Gesetz:
Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU)
Paragraph:
§ 7 Ausreisepflicht
Autor:
Maria Maximowitz
Stand:
Maximowitz in: OK-MNet-FreizügG/EU (31.12.2011)

III. Nationale Umsetzung (3)

1. Allgemeines

2. Entstehungsgeschichte

3. § 7 Abs. 1 Ausreisepflicht

a) Ausreisepflicht aufgrund Altausweisung
b) Ausreisepflicht aufgrund Verlustfeststellung bei Unionsbürgern
c) Widerruf und Rücknahme der Aufenthaltskarte Drittstaatsangehöriger
d) Ausreisefrist
e) Abschiebungsandrohung
f) Anordnung der sofortigen Vollziehung und Antrag gem. § 80 Abs. 5 VwGO
g) Maßgebliche Sach- und Rechtslage
h) Anwendung des Aufenthaltsgesetzes nach Verlustfeststellung

4. § 7 Abs. 2 Aufenthaltsverbot / Befristung der Sperrwirkung

 

 

3. § 7 Abs. 1 Ausreisepflicht

Grundsätzlich knüpft die Entstehung der Ausreisepflicht an die förmliche Feststellung des Nichtbestehens bzw. des Wegfalls der Freizügigkeitsberechtigung und bei Drittstaatsangehörigen zudem an den Widerruf bzw. die Rücknahme der Aufenthaltskarte an.

Hailbronner merkt zu § 7 Abs. 1 grundsätzlich an, dass anders als in § 6 Abs. 1 und § 5 Abs. 5 eine Bezugnahme auf das „Recht nach § 2 Abs, 1“ in § 7 Abs. 1 nicht erfolgt. Eine gesetzgeberisch bewusste Entscheidung erscheint für ihn zweifelhaft.
Im Ergebnis könne aus § 7 Abs. 1 jedoch abgeleitet werden, dass die Ausreisepflicht von Unionsbürgern - auch unabhängig von einer Angehörigkeit zu einer in § 2 Abs. 2 genannten Kategorie - ein förmliches Verfahren zum Nichtbestehen, Nicht-mehr-Bestehen oder zum Verlust in Anwendung gemeinschaftlicher Grundsätze über Einreise und Aufenthalt voraussetze. Dies stehe jedoch auch in Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH m.w.N.

Hailbronner, AuslR, Stand Oktober 2007

Zur Anwendung der gemeinschaftlichen Grundsätze unabhängig vom Aufenthaltsstatus des Unionsbürgers führt der EuGH zusammenfassend in der Rechtssache C-50/06 aus:

„Zunächst ist daran zu erinnern, dass der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C-84/99, Slg. 2001, I-6193, Randnrn. 30 und 31, sowie vom 15. März 2005, Bidar, C-209/03, Slg. 2005, I-2119, Randnr. 31).
Nach Art. 18 Abs. 1 EG hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Einem Angehörigen eines Mitgliedstaats, der im Aufnahmemitgliedstaat nicht kraft anderer Bestimmungen des EG-Vertrags oder seiner Durchführungsvorschriften ein Aufenthaltsrecht besitzt, kann dort bereits aufgrund seiner Unionsbürgerschaft in unmittelbarer Anwendung dieses Artikels ein Aufenthaltsrecht zustehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. September 2002, Baumbast und R, C-413/99, Slg. 2002, I-7091, Randnr. 84, und vom 7. September 2004, Trojani, C-456/02, Slg. 2004, I-7573, Randnr. 31).

Dieses Recht ist allerdings nicht uneingeschränkt. Art. 18 Abs. 1 EG bestimmt, dass es nur vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen besteht (vgl. insbesondere Urteile Trojani, Randnrn. 31 und 32, sowie vom 18. Juli 2006, De Cuyper, C-406/04, Slg. 2006, I-6947, Randnr. 36).

Unter den Beschränkungen und Bedingungen, die gemeinschaftsrechtlich vorgesehen oder zulässig sind, erlaubt die Richtlinie 64/221 den Mitgliedstaaten, Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit unter Einhaltung der in dieser Richtlinie sowie nach den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts vorgesehenen materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Garantien aus ihrem Hoheitsgebiet auszuweisen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Juli 2002, MRAX, C-459/99, Slg. 2002, I-6591, Randnrn. 61 und 62, sowie vom 31. Januar 2006, Kommission/Spanien, C-503/03, Slg. 2006, I-1097, Randnrn. 43 und 44).

Wie sich aus der Rechtsprechung ergibt, sind die Garantien der Richtlinie 64/221 hinsichtlich ihres persönlichen Anwendungsbereichs weit auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil MRAX, Randnr. 101). Die Mitgliedstaaten müssen alle Maßnahmen ergreifen, um jedem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, gegen den eine Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet ergangen ist, den Genuss des Schutzes zu gewährleisten, den die Bestimmungen der Richtlinie für ihn bedeuten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juni 2005, Dörr und Ünal, C-136/03, Slg. 2005, I-4759, Randnr. 49). Würden Unionsbürger, die sich nicht rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, von diesen materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Garantien ausgeschlossen, so verlören diese im Wesentlichen ihre praktische Wirksamkeit.

Diese Auslegung wird durch das Urteil MRAX bestätigt, in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass sich ein Angehöriger eines Drittstaats, der Familienmitglied eines Gemeinschaftsangehörigen ist, die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt aber nicht erfüllt, auf die verfahrensrechtlichen Garantien der Richtlinie 64/221 berufen können muss.

Folglich ist eine Auslegung, der zufolge die Bestimmungen der Richtlinie 64/221 nur auf Unionsbürger anzuwenden sind, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar.“

EuGH, U. v. 07.06.2007 - C-50/06 - Komm/Niederlande, Slg. 2007, I-4383

a) Ausreisepflicht aufgrund Altausweisung

Nach Rechtsprechung des BVerwG v. 04.09.2007 bleiben „Altausweisungen“ von Unionsbürgern und die daran anknüpfenden gesetzlichen Sperrwirkungen auch nach dem Inkrafttreten des FreizügG/EU am 1. Januar 2005 wirksam.

Intertemporal stehe der Verlustfeststellung gemäß § 6 FreizügG/EU der auf einer bestandskräftigen Ausweisung beruhende Verlust des Freizügigkeitsrechts gleich; denn die Rechtswirkungen der beiden Rechtsakte entsprächen sich. Demzufolge finde das Aufenthaltsgesetz einschließlich der Übergangsvorschrift des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch auf zuvor ausgewiesene Unionsbürger Anwendung (so im Ergebnis auch OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 305; VGH Mannheim, InfAuslR 2007, 182; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, II-§ 102 Rn. 2; Groß, ZAR 2005, 81 ; Lüdke, InfAuslR 2005, 177 ).

Ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens mit dem Ziel eines ex nunc wirkenden Widerrufs der Ausweisung auf der Grundlage von §§ 49, 51 VwVfG wurde verneint.
Zu dem Verhältnis des Widerrufs einer Ausweisung und der Befristung ihrer Wirkungen habe der Senat entschieden, dass ein Rückgriff auf die allgemeine Vorschrift des § 49 VwVfG jedenfalls dann ausscheidet, wenn es um die Berücksichtigung von Sachverhaltsänderungen gehe, die für den Fortbestand des Ausweisungszwecks erheblich sind. In diesen Fällen komme auch ein Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nicht in Betracht. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens; denn mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 habe sich die Rechtslage nicht zu seinen Gunsten geändert. Eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liege nur vor, wenn die für den Verwaltungsakt maßgeblichen Rechtsnormen, also dessen entscheidungserhebliche rechtliche Grundlagen, nachträglich geändert werden. Dies verneinte das BVerwG und führte aus:

„Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung vom 11. September 1995 fortbestehen. Das ergibt sich aus der Übergangsvorschrift des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, wonach u.a. die vor dem 1. Januar 2005 getroffenen Ausweisungen einschließlich ihrer Rechtsfolgen wirksam bleiben. Die Materialien zu dieser Regelung belegen den Willen des Gesetzgebers, dass die durch eine „Altausweisung“ ausgelösten gesetzlichen Verbote aus § 8 Abs. 2 AuslG 1990 fortwirken (so die Begründung des Regierungsentwurfs, BTDrucks 15/420 S. 100). Das gilt nicht nur für Ausländer aus Nicht-EU-Staaten (Drittstaater); denn § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU sieht im Anschluss an eine Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU, die an die Stelle der Ausweisung von Unionsbürgern getreten ist, ebenfalls ein Einreise- und Aufenthaltsverbot vor. Anders als bei der in § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU nicht genannten Abschiebung begegnet deshalb die Fortgeltung der an die Ausweisung eines Unionsbürgers geknüpften Sperrwirkungen unter dem Aspekt einer nicht gerechtfertigten intertemporalen Ungleichbehandlung keinen Bedenken.

Demgegenüber ist die Revision der Auffassung, § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG könne auf Unionsbürger nicht angewendet werden, weil die Vorschrift in dem als abschließend anzusehenden Katalog des § 11 Abs. 1 FreizügG/EU nicht genannt sei (so auch OVG Berlin-Brandenburg, InfAuslR 2006, 259; Gutmann, InfAuslR 2005, 125 ). Dem folgt der Senat nicht. Zwar findet das Aufenthaltsgesetz auf Unionsbürger grundsätzlich keine Anwendung; denn § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG verweist auf § 1 FreizügG/EU, der zur Bestimmung des Anwendungsbereichs des Freizügigkeitsgesetzes/EU allein an dem formalen Status des Unionsbürgers (und dessen Familienangehörigen) anknüpft. Indes greift an dieser Stelle die Rückverweisung des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU, nach der mangels besonderer Regelung des Freizügigkeitsgesetzes/EU das Aufenthaltsgesetz anzuwenden ist, wenn die Ausländerbehörde u.a. den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt festgestellt hat.“

Der Senat bestätigte im Weiteren einen Befristungsanspruch auf der Grundlage von § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU.
„Mit Blick auf die in § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG getroffene Übergangsregelung werden von dieser Anspruchsgrundlage in sinngemäßer Anwendung auch die fortwirkenden Rechtsfolgen der Ausweisung eines Unionsbürgers erfasst. § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU betrifft als Sonderregelung im Sinne des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU nicht (mehr) freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger, zu denen wie bereits ausgeführt auch der Kläger zählt.“

BVerwG, U. v. 04.09.2007 - 1 C 21.07 -, AuAS 2007, 258

Zum Rücknahmeermessen führte das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 23.10.2007 aus, dass das in § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnete Rücknahmeermessen belege, dass ein zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führender Rechtsverstoß nur eine notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für die Rücknahme und einen darauf zielenden Anspruch des Betroffenen bilde. Der Gesetzgeber räume bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Facetten des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stünden vielmehr gleichberechtigt nebeneinander, sofern dem anzuwendenden Fachrecht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen sei. Es gebe keinen Grund für die Annahme, das Ermessen bei der Entscheidung über die Rücknahme einer Ausweisung erweise sich durch die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes bzw. des Freizügigkeitsgesetzes/ EU nach Sinn und Zweck als positiv intendiert.

Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit bestehe aber ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" erscheine, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhänge.
Das BVerwG folgt hier seiner ständigen Rechtsprechung, vgl. U. v. 27.01.1994 - BVerwG 2 C 12.92 - BVerwGE 95, 86 = Buchholz 316 § 51 NwVfG Nr. 31, S. 7, U. v. 17.01.2007 - BVerwG 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709 ff., U. v. 20.03.2008 - BVerwG 1 C 33.07 - Buchholz 402.242 § 54 AufenthG Nr. 5, jeweils m.w.N., stRspr).

Das Festhalten an dem Verwaltungsakt sei insbesondere dann "schlechthin unerträglich", wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoße oder wenn Umstände gegeben seien, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen.
Ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht war im entschiedenen Fall wegen der nach wie vor ungeklärten Freizügigkeitsberechtigung des Klägers im Zeitpunkt der Ausweisung weder gesichert, geschweige denn evident. Auch im Hinblick auf die neue Rechtsprechung des Senats zur Abgrenzung von Regel- und Ausnahmefall hat sich der Verstoß der Ausweisung gegen nationales Recht im Zeitpunkt der Ausweisung nicht aufgedrängt.
Weiter führte das BVerwG aus:

„Diese Grundsätze werden - die Freizügigkeitsberechtigung des Klägers und einen Verstoß der Ausweisung gegen Gemeinschaftsrecht zu seinen Gunsten unterstellt - durch Gemeinschaftsrecht nicht modifiziert. Der Europäische Gerichtshof respektiert die Bestandskraft eines Verwaltungsakts als Ausprägung der Rechtssicherheit, die zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundsätzen zählt (EuGH, Urteil vom 13. Januar 2004 - C-453/ 00 - Kühne & Heitz - NVwZ 2004, 459 Rn. 24). Die in der zitierten Entscheidung vom Gerichtshof entwickelten Voraussetzungen eines Rücknahmeanspruchs im Anschluss an eine rechtskräftige, die Vorlagepflicht verletzende letztinstanzliche Gerichtsentscheidung sind mangels Anfechtung der Ausweisung durch den Kläger offensichtlich nicht gegeben. Damit verbleibt es bei den nationalen Aufhebungsregelungen, die sich aber am Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip messen lassen müssen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. September 2006 - C-392/ 04 und C-422/ 04 - Germany GmbH und Arcor AG - NVwZ 2006, 1277 Rn. 57, 58, 62). Das Äquivalenzprinzip als besonderes Diskriminierungsverbot ist schon deshalb nicht verletzt, weil bei der Rücknahme gemäß § 48 LVwVfG nicht danach unterschieden wird, ob die Ausweisung wegen eines Verstoßes gegen nationales Recht oder Gemeinschaftsrecht rechtswidrig war. Auch das Effektivitätsprinzip zwingt nicht zur Zubilligung eines Rücknahmeanspruchs. Angesichts der Anfechtungsmöglichkeit der Ausweisung binnen eines Monats ist nicht ersichtlich, dass dem Kläger die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert worden wäre.“

BVerwG U. v. 23.10.2007 - 1 C 10.07 -, BVerwGE,129, 367

Der EuGH hatte mit Urteil vom 13. Januar 2004 - C-453/ 00 - Kühne & Heitz - NVwZ 2004, 459 Rn. 24, auf das das BVerwG Bezug genommen hatte, grundlegend geurteilt, dass eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen sei, um der mittlerweile vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen, wenn

  • die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen,
  • die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz (Anm. zur letzten Instanz vgl. Vorlageverpflichtung) entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist,
  • das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofes zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Artikels 234 Absatz 3 EG erfüllt war,
  • und der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofes erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat.

