Gesetz:
Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU)
Paragraph:
§ 7 Ausreisepflicht
Autor:
OK-MNet
Stand:
MNet in: OK-MNet-FreizügG/EU (01.02.2022)

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Der Erlass einer Abschiebungsandrohung nach § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU setzt voraus, dass Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen ausreisepflichtig sind. Die Ausreisepflicht wird in § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU speziell geregelt:

"Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen sind ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht."

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Die Ausreisepflicht wird nur an eine Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit geknüpft. Rechtsgrundlagen einer Verlustfeststellung können die §§ 2 Abs. 7, 5 Abs. 4 oder 6 Abs. 1 FreizügG/EU sein. Da Bescheinigungen nach § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU, Aufenthaltskarten für Familienangehörige nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU und Daueraufenthaltskarten nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU nur deklaratorische Bescheinigungen ohne jede Regelungswirkung sind, stehen sie der Ausreisepflicht nicht entgegen.

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Für Familienangehörige, die keine Unionsbürger sind, ist für Altfälle, in denen ihnen vor dem 29.01.2013 einer Daueraufenthaltskarte ausgestellt wurde, eine Übergangsproblematik zu beachten, die der Gesetzgeber übersehen hat. 

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Die Daueraufenthaltskarte für drittstaatsangehörige Familienangehörige von Unionsbürgern nach § 5 Abs. 5 Satz 2 FreizügG/EU war bis zum 29.01.2013 ein feststellender Verwaltungsakt und nicht nur eine deklaratorische Bescheinigung. Die Rechtsnatur einer Daueraufenthaltskarte, die vor dem 29.01.2013 ausgestellt wurde, ändert sich nicht nachträglich dadurch, dass der Gesetzgeber diese neu regelt und nunmehr nur noch als deklaratorische Bescheinigung ohne jede Bindungswirkung ausstellen lässt. 

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Eine vor dem 29.01.2013 ausgestellte Daueraufenthaltskarte regelte als Verwaltungsakt nicht das Bestehen der Freizügigkeit, da diese Rechtsstellung unmittelbar aus dem Unionsrecht fließt. Die Regelungswirkung des feststellenden Verwaltungsaktes beschränkt sich darauf, mit Bindungswirkung auszusprechen, dass die Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU vorliegen. Diese Bindungswirkung hat zur Folge, dass die Ausländerbehörde bis zur Aufhebung des Verwaltungsaktes vom Vorliegen der Voraussetzungen eines Daueraufenthaltsrechts ausgehen muss. Erst die Aufhebung des feststellenden Verwaltungsaktes (Widerruf oder Rücknahme) beseitigen diese Bindungswirkung.

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Da der feststellende Verwaltungsakt selbst keine Freizügigkeit vermittelt, sondern nur (möglicherweise fehlerhaft) das Vorliegen der Freizügigkeitsvoraussetzungen für das Daueraufenthaltsrecht regelt, steht er keiner Verlustfeststellung entgegen. Denn die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit knüpft an den Wegfall der Freizügigkeit an, deren Vorliegen objektiv zu beurteilen ist. Die Daueraufenthaltskarte nach altem Recht hindert daher nur das Entstehen der Ausreisepflicht.

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Um diesem Umstand Rechnung tragen zu können, wird man die Fassung des § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU a.F. anwenden müssen, die vor dem 29.01.2013 galt:

"Familienangehörige, die nicht Unionsbürger sind, sind ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte widerrufen oder zurückgenommen hat."

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Eine ähnliche Problematik in Bezug auf Aufenthaltskarten, die vor dem 29.01.2013 ausgestellt wurden, hat sich zwischenzeitlich durch Zeitablauf erledigt. Denn die für fünf Jahre ausgestellten Aufenthaltskarten wurden nach neuem Recht verlängert und unterliegen damit der ab dem 29.01.2013 geltenden Rechtslage.

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Nicht ausdrücklich geregelt ist der Status der Unionsbürger und Familienangehörigen, die kein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU genießen, bei denen die Ausländerbehörde aber noch keine Feststellung des Nichtbestehens oder Verlusts des Freizügigkeitsrechts erlassen hat. Anders als die Unionsrecht geht das Freizügigkeitsgesetz/EU von einer Freizügigkeitsvermutung aus, die Ausländern, die vom Anwendungsbereich des § 1 FreizügG/EU erfasst werden, rechmäßigen Aufenthalt vermittelt.

