Gesetz:
Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU)
Paragraph:
§ 7 Ausreisepflicht
Autor:
Maria Maximowitz
Stand:
Maximowitz in: OK-MNet-FreizügG/EU (01.08.2011)

I. Vorbemerkungen

1. Wirkung der Dokumente über das Aufenthaltsrecht

2. Definition „Ausweisung“ im supranationalen Recht

3. Einschränkung der nationale Verfahrensautonomie /

Verfahrensrechte im Primärrecht

1. Wirkung der Dokumente über das Aufenthaltsrecht

In Hinblick auf die bei Verlustfeststellung - nach nationalem Recht - geforderte Einziehung der (in der Unionsbürgerrichtlinie nicht existenten) Freizügigkeitsbescheinigung und den Widerruf oder die Rücknahme der (Dauer) Aufenthaltskarte - als Voraussetzung für den Eintritt der Ausreisepflicht Drittstaatsangehöriger - bleibt zunächst festzuhalten:

Der Rechtsprechung des EuGH und der Unionsbürgerrichtlinie folgend besteht die Vermutung eines Freizügigkeitsrechts zugunsten der in § 1 FreizügG/EU genannten Personen.

Gem. Art. 14 UnionsbürgerRL „steht das Aufenthaltsrecht Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen zu“.

Gem. Art. 25 UnionsbürgerRL darf die Ausübung eines Rechts unter keinen Umständen vom Besitz einer Anmeldebescheinigung, eines Dokuments zur Bescheinigung des Daueraufenthaltsrechts, einer Bescheinigung über die Beantragung einer Aufenthaltskarte, einer Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte abhängig gemacht werden, wenn das Recht durch ein anderes Beweismittel nachgewiesen werden kann.

Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004 38 sieht insoweit ausdrücklich vor, dass ein Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht hat, sich dort auf Dauer aufzuhalten.

Art. 19 dieser Richtlinie schreibt nicht vor, dass die Unionsbürger, die dieses Recht auf Daueraufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 16 der Richtlinie erworben haben, Inhaber einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung sein müssen.

Die genannten Vorschriften sehen für Unionsbürger, die sich rechtmäßig (vgl. Erl. zu § 4a) fünf Jahre lang ununterbrochen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufgehalten haben, nur vor, dass auf ihren Antrag hin ein Dokument ausgestellt wird, in dem ihr dauerhafter Aufenthalt bestätigt wird, ohne dass eine solche Formalität vorgeschrieben würde. Ein solches Dokument hat nur deklaratorische Wirkung und Beweisfunktion, kann aber keine konstitutive Bedeutung haben.

EuGH, U. v. 08.04.1976 - Rs. 48/75 -, Royer, Slg. 1976, 497;
EuGH, U. v. 06.10.2009 - C-123/08 -, Wolzenburg, Slg. 2009, I-9621.

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist es nicht Vorbedingung für den Erwerb des Rechts auf Einreise und Aufenthalt, dass der im Vertrag geregelte ordre public Vorbehalt nicht eingreift. Vielmehr ist dieser Vorbehalt aufzufassen als eine Handhabe, im Einzelfall bei Vorliegen geeigneter Gründe die Ausübung eines unmittelbar aus dem Vertrag fließenden Rechts einzuschränken, vgl. in diesem Sinne auch Art. 27 UnionsbürgerRL.

Ausnahmen von dem Grundsatz der Freizügigkeit sind eng zu verstehen. Bei jeder Beschränkung der Freizügigkeit haben die Ausländerbehörden und die Gerichte die besondere Rechtsstellung der vom Gemeinschaftsrecht privilegierten Personen und die entscheidende Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu berücksichtigen

EuGH, U. v. 27.10.1977 - Rs. 30/77 -, Bouchereau, Slg. 1977, 1999.

Zur Wirkung eines auf nationaler Grundlage gewährten Aufenthaltsrechts - zunächst nur im Kontext des Daueraufenthaltsrechts - bleibt insbesondere die Entscheidung des EuGH in der anhängigen Rechtssache C-424/10 Ziolkowski u.a. abzuwarten.

