangenen Erwerbslebens generierte Rentenansprüche gesichert wird, ist zudem erforderlich, dass dargelegt wird, dass auch der Erwerb entsprechender Anwartschaften (in der Vergangenheit) bereits wegen einer unter die Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 i. V. m. § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG fallenden Krankheit oder Behinderung nicht möglich war. Diese rückschauende Berücksichtigung des bisherigen Erwerbslebens ist angesichts der oben genannten Zielsetzung des Erfordernisses der Lebensunterhaltssicherung, die Zuwanderung in die Sozialsysteme zu verhindern, bei Personen im Rentenalter erforderlich, die schon wegen ihres Alters nicht mehr erwerbsfähig sind. Dadurch wird dieser Zielsetzung grundsätzlich entsprochen und zugleich, Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG entsprechend, gewährleistet, dass auch ältere, im Sinne der Ausnahmeregelung behinderte oder kranke Personen, die wegen ihrer Behinderung oder Krankheit selbst bei einem langjährigen Aufenthalt nicht in der Lage gewesen wären, zur (vollständigen) Sicherung des Lebensunterhalts ausreichende Rentenansprüche zu erwerben, nicht von der Möglichkeit einer Aufenthaltsverfestigung ausgeschlossen werden. Letztlich liegt dem zugrunde, dass bei Personen im Rentenalter die Sicherung des Lebensunterhaltes üblicherweise über die Rente erfolgt, so dass die Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 i. V. m. § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG erfordert, dass die Rentenansprüche wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht ausreichen, was wiederum voraussetzt, dass diese aus den genannten Gründen nicht entsprechend erworben werden konnten.