BVerwG, U. v. 16.11.2010 – 1 C 17.09 – Rn. 11; U. v. 11.01.2011 – 1 C 23.09 – Rn. 12; U. v. 16.07.2015 – 1 C 22.14 – Rn. 12;
BSG U. v. 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R –Rn. 25; U. v. 16.12.2015 – B 18 AS 15/14 R – Rn. 22

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Die Freizügigkeitsvermutung wird im FreizügG/EU nicht ausdrücklich erwähnt. Gem. § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger und Familienangehörige aber erst ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Die Ausreisepflicht für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen knüpft mit der Perfekt-Formulierung („festgestellt hat“) an das Vorliegen einer Feststellung nach §§ 2 Abs. 7, 5 Abs. 4 oder 6 Abs. 1 FreizügG/EU an. Die fehlende Ausreisepflicht vor Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit verdeutlicht, dass es nicht um die Aufrechterhaltung der Freizügigkeit, sondern um die Beibehaltung des rechtmäßen Aufenthalts geht.

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Mit der Freizügigkeitsvermutung trägt der Gesetzgeber der besonderen der Freizügigkeit Rechnung. Kurzfristige Unterbrechungen der Freizügigkeit sollen nicht zur Folge haben, dass Unionsbürger und ihre Familienangehörigen ausreisepflichtig werden. Der Verlust der Freizügigkeit führt daher zunächst zu einem rechtmäßigem Aufenthalt, bis die Ausländerbehörde keine Verlustfeststellung erlässt.

 "Auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nicht oder nicht mehr nach Gemeinschaftsrecht freizügigkeitsberechtigt sind und auch kein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 5 genießen, findet dieses Gesetz keine Anwendung, sondern die Betroffenen unterliegen dem allgemeinen Ausländerrecht. Entsprechend dem Grundsatz, dass Unionsbürger und ihre Angehörigen weitestgehend aus dem Geltungsbereich des allgemeinen Ausländerrechts herausgenommen werden, setzt dies einen – nicht notwendigerweise unanfechtbaren – Feststellungsakt der zuständigen Behörde voraus. Damit gilt für den in § 1 beschriebenen Personenkreis zunächst eine Vermutung der Freizügigkeit."

BT-Drs. 15/420, 106 zu § 11.

Zu den weiteren Einzelheiten der Freizügigkeitsvermutung siehe Kommentierung zu § 1 FreizügG/EU.

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Dass für die Beendigung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nicht die Unanfechtbarkeit der Feststellungsentscheidung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU maßgeblich ist, sondern nur deren Wirksamkeit, ergibt sich schon aus der Entstehungsgeschichte des § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Die Fassung dieser Vorschrift vom 30. Juli 2004 sah das Entstehen der Ausreisepflicht erst mit der Unanfechtbarkeit der Feststellungsentscheidung vor. Mit dem ersten Richtlinienumsetzungsgesetz (vom 19.8.2007, BGBl. I S. 1970) wurde das Erfordernis der Unanfechtbarkeit vom Gesetzgeber mit Wirkung zum 28.08.2007 bewusst gestrichen (BT-Drs. 16/5065, S. 211).

AA BayVGH, U. v. 18.07.2017 – 10 B 17.339, Rn. 27

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Auch wenn unmittelbar mit Bekanntgabe der Verlustfeststellung die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts endet und der Ausländer ausreisepflichtig wird, so ist der Suspensiveffekt eines Widerspruchs oder einer Klage zu beachten, da sie der Vollziehbarkeit der Verlustfeststellung entgegensteht.

OVG BB, B. v. 27.05.2021 – OVG 2 S 15/21 – Rn. 10

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Der Suspensiveffekt von Widerspruch und Klage sind auch nicht kraft Gesetzes ausgeschlossen. Denn § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG findet auf die Verlustfeststellung mangels Verweises in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU keine Anwendung.

siehe auch VG München, B. v. 20.12.2021 – M 4 S 21.6131 – Rn. 11

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Solange die aufschiebende Wirkung andauert, ist es der Ausländerbehörde nicht gestattet, den festgestellten Verlust des Freizügigkeitsrechts des Antragstellers zu vollziehen. Die Behörde darf aus ihrem Verwaltungsakt daher keine Maßnahmen treffen, die rechtlich als Vollziehung der wirksamen Verlustfeststellung zu qualifizieren sind.