In dieses Verfahren hatte die Europäische Kommission den EuGH auch um Beantwortung von Fragen zum Schutz vor Ausweisung bei fehlendem unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht gebeten. In der mündlichen Verhandlung führte die Kommission aus, zur Frage der Abschiebungsandrohung sei richtig, dass diese nicht Gegenstand des Verfahrens ist. Die Stellungnahme der Kommission an den Gerichtshof zu dieser Frage sei vielleicht nicht relevant, die Androhung habe jedoch dazu geführt, dass der Anspruch auf Daueraufenthalt geltend gemacht worden sei. Nicht zustimmen könne die Kommission, dass ein rein nationaler Sachverhalt zugrunde liege. Die Kläger seien Unionsbürger und hätten Rechte aus Art. 21 AEUV. Die Situation falle daher in den Bereich des Unionsrechts, Rs. C-456/02 Trojani Rdnr. 45. Der Mitgliedstaat könne unter Beachtung der Grenzen des Unionsrechts, der Verhältnismäßigkeit und der Grundprinzipien den Aufenthalt beenden. Art. 27 und 28 seien zwar nicht unmittelbar anwendbar. Es seien jedoch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Art. 8 EMRK und Art. 24 GRC zu beachten.
Eine Aufenthaltsbeendigung war jedoch weder Gegenstand des Ausgangsverfahrens, noch des Vorabentscheidungsersuchens des vorlegenden Gerichts, so dass eine Antwort des EuGH zur Anwendbarkeit von Art. 27, 28 der UnionsbürgerRL ausscheiden dürfte.

Zu rein nationalen Aufenthaltsrechten hatte die Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache McCarthy ausgeführt:

„Dass es Fälle geben kann, in denen ein Aufenthaltsrecht lediglich aus dem nationalen Ausländerrecht des Aufnahmemitgliedstaats folgt, zeigt Art. 37 der Richtlinie 2004/38, wonach günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ausdrücklich unberührt bleiben. Auch aus der Rechtsprechung sind durchaus Fälle bekannt, in denen der Aufenthalt von Unionsbürgern im jeweiligen Aufnahmemitgliedstaat sich nicht auf das Unionsrecht, sondern allein auf das innerstaatliche Ausländerrecht stützen konnte. Einen solchen Aufenthalt hat der Gerichtshof keineswegs für unbeachtlich erklärt, sondern im Gegenteil unionsrechtliche Schlussfolgerungen daran geknüpft.“

Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 25.11.2010, C-434/09, McCarthy, Rdnr. 53

Sie verwies hierbei auf die Urteile des Gerichtshofs in den Rechtssachen Trojani (C-456/02) und Martinez Sala (C-85/96).


Mit Blick auf den in Art. 16 der UnionsbürgerRL für die Erlangung eines Daueraufenthaltsrechts geforderten rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne der Bestimmung führt die Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Dias (Schlussanträge vom 17.02.2011 in der Rechtssache C-325/09 - Dias -, Rdnr. 82) hingegen aus:

„Ich vermag Art. 37 der Richtlinie 2004/38 keine derartige Wertung zu entnehmen. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung lässt die Richtlinie günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten unberührt. Eine solche Wortwahl verwendet der Unionsgesetzgeber üblicherweise, wenn er zum Ausdruck bringen möchte, dass eine Richtlinie der günstigeren Ausgestaltung des nationalen Rechts nicht entgegensteht und dass die Mitgliedstaaten in dieser Hinsicht somit ein Ausgestaltungsermessen haben. Soweit der Erlass günstigerer Bestimmungen im Ermessen der Mitgliedstaaten steht, dürften diese – soweit es keine primärrechtlichen Vorgaben gibt – auch ein Ermessen hinsichtlich der Frage haben, welche Rechtsfolgen sie an ein lediglich nach nationalem Recht gewährtes, über die Vorgaben der Richtlinie 2004/38 hinausgehendes Aufenthaltsrecht knüpfen wollen. Insbesondere dürfte ihnen somit ein Ermessen hinsichtlich der Frage zustehen, ob sie auch einen solchen Aufenthalt für die Entstehung eines Rechts auf Daueraufenthalt berücksichtigen wollen.“

Folgt der EuGH dieser Rechtsauffassung, stellt sich erneut die Frage, ob - neben humanitären Rechten - auch die gem. § 3 Abs. 6 FreizügigG/EU eingeräumten Rechte dem Unionsrecht entzogen sind.