EuGH, U. v. 13.01.2004 - C-453/00 -, Kühne & Heitz , Slg. 2004, I- 837

In zwei weiteren Entscheidungen zu rechtskräftig gewordenen Ausweisungen urteilte das BVerwG:

  • Der Rücknahme einer rechtskräftig gerichtlich bestätigten Ausweisung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG steht die Rechtskraftbindung des § 121 VwGO entgegen.
  • Weder die Klärung einer gemeinschaftsrechtlichen Frage durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft (EuGH) und eine hierauf beruhende Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch die zwischenzeitliche Konkretisierung der Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverfassungsgerichts stellen nach § 51 Abs. 1 LVwVfG einen zwingenden Grund für das Wiederaufgreifen eines Ausweisungsverfahrens dar.
  • Liegt kein zwingender Wiederaufnahmegrund vor, kann die Behörde das Verfahren nach § 51 Abs. 5 LVwVfG i. V. m. §§ 48, 49 LVwVfG im Ermessenswege wiederaufgreifen (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). In diesem Fall verdichtet sich das (Wiederaufgreifens-) Ermessen zu einem Anspruch des Betroffenen, wenn die Aufrechterhaltung der Ausweisung, etwa wegen offensichtlicher Fehlerhaftigkeit des sie bestätigenden gerichtlichen Urteils, schlechthin unerträglich wäre oder wenn die Überprüfung der Ausweisungsverfügung nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gemeinschaftsrechtlich geboten ist.

BVerwG, U. v. 22. 10. 2009 - 1 C 26. 08 -, NVwZ 2010, 652

  • Eine Durchbrechung der Rechtskraft im Wege des Wiederaufgreifens nach § 51 Abs. 5 LVwVfG in Verbindung mit §§ 48, 49 LVwVfG erfordert zunächst eine Positiventscheidung der Behörde zum Wiederaufgreifen (Stufe 1). Erst wenn eine solche Entscheidung getroffen ist, wird der Weg für eine erneute Sachentscheidung eröffnet (Stufe 2). Auf dieser zweiten Stufe ist die Behörde nicht auf die in § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG und § 49 Abs. 1 LVwVfG normierten Möglichkeiten der Aufhebung des Verwaltungsakts ex tunc oder ex nunc beschränkt, sondern sie hat zu entscheiden, ob der Verwaltungsakt zurückgenommen, geändert oder im Wege eines Zweitbescheids bestätigt werden soll.
  • Die Behörde handelt im Fall einer rechtskräftig bestätigten Ausweisung grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie ein Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 5 LVwVfG in Verbindung mit §§ 48, 49 LVwVfG im Hinblick auf die rechtskräftige Bestätigung ihrer Entscheidung ablehnt. In diesen Fällen bedarf es regelmäßig keiner weiteren ins Einzelne gehenden Ermessenserwägungen.
  • Die in § 51 Abs. 3 LVwVfG geregelte Antragsfrist für die Geltendmachung von Wiederaufnahmegründen bezieht sich nur auf die in § 51 Abs. 1 LVwVfG geregelten Tatbestände, nicht hingegen auf ein Wiederaufgreifen im Ermessensweg nach § 51 Abs. 5 LVwVfG.

BVerwG, U. v. 22. 10. 2009 - 1 C 15. 08 -, NVwZ 2010, 656


Die Rechtsprechung bei „fehlender Identität des prozessualen Anspruchs“, hier Klage auf Rücknahme der Ausweisung nach Abweisung einer Anfechtungsklage zusammenfassend OVG Hamburg:

„Gemäß § 121 Nr. 1 VwGO kann auch bei fehlender Identität der Streitgegenstände eine Bindungswirkung eintreten (BVerwG, Urt. v. 10.5.1994, BVerwGE 96, 24, 26). Dies ist der Fall, wenn die rechtskräftige Aberkennung eines prozessualen Anspruchs für einen anderen prozessualen Anspruch, der zwischen denselben Beteiligten streitig ist, vorgreiflich ist (BVerwG, Beschl. v. 13.2.2007, 2 B 65/06, NVwZ 2007, 844, 845; Urt. v. 10.5.1994, BVerwGE 96, 24, 26). Mit der Regelung des § 121 VwGO soll verhindert werden, dass die aus einem festgestellten Tatbestand hergeleitete Rechtsfolge, über die in einem Urteil entschieden worden ist, bei unveränderter Sach- und Rechtslage erneut – mit der Gefahr unterschiedlicher Ergebnisse – zum Gegenstand eines Verfahrens zwischen denselben Beteiligten gemacht wird (BVerwG, Urt. v. 24.11.1998, BVerwGE 108, 30, 33 m.w.N.; Urt. v. 5.11.1985, Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 18; Urt. v. 30.8.1962, BVerwGE 14, 359, 362; VGH Mannheim, Urt. v. 30.4.2008, 11 S 759/06, VBlBW 2009, 32, 34; OVG Münster, Beschl. v. 6.12.2007, InfAuslR 2008, 103, 104). Eine Vorgreiflichkeit der rechtskräftigen Vorentscheidung ist immer dann gegeben, wenn sie nach dem Umfang ihrer Rechtskraft ein Element liefert, das nach den einschlägigen materiell-rechtlichen Normen des zweiten Rechtsstreits notwendig ist, um die in diesem Prozess beanspruchte Rechtsfolge zu begründen (BVerwG, Urt. v. 31.1.2002, BVerwGE 116, 1, 3; VGH Mannheim, Urt. v. 30.4.2008, 11 S 759/06, VBlBW 2009, 32, 34). Mit der Abweisung einer Anfechtungsklage als unbegründet ist zugleich mit einer der Rechtskraft fähigen Wirkung festgestellt, dass der angefochtene Verwaltungsakt Rechte des Klägers nicht verletzt (Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., 2007, § 121 Rdn. 21; Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 121 Rdn. 70). Begehrt er anschließend die Rücknahme dieses Verwaltungsakts, steht diesem Begehren die Rechtskraft des Urteils entgegen (VGH Mannheim, Urt. v. 18.6.2008, 13 S 2809/07, VBlBW 2009, 73; OVG Lüneburg, Beschl. v. 6.9.2002, 8 LA 126/02, juris).

