Gesetz:
Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU)
Paragraph:
§ 7 Ausreisepflicht
Autor:
Maria Maximowitz
Stand:
Maximowitz in: OK-MNet-FreizügG/EU (01.08.2011)

II. Gemeinschaftliche Rechtsetzung (2)

1. Allgemeines

2. Abschaffung des Vier-Augen-Prinzips

3. Rechtsfolgen der Ausweisung und Verfahrensgarantien


2. Abschaffung des Vier-Augen-Prinzips

Die Abschaffung des Vier-Augen-Prinzips ist in der Unionsbürgerrichtlinie gewollt und bewusst durch den Gemeinschaftsgesetzgeber erfolgt.

Sowohl im ersten Richtlinienvorschlag vom 23.05.2001 als auch im geänderten Vorschlag vom 15.04.2003 war Art. 9 der RiLi 64/221/EWG inhaltlich insoweit noch übernommen worden. Nachfolgende Änderungsvorschläge des Europäschen Parlaments betrafen ebenfalls nicht die Abschaffung dieses Prinzips.

Die Abschaffung folgte nach Gemeinsamen Standpunkt des Rates im Herbst 2003 mit Zustimmung der Kommission (SEK/2003/1293 endg. - COD 2001/0111) mit folgender Begründung:

Ehemaliger Artikel 29 Absatz 2: Der Rat hat mit Zustimmung der Kommission die Streichung dieses Absatzes beschlossen. Mit der Bestimmung wurde der Inhalt von Artikel 9 der Richtlinie 64/221/EWG aufgegriffen, wonach die Mitgliedstaaten, bevor sie eine Ausweisungsentscheidung treffen, eine unabhängige Behörde konsultieren müssen, wenn der Aufnahmemitgliedstaat keine Rechtsmittel vorsieht oder die Rechtsmittel nur zur Überprüfung der Gesetzmäßigkeit der Entscheidung dienen oder keine aufschiebende Wirkung haben.

  • Da jedoch im gemeinsamen Standpunkt die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, stets vorzusehen, dass ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann (Art. 31 Abs. 1),
  • bekräftigt wird, dass sich dieser Rechtsbehelf auf den Sachverhalt und die Umstände beziehen muss (Art. 31 Abs. 2)
  • und die Aussetzung der Ausweisungsmaßnahme möglich ist (Art. 31 Abs. 3),

„ist der Rat im Einvernehmen mit der Kommission zu der Auffassung gelangt, dass dieser Absatz überflüssig ist“.


Zunächst ist festzustellen, dass eine Verschlechterung des Schutzmechanismus infolge der Richtlinie 2004/38/EG, die der Erleichterung der Ausübung der Rechte der Unionsbürger dient, nicht eingetreten ist.

Dies wäre bereits unzulässig gewesen. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat bereits mehrfach festgestellt, dass die Richtlinie 2004/ 38 gemäß ihrem dritten Erwägungsgrund u. a. bezweckt, das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken (vgl. Art. 18 EGV, jetzt Art. 21 Abs. 2 AEUV).
Dass der Rechtsschutz nunmehr strengeren Voraussetzungen zum Nachteil des Betroffenen unterläge, als für ihn vor Inkrafttreten der Richtlinie galt, hat der Gemeinschaftsgeber mit den nunmehr in Art. 31 geregelten Verfahrensgarantien jedoch auch nicht bezweckt.

Im Rechtsbehelfsverfahren sind gem. Art. 31 Abs. 3 UnionsbürgerRL die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Das Verfahren gewährleistet, dass die Entscheidung nicht unverhältnismäßig ist.

Die Maßnahme muss somit geeignet und erforderlich sein, außerdem dürfen die mit ihr verbundenen nachteiligen Folgen nicht außer Verhältnis zum Zweck der gesetzlichen Ermächtigung bzw. zum beabsichtigten Erfolg stehen
Vgl. jetzt auch Art. 52 Grundrechtecharta zur Tragweite der garantierten Rechte:

Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie notwendig sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

Strittig ist derzeit die Frage, ob die Verfahrensgarantien der Unionsbürgerrichtlinie auf türkische Assoziationsberechtigte Anwendung finden oder hier weiter die aufgehobenen Verfahrensregelungen des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG zur Anwendung gelangen müssen.

Der BayVGH hat mit einem Beschluss vom 12. Mai 2010 (Az. 19 C 09.2241) die weitere Anwendung dieser Vorschrift auf türkische Staatsangehörige Anwendung verneint.

"Die Verfahrensvorschrift des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG ist entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht wegen der so genannten Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 weiterhin anzuwenden, wonach die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß ist, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt (und damit zum Aufnahmestaat) einführen dürfen. Die Außerkraftsetzung des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG führt zu keiner Herabsetzung des Ausweisungsschutzes, weil die in Art. 31 der nunmehr geltenden Richtlinie 2004/38/EG enthaltenen Verfahrensgarantien nicht hinter der durch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG gewährten Verfahrensgarantie zurückbleiben (ebenso OVG Rheinland-Pfalz vom 19.2.2009 Az. 7 B 11328/08 -Juris; im Ergebnis ebenso BayVGH vom 13.11.2008 Az. 10 CS 08.2791 und 2793).

Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG gewährleistet, dass nicht nur die bescheiderlassende Behörde, sondern auch die - von dieser unabhängigen - Verwaltungsgerichte alle bei der Ausweisung zu berücksichtigenden Belange in die Überprüfung einbeziehen und sich nicht auf eine reine Rechtsprüfung beschränken. Aus Art. 9 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie 64/221/EWG ergibt sich, dass sie (abgesehen von der hier nicht inmitten stehenden Problematik des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens) diese Gewährleistung bezweckt hat (ebenso EuGH vom 18.10.1990 Slg. I 1990, 3763 RdNr. 65 f.). Die mit der Rechtsänderung einhergehenden geänderten behördlichen Beteiligungserfordernisse sind ohne Einfluss auf die Zugangsvoraussetzungen und stellen daher keine neue Zugangsbeschränkung im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 dar; dies verkennt die vom Kläger zitierte Literaturäußerung (Dienelt vom 12.4.2008 in www.mitgrationsrecht.net als Anlage zum Beschwerdeschriftsatz vom 17.4.2009 im Verfahren 19 CS 09.934)."

Hierzu wurde in migrationsrecht.net entgegnet, der BayVGH verkenne mit seinen Ausführungen, dass die Frage der Anwendbarkeit des Art. 9 RL 63/221/EWG nicht mit der Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 im Zusammenhang stehe, sondern ausschließlich die vom BVerwG und dem VGH Mannheim dem EuGH vorgelegte Frage betreffe, ob die Unionsbürgerrichtlinie überhaupt auf türkische Staatsangehörige Anwendung finde. Sofern diese Frage verneint würde, stehe zugleich fest, dass die bisherigen Verfahrensregelungen der Richtlinie 64/221/EWG weiterhin auf türkische Staatsangehörige angewendet werden müssten.

Zunächst ist anzumerken, dass in der Vorlagefrage des BVerwG 1 C 25.08 nicht maßgeblich war, ob „die Unionsbürgerrichtlinie“ Anwendung auf türkische Assoziationsberechtigte findet, sondern ob der ausschließlich an die Unionsbürgerschaft anknüpfende Ausweisungsschutz aus Art. 28 Abs. 3 UnionsbürgerRL übertragbar ist.
In diesem Verfahren war das Ausweisungsverfahren fehlerfrei unter Beachtung des "Vier-Augen-Prinzips" durchgeführt worden. Das BVerwG hatte hierzu angemerkt:

„In dem hier vorliegenden Fall wurde der Bescheid am 2. Mai 2006 und damit erst nach Aufhebung der Richtlinie 64/ 221/ EWG zum 30. April 2006 (Art. 38 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG) erlassen, so dass die Richtlinie 64/221/EWG sich selbst zu diesem Zeitpunkt keine Geltung mehr beimaß. Sollte der in Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG für Unionsbürger geregelte Ausweisungsschutz nicht auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen sein, stellt sich die Frage, ob Art. 9 der Richtlinie 64/ 221/ EWG auf diesen Personenkreis gleichwohl weiterhin anzuwenden ist oder stattdessen die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden, die das "Vier-Augen-Prinzip" abgelöst haben. Dieser Frage ist hier aber nicht nachzugehen, da im vorliegenden Fall ein Widerspruchsverfahren durchgeführt worden ist und das Vorverfahren nach §§ 68 ff. VwGO den in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/ 221/ EWG enthaltenen Verfahrensgarantien entspricht (Urteil vom 13. September 2005 BVerwG 1 C 7. 04 a. a. O.).“

BVerwG, B. v. 25. 8. 2009 - 1 C 25. 08 -, NVwZ 2010, 392

In der Rechtssache Dörr und Ünal hatte der EuGH die Verfahrensgarantien aus der Richtlinie 64/221 auf türkische Staatsangehörige, die Vergünstigungen aus Art. 6 und 7 des ARB 1/80 Türkei EWG erlangt haben übertragen und m.w.N. ausgeführt (Hervorh. durch Verf.):

Eine solche Auslegung ist gerechtfertigt durch das in Artikel 12 des Assoziierungsabkommens genannte Ziel, schrittweise die Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer herzustellen. Die sozialen Bestimmungen des Beschlusses Nr. 1/80 bilden einen weiteren Schritt zur Verwirklichung dieser Freiheit
Insbesondere Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 verleiht den türkischen Wanderarbeitnehmern, die seine Bedingungen erfüllen, präzise Rechte auf dem Gebiet der Ausübung einer Beschäftigung Nach ständiger Rechtsprechung verleiht diese Bestimmung, der unmittelbare Wirkung zuerkannt worden ist, ein individuelles Recht im Bereich der Beschäftigung und ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht.