Zur Wirkung einer unter Geltung der Richtlinie 68/360 gültigen Aufenthaltserlaubnis, die nicht entzogen worden war, obwohl die hierfür aufgestellten Voraussetzungen dauerhaft vorlagen, merkt die Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Dias (Schlussanträge vom 17.02.2011 in der Rechtssache C-325/09 - Dias -, Rdnr. 111-114) an, in qualitativer Hinsicht könne der Aufenthalt ohne Erfüllung unionrechtlicher Erfordernisse nicht mit dem Fall einer Abwesenheit im Sinne von Art. 16 Abs. 4 UnionsbürgerRL verglichen werden, nachdem Frau Dias in dieser Zeit über eine gültige Aufenthaltserlaubnis verfügte:

„Dagegen kann erstens nicht eingewendet werden, dass Frau Dias im Zeitraum 3 nicht die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Art. 6 der Richtlinie 68/360 erfüllte. Wie Frau Dias zu Recht ausführt, berührte dies nämlich nicht die Gültigkeit ihrer Aufenthaltserlaubnis. Zwar war diese Aufenthaltserlaubnis von den nationalen Behörden gemäß Art. 6 der Richtlinie 68/360 erlassen worden, um ihr eine effektive Ausübung ihres Rechts auf Arbeitnehmerfreizügigkeit zu ermöglichen. Das bedeutet aber nicht, dass die Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis davon abhing, dass die Voraussetzungen für ihre Erteilung dauerhaft vorlagen. Nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 68/360 muss die Aufenthaltserlaubnis nämlich eine Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren haben. Aus Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie ergibt sich weiter, dass die Erlaubnis vor Ablauf ihrer Gültigkeit nur unter bestimmten Voraussetzungen entzogen werden kann. Aus einer Gesamtschau dieser beiden Vorschriften ergibt sich, dass die Aufenthaltserlaubnis so lange gültig ist und somit Wirkung entfaltet, bis entweder ihre Gültigkeitsdauer abgelaufen oder sie von den nationalen Behörden entzogen worden ist.

Einem solchen Verständnis steht auch nicht die Rechtsprechung des Gerichtshofs über die Wirkung einer Aufenthaltserlaubnis nach Art. 6 der Richtlinie 360/68 entgegen. Zwar hat der Gerichtshof mehrfach entschieden, dass eine solche Aufenthaltserlaubnis nur eine deklaratorische Wirkung hat. Damit hat er aber meines Erachtens nicht zum Ausdruck bringen wollen, dass eine solche Aufenthaltserlaubnis keinerlei eigenständige Wirkung haben kann. Diese Feststellung des Gerichtshofs muss nämlich im Kontext der betreffenden Rechtssachen beurteilt werden. Diese Rechtssachen betrafen eine Konstellation, in der zwar die Voraussetzungen für ein unionsrechtlich begründetes Aufenthaltsrecht vorlagen, dem betreffenden Unionsbürger von den nationalen Behörden aber keine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden war. Soweit der Gerichtshof klargestellt hat, dass die Aufenthaltserlaubnis lediglich eine deklaratorische Wirkung hat, betrifft dies somit nur die Konstellation, in der die Voraussetzungen für ein unionsrechtlich verbürgtes Aufenthaltsrecht vorlagen, die Behörden aber keine Aufenthaltserlaubnis erteilt hatten. Der Gerichtshof hat in diesen Fällen lediglich klargestellt, dass die unionsrechtlich gewährten Aufenthaltsrechte nicht von der Einhaltung von nationalen Verwaltungsverfahren abhängen, sondern den Unionsbürgern unmittelbar aus den unionsrechtlichen Vorschriften erwachsen. Zur Frage, ob eine Aufenthaltserlaubnis auch dann eine Wirkung entfalten kann, wenn die Voraussetzungen für ein unionsrechtlich verbürgtes Aufenthaltsrecht nicht vorliegen, hat sich der Gerichtshof in diesen Urteilen nicht geäußert.“

Mit Urteil vom 21.07.2011 ist der EuGH dieser Auffassung gefolgt.