Das ist hier der Fall. Der Kläger ist mit seinem gegen die Ausweisung gerichteten Anfechtungsbegehren unterlegen. Nach den tragenden Gründen der Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 15. Mai 2000 ist die Feststellung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung in materielle Rechtskraft erwachsen. Das Verwaltungsgericht hat in dieser Entscheidung seinen Aufhebungsantrag mit der die Entscheidung tragenden materiell-rechtlichen Begründung abgelehnt, dass die angefochtenen Bescheide der Beklagten rechtmäßig ergangen sind. Dementsprechend nimmt auch die in der Abweisung der Anfechtungsklage des Klägers liegende Feststellung in dem Urteil des Verwaltungsgerichts, dass die Ausweisung vom 30. April 1999 rechtmäßig ist, an der präjudiziellen Wirkung dieses Urteils für den jetzt geltend gemachten Anspruch auf Rücknahme teil. Auch das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass die Rechtskraft eines Urteils, mit dem die Anfechtungsklage gegen eine Ausweisungsverfügung abgewiesen wurde, ihrer Rücknahme entgegen steht. In seinem Urteil vom 23. Oktober 2007 (BVerwGE 129, 367, 370) hat es insoweit (allerdings nicht tragend) ausgeführt, dass § 121 VwGO einer gerichtlichen Inzidentprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung im Rahmen der landesrechtlichen Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG nicht entgegenstehe, weil sie der Kläger nicht angefochten habe.

2. Nach den Grundsätzen des nationalen Rechts entfällt die Rechtskraftwirkung hier nicht.

a) Der Rechtskraftwirkung steht nicht entgegen, dass – was hier unterstellt werden kann - sich das klagabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts vom 15. Mai 2000 unter Berücksichtigung der danach ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Rechtmäßigkeit der Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger (Urt. v. 29.4.2004 Rs. C-482/01 und Rs. C-493/01, Orfanopoulos und Oliveri, Slg. 2004, I-5257, DVBl. 2004, 876 ff.) sowie assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger (Urt. v. 11.11.2004 Rs. C-467/02, Cetinkaya, Slg.2004, I-10895) und der hierauf basierenden Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu türkischen Staatsangehörigen, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB Nr. 1/80 besitzen (BVerwG, Urteile v. 3.8.2004, BVerwGE 121, 297 ff. und 315 ff.), nachträglich als unrichtig erweist. Die in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts getroffene Feststellung, dass die Ausweisung des Klägers rechtmäßig ist, bleibt auch dann maßgeblich, wenn sie rechtswidrig ist. Die materielle Bindungswirkung des § 121 VwGO tritt unabhängig davon ein, ob das rechtskräftige Urteil die Sach- und Rechtslage zutreffend gewürdigt hat (BVerwG, Urt. v. 31.7.2002, Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 85; Urt. v. 24.11.1998, BVerwGE 108, 30, 33; v. 8.12.1992, BVerwGE 91, 256, 259; Beschl.v. 19.3.1990, Buchholz 406.11 § 127 BBauG/BauGB Nr. 60). Denn die spätere höchstrichterliche Klärung einer Sach- oder Rechtsfrage abweichend von dem früheren rechtskräftigen Urteil begründet keine Änderung der Sach- oder Rechtslage, die eine Lösung von der Rechtskraftbindung rechtfertigen könnte (BVerwG, Urt. v. 31.7.2002, Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 85; Urt. v. 19.10.1967, BVerwGE 28, 122, 126; VGH Mannheim, Urt. v. 30.4.2008, VBlBW 2009, 32, 34). Behörden und Gerichte, die über das Bestehen eines solchen anderen Anspruchs entscheiden, müssen die vorgreifliche rechtskräftige Entscheidung ohne nochmalige Prüfung zugrunde legen. Die Wirkung der Rechtskraft auf nachfolgende Verfügungen derselben Behörde gegenüber demselben Betroffenen rechtfertigt sich aus dem Sinn der Rechtskraft, dem Rechtsfrieden zu dienen und das Vertrauen in die Beständigkeit des Rechts zu schützen (BVerwG, Urt. v. 8.12.1992, BVerwGE 91, 256, 258).“

OVG Hamburg, U. v. 14.05.2009 - 4 Bf 185/07 -, DÖV 2009, 776

Der VGH BW führt zur Bindungswirkung des § 121 VwGO aus:

Die Rechtskraft dient den objektiven Belangen des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit. Neue Verfahren und widerstreitende gerichtliche Entscheidungen über dieselbe Streitsache sollen verhindert werden. Dabei wird die Möglichkeit, dass infolge der Rechtskraft eine unrichtige Entscheidung maßgeblich bleibt, grundsätzlich geringer gewertet als die Rechtsunsicherheit, die ohne die Rechtskraft bestehen würde. Die Rechtskraftwirkung des § 121 VwGO tritt unabhängig davon ein, ob das rechtskräftige Urteil die Sach- und Rechtslage zutreffend gewürdigt hat oder nicht (BVerwG, Urteil vom 8.12.1992, a.a.O. m.w. Nachw., Urteil vom 31.7.2002 - 1 C 7.02 - NVwZ 2003 Beilage I 1, 1-2). Dient die Rechtskraft hiernach primär den objektiven Belangen des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit und der Vermeidung widerstreitender gerichtlicher Entscheidungen, ist nicht erklärbar, weshalb ein Beteiligter die Befugnis haben sollte, über diese ihm nicht zustehende Belange zu verfügen. Erst recht gilt dies dann, wenn wie hier die Behörde (bzw. deren Träger) von der Rechtskraft begünstigt wäre. Denn die Verwaltung ist an das geltende Recht gebunden und kann daher nicht nach Belieben auf die Wirkungen der Rechtskraft für den Folgeprozess verzichten (vgl. Maurer, JZ 1993, 574; s. auch Erfmeyer, DVBl. 1997, 27).
VGH BW, U. v. 18.06.2008 - 13 S 2809/07 -, VBlBW 2009, 73


Die 2004 geübte Verwaltungspraxis zu Altausweisungen gegenüber Staatsangehörigen aus den Beitrittsstaaten

Anlässlich der anstehenden EU-Osterweiterung wurden 2004 nach Bund/Länder Austauschen in Hinblick auf offene Fragen im Zusammenhang mit der EU-Erweiterung zunächst aufgrund der Unzulässigkeit der Speicherung von Unionsbürgern im Schengener Informationssystem (SIS) eine generelle Löschung der Speicherungen zum 01.05.2004 veranlasst.

Unter Hinweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 07.12.1999 (InfAuslR 2000, S. 176 ff.) die Fortwirkung von Einreisesperren, die im Rahmen von Befristungsentscheidungen geregelte Antragsgebundenheit und das Erfordernis einzelfallbezogener Prüfungen wurde zunächst eine behördeninternen Prüfung, bei der eine Bereinigung des nationalen Fahndungs- und Datenbestandes in Anpassung der geänderten Situation vorgenommen werden sollte, veranlasst.