Um effektiv zu sein, müssen diese individuellen Rechte von den türkischen Arbeitnehmern vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Damit die Wirksamkeit dieses gerichtlichen Rechtsschutzes gewährleistet ist, ist es unabdingbar, diesen Arbeitnehmern die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, und es muss ihnen somit ermöglicht werden, sich auf die in den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 64/ 221 vorgesehenen Garantien zu berufen. Diese Garantien sind nämlich, wie der Generalanwalt in Nummer 59 seiner Schlussanträge ausführt, untrennbar mit den Rechten verbunden, auf die sie sich beziehen.

Diese Auslegung gilt nicht nur für die türkischen Staatsangehörigen, denen die Rechtsstellung nach Artikel 6 des Beschlusses Nr. 1/ 80 zukommt, sondern auch für ihre Familienangehörigen, deren Stellung sich nach Artikel 7 dieses Beschlusses richtet. Es ist durch nichts gerechtfertigt, für diese Staatsangehörigen, die sich legal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, in Bezug auf die ihnen mit dem Beschluss Nr. 1/ 80 zuerkannten Rechte ein eigenständiges Schutzniveau vorzusehen, das hinter dem der Artikel 8 und 9 der Richtlinie 64/ 221 zurückbleibt. Denn wenn Artikel 14 Absatz 1 dieses Beschlusses den zuständigen nationalen Behörden nicht, wie der Gerichtshof bereits im Urteil Cetinkaya entschieden hat, Verfahrensgrenzen setzen würde, die denen entsprechen, die für eine gegenüber einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats getroffene Ausweisungsmaßnahme gelten, dann stünde es den Mitgliedstaaten völlig frei, die Ausübung der Rechte unmöglich zu machen, auf die sich türkische Staatsangehörige, die ein im Beschluss Nr. 1/ 80 eingeräumtes Recht besitzen, berufen können.

EuGH, U. v. 02.06. 2005 - C-136/ 03 -, Dörr und Ünal, Slg. 2005, I- 4759

An einer dynamischen Teilhabe an den durch die Unionsbürgerrichtlinie ersetzten Rechtsschutzgarantien dürften nach diesen Erwägungen des EuGH keine durchgreifenden Zweifel bestehen.

Ergänzend ist jedoch auch auf Art. 47 GRC zu verweisen, eine Regelung die Garantien für das Primär- und das Sekundärrecht der Europäischen Union gibt und nunmehr sichert, dass nicht nur eine wirksame Beschwerde bei nationalen Behörden gewährleistet ist, sondern ein wirksamer Rechtsbehelf vor den nationalen Gerichten einzuräumen ist.

Nach ständiger Rechtsprechung ist das innerstaatliche Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste

Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts wird der Konflikt zwischen einer Vorschrift des nationalen Gesetzes und einer unmittelbar anwendbaren Vertragsbestimmung für ein nationales Gericht dadurch gelöst, dass es das Gemeinschaftsrecht anwendet und die entgegenstehende nationale Vorschrift erforderlichenfalls unangewandt lässt, und nicht dadurch, dass es die Nichtigkeit der nationalen Vorschrift feststellt, wobei die betreffende Zuständigkeit der Behörden und Gerichte Sache des jeweiligen Mitgliedstaats ist.
In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Unvereinbarkeit einer später ergangenen Vorschrift des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht diese Vorschrift nicht inexistent werden lässt. In dieser Situation ist das nationale Gericht verpflichtet, diese Vorschrift unangewandt zu lassen, wobei diese Verpflichtung nicht die Befugnis der zuständigen nationalen Gerichte beschränkt, unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden Wegen diejenigen zu wählen, die zum Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht gewährten individuellen Rechte geeignet erscheinen.

Vgl. EuGH, U. v. 19.11.2009 - C-314/08 -, Filipiak, Slg. 2009, I-11049 Rdnr. 81 ff. m.w.N.

Anders als bei den Rechtsschutzgarantien verhält es sich bei spezifischen Regelungen, die am Fortbestand der Unionsbürgerschaft bzw. an der Eigenschaft des Familienangehörigen eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers anknüpfen.

So geht die Rechtsposition einer Assoziationsberechtigung nach gesicherter Rechtsprechung des EuGH bei Ausweisung gem. Art. 14 ARB unter.
In einem solchen Fall fehlt es beispielhaft im Ergebnis auch an Anknüpfungspunkten im Sinn von Art. 32 der Unionsbürgerrichtlinie in Hinblick auf eine zeitliche Befristung des Aufenthaltsverbots.
Diese bestimmt sich nach Erlöschen der Rechtsposition aus dem ARB 1/80 vielmehr nach den für Drittstaatsangehörige geltenden nationalen Bestimmungen.

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