Nach seiner ständigen Rechtsprechung fließe das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort zu den vom EG-Vertrag genannten Zwecken aufzuhalten, nämlich unmittelbar aus dem EG-Vertrag oder, je nach Sachlage, aus den zu seiner Durchführung ergangenen Bestimmungen. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats sei daher nicht als rechtsbegründende Handlung zu betrachten, sondern als Handlung eines Mitgliedstaats, die dazu dient, die individuelle Situation eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats im Hinblick auf die Bestimmungen des Unionsrechts festzustellen (vgl. Urteil vom 23. März 2006, Kommission/Belgien, C-408/03, Slg. 2006, I-2647, Randnrn. 62 und 63 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Der Gerichtshof habe Aufenthaltserlaubnissen einen derartigen deklaratorischen und nicht rechtsbegründenden Charakter zuerkannt, und zwar unabhängig davon, ob sie nach der Richtlinie 68/360 oder der Richtlinie 90/364 erteilt wurden. Weiter sei darauf hinzuweisen, dass Art. 3 der Richtlinie 90/364 für das Aufenthaltsrecht nicht auf die erteilte Aufenthaltserlaubnis, sondern auf das Aufenthaltsrecht als solches und auf die Voraussetzungen für seine Gewährung verwies. Die einzige Vorschrift der Richtlinie 68/360, die sich auf den Entzug der Aufenthaltserlaubnis bezog, nämlich Art. 7 Abs. 1, bestätige im Übrigen, dass die Aufenthaltserlaubnis mit dem bereits bestehenden Aufenthaltsrecht des betroffenen Bürgers in einem inneren Zusammenhang steht. So wie nämlich das Aufenthaltsrecht eines Arbeitnehmers – und der Arbeitnehmerstatus selbst – nicht allein deshalb entfiel, weil sein Inhaber keine Beschäftigung mehr ausübte, sei es, weil er wegen Krankheit oder Unfall vorübergehend arbeitsunfähig war oder weil er, vom zuständigen Arbeitsamt ordnungsgemäß bestätigt, unfreiwillig arbeitslos geworden war, durfte die gültige Aufenthaltserlaubnis eines Arbeitnehmers, der sich in einer solchen Lage befand, nach der genannten Vorschrift nicht entzogen werden.

Schließlich treffe zwar zu, dass der Gerichtshof, was den deklaratorischen Charakter einer Aufenthaltserlaubnis angeht, nur über Fälle entschieden hat, in denen eine solche nicht erteilt worden war, obwohl der betroffene Unionsbürger die unionsrechtlichen Voraussetzungen für einen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllte. Der deklaratorische Charakter einer Aufenthaltserlaubnis bedeute jedoch, dass mit dieser Erlaubnis lediglich ein bereits bestehendes Recht bescheinigt werde. Daraus folgt, dass der Aufenthalt eines Bürgers ebenso wenig allein deshalb als illegal eingestuft werden darf, weil er keine Aufenthaltserlaubnis besitzt, wie er allein deshalb als im Sinne des Unionsrechts legal angesehen werden darf, weil dem Bürger eine solche Aufenthaltserlaubnis rechtsgültig erteilt wurde.

Daher sei festzustellen, dass Aufenthaltszeiten, die vor dem 30. April 2006 allein auf der Grundlage einer nach der Richtlinie 68/360 rechtsgültig erteilten Aufenthaltserlaubnis zurückgelegt wurden, ohne dass die Voraussetzungen für die Geltendmachung irgendeines Aufenthaltsrechts erfüllt wären, im Hinblick auf den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nicht als rechtmäßiger Aufenthalt anzusehen sind.

EuGH, U. v. 21.07.2011 - C-325/09 -, Dias.

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