In Hinblick auf die hohen gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen, die an aufenthaltsbeendende Maßnahmen gestellt werden, standen sicherheitspolitische Bedenken gegen die Löschung von Ermessensausweisungen im Fahndungsbestand grundsätzlich nicht entgegen. Zur Vereinfachung wurde unterstellt, dass alle Ausweisungen auf Grundlage von §§ 45, 46 AuslG zu befristen sind. Aufgrund besonderer Gefährlichkeit ergangene Ausweisungen gem. § 47 AuslG, auch soweit sie aufgrund erhöhten Ausweisungsschutzes zu Ermessensentscheidungen herabgestuft worden sind, sollten in den Datenbanken bleiben und nur auf Antrag der Betroffenen oder wenn sich die Behörde aus anderen Gründen mit der Angelegenheit zu befassen hat geprüft und ggf. gelöscht werden.
Eine Aufhebung der ursprünglich ergangenen Ausweisungsverfügung war nicht Ziel der Maßnahme. Festgehalten wurde daran, dass bestandskräftige Verwaltungsakte bestehen bleiben. Dies ergebe sich aus allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätzen. Die Ausweisungen und Einreisesperren bestünden als Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit fort, eine ausdrückliche Überleitung sei nicht erforderlich.

Literatur und Rechtsprechung wandten sich zeitig der Frage nach dem Fortbestand der Rechtswirkungen bestandskräftig gewordener Altausweisungen zu.

Gegen eine Fortwirkung bzw. auch Unzulässigkeit einer Vollziehung aus erlassenen Ausweisungsverfügungen vgl. u.a. OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 15.03.2005 - 8 S 123/05 -, InfAuslR 2006, 259, Gutmann, InfAuslR 2005, 125u. InfAuslR 2008, 105.OLG Hamburg, B. v. 21.11.2005 - 1 Ws 212/05 -, InfAuslR 2006,119, LG Traunstein, B. v. 11.08.2005 - 4 T 2988/05 - , HessVGH (bei noch nicht bestandskräftigen Ausweisungen) B. v. 29.12.2004 - 12 TG 3212/04 -, InfAuslR 2005, 130.

Demgegenüber hielten an der Fortgeltung der Wirkungen bestandskräftiger Ausweisungen fest VGH Mannheim, U. v. 24.01.2007 - 13 S 451/06 -, ZAR 2007,105, Groß, ZAR 2005, 81 ff., VG Ansbach, U. v. 16.10.2007 - AN 19 K 07.01654- , VG Augsburg, U. v. 03.07.2007 - Au 1 K 06.776 -, VG München, B. v. 31.10.2008 - M 4 S 08.4332 -, OVG Hamburg, B. v. 14.12.2005 - 3 Bs 79/05-, ZAR 2006, 255, Nds. OVG B. v. 13.08.2009 - 8 LA 105/09 -, lto.de Kurzinf, VGH BW U. v. 24.01.2007 - 13 S 451/06-, InfAuslR 2007, 182 OVG RP, U. v. 08.02.2007 -7A 11318/06 -, InfAuslR 2007, 226, Welte, ZAR 2010, 389 u.a.


Speziell zu Staatsangehörigen aus den neuen Beitrittsstaaten vertraten Westphal/Stoppa die Auffassung, dass Sperrwirkungen aufgrund von Ausweisungen, die ohne Berücksichtigung des EU-Rechts erfolgt seien, nach einem „Statuswechsel“ hin zum Unionsbürger keinen Bestand haben könnten (Westphal/Stoppa, InfAuslR 2004, 133 ff.)

Westphal/Stoppa, Ausländerrecht für die Polizei, 3. Aufl. 2007, S. 477:

„Insb. bei Ausweisungen und Abschiebungen von Unionsbürgern der Beitrittstaaten vor dem 01.05.2004 und 01.01.2007 wurde das vorrangige EU-Recht nicht beachtet. Es war auch zu dem Zeitpunkt vor dem Beitritt nicht notwendig. Deshalb kann nicht ernsthaft davon ausgegangen werden, dass die (unwirksamen) Wiedereinreisesperren gem. § 8 II S. 1 AuslG 1990 seit dem Beitritt am 01.05.2004 weitergelten. Dies wird allerdings aus sicherheitspolitischen Gründen anders beurteilt, insb. um die AZR- und Fahndungsausschreibungen aufrechterhalten zu können.
(Fn. s. Erlass des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen v. 31.3.2004 – 15.05/17-2- (Eu-Osterweiterung).“

Bereits am 22. März 2005 hatte das OVG Hamburg im Verfahren 3 Bf 294/04 geurteilt, dass mit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU am 1. Januar 2005 die Sperrwirkungen von Ausweisungen, die vor diesem Zeitpunkt gegenüber gemeinschaftsrechtlich Freizügigkeitsberechtigten verfügt und bestandskräftig geworden sind, nicht entfallen sind. Das Gericht, das ausdrücklich auch einen Statuswechsel in den Blick nahm, argumentierte (Hervorh. durch Verf.):

„Die Sperrwirkungen einer nach dem Ausländergesetz (1990) verfügten und bestandskräftig gewordenen Ausweisung gelten vielmehr gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 1 Sätzen 1 und 2 AufenthG (§ 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG 1990), solange sie nicht aufgehoben sind, auch gegenüber denjenigen Ausländern fort, die von einem Freizügigkeitsrecht nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts Gebrauch machen wollen (vgl. zum bisherigen Recht BVerwG, Urt. v. 7.12.1999, BVerwGE Bd. 110 S. 140, 149). Dem steht nicht entgegen, dass § 11 Abs. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) nicht auf die Übergangsvorschrift des § 102 AufenthG verweist. Aus dem Fehlen einer solchen Verweisung ist nicht der Schluss zu ziehen, der deutsche Gesetzgeber habe die Sperrwirkungen sämtlicher gegenüber den Unionsbürgern und sonstigen Freizügigkeitsberechtigten (bzw. gegenüber denjenigen Ausländern, die erst nach Bestandskraft der Ausweisungsverfügung zu Unionsbürgern oder zu deren Familienangehörigen geworden sind) nach dem Ausländergesetz 1990 (i.V.m. § 12 AufenthG/EWG) verfügter und vor dem 1. Januar 2005 bestandskräftig gewordener Ausweisungen mit dem Ablauf des 31. Dezember 2004 gegenstandslos werden lassen wollen. Die amtliche Begründung zum Entwurf des Freizügigkeitsgesetzes/EU lässt eine solche Absicht nicht erkennen (vgl. BT-Drucks. 15/420, S. 101 ff., 105 f.). Ein derartiges Regelungsziel würde auch durch das Gemeinschaftsrecht nicht nahegelegt (vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen unter "b"). Es widerspräche zudem der in § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU verkörperten Wertung: Danach dürfen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die ihr Freizügigkeitsrecht nach § 6 Abs. 1 oder Abs. 3 FreizügG/EU verloren haben, (vor dem Ablauf der dazu gesetzten Frist) nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen oder sich darin aufhalten. Angesichts dessen wäre es ein Wertungswiderspruch, wenn - trotz im wesentlichen identischer Maßstäbe im alten und neuen Recht, vgl. § 12 AufenthG/EWG und § 6 FreizügG/EU - diejenigen Ausweisungen, die bis zum 31. Dezember 2004 auf der Grundlage des bis dahin geltenden Rechts verfügt und bestandskräftig geworden sind, ohne Rücksicht auf Sperrfristen und ohne Notwendigkeit einer neuen Prüfung mit dem Inkrafttreten des neuen Rechts gegenstandslos würden, obwohl auch § 6 FreizügG/EU bei schweren und gegenwärtigen Gefährdungen der öffentlichen Ordnung den Verlust des Freizügigkeitsrechts vorsieht.

