Gesetz:
Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU)
Paragraph:
§ 7 Ausreisepflicht
Autor:
OK-MNet
Stand:
MNet in: OK-MNet-FreizügG/EU (09.12.2024)

D. Gesetzliche Aussetzung der Vollziehung

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Nach der Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 4 FreizügG/EU, die auf Art. 31 Abs. 2 UnionbürgerRL beruht, darf die – an die Verlustfeststellung des Freizügigkeitsrechts anknüpfende – Abschiebung nicht erfolgen, bevor über einen nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellten Antrag entschieden wurde.

"Wird ein Antrag nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gestellt, darf die Abschiebung nicht erfolgen, bevor über den Antrag entschieden wurde."

2

Die europarechtliche Verfahrensgarantie gewährleistet weder nach ihrem Wortlaut noch nach dem zugrundeliegenden Erwägungsgrund 26 UnionsbürgerRL einen Instanzenzug. Auch die Rechtsschutzgarantien nach Art. 47 GRCh und Art. 13 EMRK schreiben einen zweiten Rechtszug nicht vor; ihnen ist genügt, wenn ein Gericht über das Rechtsschutzbegehren entschieden hat.

vgl. EuGH, Urt. v. 26.09.2018 – C-180/17, juris Rn. 30 – 32
OVG Bremen, B. v. 04.08.2021 – 2 B 327/21 – Rn. 8

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Eine Auslegung dieser Regelung kann auf der Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU zu Art. 46 Abs. 5 AsylverfahrensRL erfolgen, der folgenden Wortlaut hat:

„(5) Unbeschadet des Absatzes 6 gestatten die Mitgliedstaaten den Antragstellern den Verbleib im Hoheitsgebiet bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung des Rechts der Antragsteller auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, wenn ein solches Recht fristgemäß ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf.“

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Für Art. 46 Abs. 5 AsylverfahrensRL, der bei der Ablehnung von Anträgen auf internationalen Schutz den Verbleib des Betroffenen im Mitgliedstaat „bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf“ gewährleistet, hat der EuGH bereits entschieden, dass diese Vorschrift es nicht gebietet, nach einer negativen Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts auch noch während des zweitinstanzlichen Verfahrens von einer Aufenthaltsbeendigung abzusehen.

vgl. EuGH, Urt. v. 26.09.2018 – C-180/17, juris Rn. 44
OVG Bremen, B. v. 04.08.2021 – 2 B 327/21 – Rn. 8

5

Dies gilt entsprechend für Art. 31 Abs. 2 UnionsbürgerRL, wonach die Abschiebung des Unionsbürgers nicht erfolgen darf,

„solange nicht über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden wurde“.

6

Ein Grund, den Begriff der „Entscheidung“ im Kontext von Art. 31 Abs. 2 UnionsbürgerRL anders zu verstehen als im Kontext des Art. 46 Abs. 5 AsylverfahrensRL ist nicht ersichtlich. Dass § 7 Abs. 1 Satz 4 FreizügG/EU über das unionsrechtlich Gebotene hinausgehen will, ist nicht anzunehmen. Die Systematik des deutschen Verwaltungsprozessrechts spricht dagegen. Denn auch im deutschen Recht ist es die Grundregel, dass Beschwerden keine aufschiebende Wirkung entfalten (vgl. § 149 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

OVG Bremen, B. v. 04.08.2021 – 2 B 327/21 – Rn. 8

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Die Anordnung der sofortigen Vollziehung kann nicht auf die Förderung des Effektivitätsgebots aus Art. 4 Abs. 3 EUV gestützt werden. Denn das Unionsrecht überlässt es den Mitgliedstaaten, ob einem Rechtsbehelf gegen die Beschränkung des Freizügigkeitsrechts aus anderen als Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit - um eine solche Beschränkung im Sinne des Art. 15 Abs. 1 RL 2004/38/EG handelt es sich bei der Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU - aufschiebende Wirkung zukommen soll oder nicht.

VGH BW, Beschluss vom 21. November 2024 – 12 S 1696/23 –, Rn. 22

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Die Richtlinie 2004/38/EG trifft keine Bestimmungen zum Suspensiveffekt von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen im Sinne des Art. 15 Abs. 1 RL 2004/38/EG. Insbesondere ist Art. 31 Abs. 2 RL 2004/38/EG, der mit Ausnahme seines dritten Spiegelstrichs über Art. 15 Abs. 1 RL 2004/38/EG hier Anwendung findet, nicht zu entnehmen, dass die angegriffenen Entscheidungen zwingend mit ihrer Wirksamkeit vollstreckbar sein müssten und das Gericht allein auf einen Rechtsbehelf hin die Vollstreckung aussetzen dürfte.

VGH BW, Beschluss vom 21. November 2024 – 12 S 1696/23 –, Rn. 22

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Fehlen aber einschlägige unionsrechtliche Vorschriften, ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, zu regeln, wobei sie jedoch nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige, dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz).

VGH BW, Beschluss vom 21. November 2024 – 12 S 1696/23 –, Rn. 23

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Es trifft zwar zu, dass es Konstellationen gibt, in denen Unionsrecht die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit im Interesse seiner effektiven Durchsetzung gebieten kann. Eine solche Situation ist aber bei der Frage, wann der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen nach der behördlichen Entscheidung über das Entfallen der Freizügigkeit beendet werden darf, ersichtlich nicht gegeben, weil hier bereits unionsrechtlich ein erkennbares Spannungsfeld zwischen effektivem Rechtsschutz und effektiver Rechtsdurchsetzung besteht, das auch unionsrechtlich die gesetzliche Suspensionsautomatik zu rechtfertigen weiß.

VGH BW, Beschluss vom 21. November 2024 – 12 S 1696/23 –, Rn. 23