OVG BB, B. v. 27.05.2021 – OVG 2 S 15/21 – Rn. 10

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Um eine solche Maßnahme der Vollziehung handelt es sich, wenn die Ausländerbehörde die Abschiebung durchführen will oder während der aufschiebenden Wirkung gestützt auf eine Rechtsgrundlage im Aufenthaltsgesetz einen belastenden Verwaltungsakt, der beispielsweise die Abschiebung vorbereiten oder ermöglichen soll, gegenüber dem Ausländer erlässt.

OVG BB, B. v. 27.05.2021 – OVG 2 S 15/21 – Rn. 10

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§ 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU bestimmt, dass eine Abschiebung nicht erfolgen darf, bevor über einen anhängigen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO entschieden wurde. Damit sieht Satz 3 eine Aussetzung der Vollziehung kraft Gesetzes vor, die anders als Art. 31 Abs. 2 UnionsbürgerRL keine Ausnahmen enthält. Art. 31 Abs. 2 UnionsbürgerRL hat folgenden Wortlaut:

"(2) Wird neben dem Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wurde, auch ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, um die Vollstreckung dieser Entscheidung auszusetzen, so darf die Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet nicht erfolgen, solange nicht über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden wurde, es sei denn,

  • die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, stützt sich auf eine frühere gerichtliche Entscheidung, oder
  • die Betroffenen hatten bereits früher die Möglichkeit, eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen, oder
  • die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit nach Artikel 28 Absatz 3."

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Diese Ausnahmeregelungen können zulasten des Betroffenen nicht unmittelbar angewendet werden. Denn die Rechtsprechung. zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien wird maßgeblich von dem Gedanken geprägt, dass der Staat nicht berechtigt sein kann, dem Bürger sein unionswidriges nationales Recht zur Begründung von Pflichten oder Verweigerung von unionsrechtlich gewährten Rechten vorzuenthalten.

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Zur Konkretisierung der Zulässigkeit der Abschiebung kann über § 11 Abs. 1 FreizügG/EU ergänzend auf § 50 Abs. 2 bis 6 AufenthG sowie § 59 Abs. 1 Sätze 6 und 7 AufenthG zurückgegriffen werden. Hinsichtlich der Ausreisefrist siehe Kommentierung zur Ausreisefrist.

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Erweist sich die Abschiebungsandrohung als rechtswidrig bzw. teilweise rechtswidrig, z.B. wegen unzureichender Fristsetzung, so bleibt die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit oder der Widerruf bzw. die Rücknahme der (Dauer)Aufenthaltskarte davon unberührt.

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Die Abschiebungsandrohung setzt – anders als der Vollstreckungsakt, d.h. die Abschiebung – nicht voraus, dass die Ausreisepflicht vollziehbar ist. Insoweit ist nicht erforderlich, dass die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit oder der Widerruf bzw. die Rücknahme der (Dauer)Aufenthaltskarte vollziehbar ist. Dies folgt schon daraus, dass die Androhung und der Vollzug der Abschiebung bei rechtlicher Betrachtung strikt zu trennen sind.

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Im Unterschied zu einer Abschiebung ergeht die Abschiebungsandrohung im „Vorfeld“ einer möglichen Abschiebung. Ihr muss sich nicht zwangsläufig eine nachfolgende Abschiebung anschließen. Vielmehr bleibt es dem ausreisepflichtigen Ausländer überlassen, die Durchführung einer angedrohten Abschiebung innerhalb der gesetzten Ausreisefrist zu vermeiden und freiwillig das Bundesgebiet zu verlassen. Die Abschiebungsandrohung dient damit dem Zweck, dem Ausländer einen rechtzeitigen Hinweis auf Zwangsmaßnahmen zu erteilen und es ihm zu ermöglichen, seine Ausreise vorzubereiten und freiwillig auszureisen.