Soweit die Kläger unter Hinweis auf die vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern vom 22. Dezember 2004 (Nr. 11.1.1.2 zum Aufenthaltsgesetz) geltend machen, die Rechtsgrundlage für das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach einer Ausweisung sei nach dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nunmehr § 11 Abs. 1 AufenthG, der aber gegenüber Unionsbürgern und deren Familienangehörigen gemäß § 11 Abs. 1 FreizügG/EU nicht anwendbar sei, ergibt sich auch daraus nicht, dass mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes die Sperrwirkung der gegenüber dem Kläger zu 1) verfügten Ausweisung und Abschiebung entfallen wäre. Die fehlende Anwendbarkeit von § 11 Abs. 1 AufenthG auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen beruht darauf, dass nunmehr für diesen Personenkreis eine speziellere Regelung über das Einreise- und Aufenthaltsverbot für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen und über die Befristung dieses Verbots in § 7 Abs. 2 FreizügG/EU geschaffen worden ist, die der allgemeinen Bestimmung des § 11 Abs. 1 AufenthG vorgeht (vgl. die oben genannten vorläufigen Anwendungshinweise, Nr. 11.1.1.2 Satz 2). Diese neue Regelung bezieht sich jedoch nur auf diejenigen Fälle, in denen die betreffenden Personen "ihr Freizügigkeitsrecht nach § 6 Abs. 1 oder Abs. 3 (FreizügG/EU) verloren haben", was voraussetzt, dass ihnen gegenüber auf der Grundlage des seit dem 1. Januar 2005 geltenden Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt worden ist, dass sie ihr Freizügigkeitsrecht verloren haben. Die noch vor Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU auf der Grundlage des Ausländergesetzes 1990 verfügten und bestandskräftig gewordenen Ausweisungen fallen nicht darunter, so dass es in diesen Fällen weiterhin keine gegenüber § 11 Abs. 1 AufenthG speziellere Regelung gibt und es bei dessen Anwendbarkeit auch gegenüber Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen bleibt.
Die Anwendung von § 11 Abs. 1 AufenthG ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU die Vorschriften in § 11 Abs. 1 AufenthG nicht für entsprechend anwendbar erklärt. Weil die Sperrwirkungen der Ausweisung nicht mit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU entfallen sind, sondern fortbestehen, § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU indes für Ausweisungen auf der Grundlage des alten Rechts nicht einschlägig ist, besteht eine Gesetzeslücke. Diese ist im Hinblick auf die erforderliche Anspruchsgrundlage für eine Befristung durch die Anwendung von § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu schließen. Dem entspricht die in § 11 Abs. 2 FreizügG/EU verkörperte gesetzliche Wertung: Danach findet, wenn die Ausländerbehörde den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 oder § 2 Abs. 5 FreizügG/EU festgestellt hat, das Aufenthaltsgesetz Anwendung, sofern das Freizügigkeitsgesetz/EU keine besonderen Regelungen trifft. Auch wenn in Fällen der hier vorliegenden Art die Ausländerbehörde nicht den Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt, sondern noch eine Ausweisung nach dem Ausländergesetz 1990 verfügt hat, handelt es sich doch gleichermaßen um Fälle der Einschränkung des Freizügigkeitsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung. Dann ist das Aufenthaltsgesetz anzuwenden, sofern - wie in den Fällen der fortbestehenden Sperrwirkungen von Ausweisungen nach altem Recht - das Freizügigkeitsgesetz/EU keine besonderen Regelungen trifft. Dem entspricht es, dass § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU die Regelung in § 11 Abs. 2 AufenthG über die Betretenserlaubnis für entsprechend anwendbar erklärt, die voraussetzt, dass ein (ggf. auch nach dem Ausländergesetz 1990 begründetes) Einreise- und Aufenthaltsverbot fortdauert.

b) Die Sperrwirkungen der Ausweisung und Abschiebung des Klägers zu 1) sind zum anderen nicht kraft Gemeinschaftsrechts mit dem Entstehen eines Freizügigkeitsrechts in seiner Person gleichsam automatisch weggefallen. Der von den Klägern zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, nach der bei Unionsbürgern bzw. ihren Familienangehörigen vor oder bei der Einreise nicht zu prüfen ist, ob und ggf. welches Freizügigkeitsrecht sie für einen Aufenthalt in dem betreffenden Mitgliedstaat in Anspruch nehmen wollen (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 1991, C - 68/89, EuGHE 1991 S. I - 2637 ff.; Urteil vom 25.7.2002, C - 459/99, InfAuslR 2002 S. 417 ff. - MRAX), lässt sich eine solche Rechtsfolge nicht entnehmen. Diese Rechtsprechung betrifft nicht die Fallgruppe von Unionsbürgern (oder deren Familienangehörigen), die hinsichtlich eines bestimmten Mitgliedstaats infolge einer von diesem verfügten, gemeinschaftsrechtlich wirksamen Ausweisung mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot belegt sind. In solchen Fällen hat der Ausgewiesene nach dem Gemeinschaftsrecht zwar die Möglichkeit, nach einem den Umständen entsprechend angemessenen Zeitraum einen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots unter Hinweis darauf zu stellen, dass eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist, die das Aufenthaltsverbot gerechtfertigt haben. Jedoch sieht das Gemeinschaftsrecht keinen Anspruch des Ausgewiesenen vor, in den betreffenden Mitgliedstaat wieder einzureisen, solange sein Antrag auf Aufhebung des mit der Ausweisung verbundenen Aufenthaltsverbotes noch geprüft wird (EuGH, Urt. v. 18.5.1982, EuGHE 1982 S. I - 1665 ff., Rdnr. 12 - Adoui und Cornuaille; vgl. auch die Regelung in Art. 32 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl. L 158 vom 30.4.2004, S. 77).

Nichts anderes trifft nach Auffassung des Berufungsgerichts in Fällen zu, in denen Drittstaatsangehörige, die - wie der Kläger zu 1) - unter Umständen, die auch nach den Maßstäben des Gemeinschaftsrechts gegenüber Freizügigkeitsberechtigten eine ordnungsgemäße Ausweisung gerechtfertigt hätten, bestandskräftig ausgewiesen worden sind, und die danach als nunmehrige Ehegatten eines Unionsbürgers von einem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen wollen. Würde in derartigen Fällen das gegenüber dem drittstaatsangehörigen Ehegatten bestehende Einreise - und Aufenthaltsverbot gleichsam automatisch entfallen, so könnte ein solcher Drittstaatsangehöriger in weitergehendem Maße von einem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen als diejenigen Freizügigkeitsberechtigten, die bereits zum Zeitpunkt der Ausweisung unter den Schutz der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeit fielen und bei denen, weil die Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbot noch nicht abgelaufen ist, vorher zu prüfen wäre, ob eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist, die das Aufenthaltsverbot gerechtfertigt haben. Damit würde im Ergebnis eine Gruppe von Drittstaatsangehörigen allein deswegen bessergestellt, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Ausweisung noch keinen Anknüpfungspunkt zu der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeit hatten. Das Berufungsgericht vermag nicht zu erkennen, dass das Gemeinschaftsrecht eine derartige Privilegierung vorsehen könnte (a.A. für die Fallgruppe der Drittstaatsangehörigen, die - nach ihrer Ausweisung - infolge der EU-Osterweiterung am 1.5.2004 zu Unionsbürgern geworden sind: Westphal/Stoppa, InfAuslR 2004 S. 133, 137).“

OVG Hamburg, U. v. 22.03.2005 - 3 Bf 294n04 -, NordÖR 2006, 38

Der Bestandskraft und dem gesetzgeberischem Willen hatte sich auch die Entscheidung des OVG Rheinland-Pfalz zugewandt:

„Die Bestandskraft ist ein anerkanntes Prinzip der Rechtssicherheit (vgl. BVerfGE 60, 269 f.). Auch das Gemeinschaftsrecht verlangt grundsätzlich nicht, eine bestandskräftige Entscheidung zurückzunehmen (EuGH, NVwZ 2004, 459 f., - Kühne & Heitz - Nr. 24; vgl. auch Lenzen, Verwaltungsarchiv 2006, 49 ff.).
Der Eintritt der materiellen Bestandskraft bewirkt die Bindung der Behörde und der Beteiligten an die getroffene Regelung. Ausnahmen gelten nur, wenn eine Änderung der Sach- und Rechtslage eingetreten ist, die zu ihrer Gegenstandslosigkeit geführt hat. Hierzu genügt es nicht, dass der bestandskräftige Verwaltungsakt wegen einer Gesetzesänderung so nicht mehr erlassen werden dürfte (BVerwGE 64, 24 [26]). Es kommt für die Fortdauer seiner Wirksamkeit vielmehr darauf an, ob der Verwaltungsakt nach seinem Inhalt und Zweck und im Zusammenhang mit den gesetzlichen Regelungen, auf welchen er beruht, Geltung auch für den Fall veränderter Umstände beansprucht. Selbst die Aufhebung der Regelungen, auf dessen Grundlage er ergangen ist, lässt seine Wirksamkeit unberührt, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt (zum Ganzen vgl. Kopp/Ramsauer, 9. Auflage, VwVfG, § 43 Rn. 31, 42 bis 44). Eine solche abweichende Bestimmung enthält weder das Aufenthaltsgesetz noch das Freizügigkeitsgesetz/EU. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber auf die Bestandskraft von Ausweisungen gleichsam verzichten wollte. Dies hätte nämlich zur Folge, dass Unionsbürger, die beispielsweise wegen schwerer Straftaten ausgewiesen sind, zunächst ungehindert in die Bundesrepublik Deutschland einreisen könnten. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sind aber auch bei Unionsbürgern weiterhin möglich.

Mit dem Aufenthaltsgesetz und dem Freizügigkeitsgesetz/EU beabsichtigte der Gesetzgeber nicht, die Bestandskraft von Ausweisungsverfügungen zu beseitigen. [ . . . ] Weder dem Gesetzestext noch seiner Begründung ist eine Erstreckung dieser Rechtsangleichung auch auf abgeschlossene Verwaltungsverfahren zu entnehmen. Dies gilt umso mehr, als eine generelle Wirkungslosigkeit bestandskräftiger Ausweisungen gleichsam die Möglichkeit zur ungehinderten Einreise auch solcher Unionsbürger zur Folge hätte, die bereits in der Vergangenheit wegen schwerer Taten, die ein grundlegendes Sicherheitsinteresse der Gesellschaft berührten, unanfechtbar ausgewiesen worden sind. Denn deren Aufenthalt könnte auch heute noch unter den Voraussetzungen des Art. 28 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates der Union vom 29. April 2004 (ABl. L 229/35 vom 29. Juni 2004, - RL 2004/38/EG -) beendet werden. Für die Inkaufnahme solcher Sicherheitsdefizite gibt es keine Anhaltspunkte.

Auch der Umstand, dass das Freizügigkeitsgesetz/EU den Begriff der Ausweisung nicht mehr verwendet, bedeutet keinen Verzicht auf die Bestandskraft von Ausweisungsverfügungen. Die Notwendigkeit, auch in Zukunft gegenüber Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung anordnen zu können, war im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. So erlaubt § 6 FreizügG/EU unter bestimmten dort genannten Voraussetzungen auch zukünftig die Beschränkung der Freizügigkeit bei Unionsbürgern. Dies steht insoweit in Einklang mit Art. 28 RL 2004/38/EG, der die Möglichkeit einer Aufenthaltsbeendigung im Sinne einer Ausweisung nach deutschem Sprachgebrauch rechtlich voraussetzt (zum unterschiedlichen Sprachgebrauch vgl. Jakober, VBlBW 2006, 15 [18]). Umso weniger ist dann aber von dem Willen des Gesetzgebers auszugehen, die Bestandskraft von Ausweisungen aufzugeben, die noch vor dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU eingetreten ist. Nicht anderes folgt daraus, dass mit den §§ 6, 7 FreizügG/EU seit dem 1. Januar 2005 eigene Regelungen für eine Aufenthaltsbeendigung bei Unionsbürgern zur Verfügung stehen, die eine vorherige Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit erfordern. Selbst wenn man darin eine über die bisherigen Verfahren zur Ausweisung hinausgehende Besserstellung von Unionsbürgern erkennen wollte, kann hieraus nicht auf eine Gegenstandslosigkeit der unter der Geltung anderer Rechtsvorschriften bestandskräftig gewordenen Ausweisungen geschlossen
werden. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber die Begriffe an die Fortentwicklung des Freizügigkeitsverständnisses angepasst hat. Terminologisch lehnt er sich an die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften an. Danach wird durch die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis-EG bzw. einer Freizügigkeitsbescheinigung (lediglich) festgestellt, dass der Unionsbürger die zur Inanspruchnahme der Freizügigkeit notwendigen Voraussetzungen
erfüllt; die Freizügigkeit wird ihm nicht erst durch den Aufenthaltstitel verliehen (vgl. z.B. EuGH, NVwZ 1993, 765 f., - Tsiotras -). Die Formulierungen in § 1 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 Satz 1 AufenthG/EWG waren begrifflich ungenau, soweit es darin hieß, dass das Aufenthaltsgesetz/ EWG Freizügigkeit „gewährt“. Dementsprechend führt die Gesetzesbegründung zum Freizügigkeitsgesetz/EU aus, dass „trotz weitreichender Gleichstellung von Unionsbürgern mit Deutschen noch immer eine Aufenthaltsgenehmigung verlangt (wird), der jedoch nur deklaratorische Bedeutung zukommt“. Weiter heißt es, dass „das geltende Recht der Aufenthaltsbeendigung für Unionsbürger nicht den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes entspricht und daher einer entsprechenden Ausgestaltung bedarf“ (BT-Drucks. 15/420, S. 61). Dem folgt § 6 FreizügG/EU, soweit er für beschränkende Maßnahmen die Feststellung des Verlustes der
Freizügigkeit fordert (vgl. auch Lüdke, InfAuslR 2005, 177 [178]).

Durch das Erfordernis der Verlustfeststellung hat der Gesetzgeber auch inhaltlich nicht zum Ausdruck gebracht, die Neuregelung auf zurückliegende Fälle anwenden zu wollen. In der Begründung zum Freizügigkeitsgesetz/EU heißt es hierzu gerade gegenteilig, „Satz 1 (stelle) insofern unverändert gegenüber dem bisherigen § 12 Abs.1 Satz 1 AufenthG/EWG klar, dass derartige freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne des Art. 39 Abs. 3 und des Art. 46 Abs. 1 des EGV zulässig sind“ (BT-Drucks. 15/420, S. 104). Dies wird bestätigt durch die Vorausset Voraussetzungen und die weiteren Folgen der Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU, die den Wirkungen einer Ausweisung ähnlich geblieben sind. Überdies spricht nichts dafür, dass der Gesetzgeber überhaupt eine Notwendigkeit gesehen hätte, die Bestandskraft der Ausweisung von Unionsbürgern neu regeln zu müssen.“

OVG RP, U. v. 08.02.2007 -7A 11318/06 -, InfAuslR 2007, 226

Zur Erforschung des gesetzgeberischen Willens vgl. aktuell BVerfG [ Erster Senat ], B5.01.2011 - 1 BvR 918/10 -, NJW 2011, 836, Rdnr. 52 ff:

„Art. 20 Abs. 2 GG verleiht dem Grundsatz der Gewaltenteilung Ausdruck. Auch wenn dieses Prinzip im Grundgesetz nicht im Sinne einer strikten Trennung der Funktionen und einer Monopolisierung jeder einzelnen bei einem bestimmten Organ ausgestaltet worden ist (vgl. BverfGE 9, 268 ; 96, 375 ; 109, 190 ), schließt es doch aus, dass die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die von der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen worden sind, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen (vgl. BverfGE 96, 375 ; 109, 190 ; 113, 88 ). Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt (vgl. BverfGE 82, 6 ; BverfGK 8, 10 ). Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter allerdings nicht, das Recht fortzuentwickeln. Angesichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen gehört die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse zu den Aufgaben der Dritten Gewalt (vgl. BverfGE 49, 304 ; 82, 6 ; 96, 375 ; 122, 248 ). Der Aufgabe und Befugnis zur „schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung“ sind mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung jedoch Grenzen gesetzt (vgl. BverfGE 34, 269 ; 49, 304 ; 57, 220 ; 74, 129 ). Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Er hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen (vgl. BVerfGE 84, 212 >226>; 96, 375 ). Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (vgl. BVerfGE 118, 212 ).


Auf die bereits oben dargestellte gemeinschaftsrechtliche Bewertung der formellen oder materiellen Bestandskraft ist auch an dieser Stelle nochmals Bezug zu nehmen.
Der Gerichtshof hat klargestellt, dass zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege die nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordenen Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden sollten.
EuGH, U. v. 30.09. 2003 - C-224/ 01 -, Köbler, Slg. 2003, I-10239, Randnr. 38,
EuGH, U. v. 16.03.2006 - C-234/ 04 -, Kapferer, Slg. 2006, I-2585, Randnr. 20
EuGH, U. v. 03.09.2009 - C-234/ 04- , Fallimento Olimpiclub, Slg. 2009, I-0000, Randnr. 22.

Daher gebietet es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Gemeinschaftsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht abgestellt werden könnte.
EuGH, U. v. 01.06.1999, - C-126/ 97 -, Eco Swiss, Slg. 1999, I-3055, Randnrn. 47 ff.,
EuGH, U. v. 16.03.2006 - C-234/ 04 -, Kapferer, Slg. 2006, I-2585, Randnr. 21,
EuGH, U. v. 03.09.2009 - C- C-2/ 08 -, Fallimento Olimpiclub, Slg. 2009, I-7501, Randnr. 23

Unter dem Aspekt des “Europäischen Verwaltungsrechts” führt Epiney zu den Einschränkungen des EuGH in der v.g. Rechtssache Fallimento Olimpiclub aus, der EuGH habe jedoch der Bedeutung der Rechtskraft auch den Grundsatz der Effektivität gegenübergestellt, der zu beachten sei. Hiergegen verstoße es nach dieser Entscheidung, wenn ein rechtskräftiges Urteil es verhindere anlässlich einer anderen behördlichen Entscheidung, die einen anderen Sachverhalt (wenn auch denselben Adressaten) betreffe, die in diesem Urteil getroffenen Feststellungen zu überprüfen, so dass sich die Unionrechtswidrigkeit des rechtskräftigen Urteils bzw. von Teilen desselben in andere Sachverhalte perpetuiere. Der Grundgedanke der Ausführungen des EuGH dürfe durchaus verallgemeinerungsfähig sein, so dass davon auszugehen sei, das die im nationalen Recht vorgesehene Rechtskraft von Gerichtsurteilen (und a fortiori von Verwaltungsentscheidungen) jedenfalls nicht dazu führen dürfe, dass eine in einer solchen Entscheidung enthaltene Unionsrechtswidrigkeit über diesen Einzelfall hinaus „festgeschrieben“ werde,

Epiney, NVwZ 2010, 1005.

Dieser Rechtsgedanke war bereits Grundlage der Rechtsprechung des EuGH vom 14.07.1977, in der Rechtssache Sagulo u.a., Slg. 1977, 1495.

Die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Ciola (EuGH, U. v. 29.04.1999 - C-224/97 -, Ciola, Slg. 1999, I-2517) weist in die gleiche Richtung und vermag keine Argumentationshilfe zu geben, die Ausreisepflicht aus bestandskräftiger Altausweisung zu verneinen, vgl. auch U. des VGH BW v. 24.01.2007 - 13 S 451/06-.
Hier ist weniger auf eine Übergangsproblematik abzustellen als darauf, dass diese Entscheidung sich mit strafrechtlichen Folgen eines Verstoßes gegen vor Beitritt Osterreichs (01.01.1995) erlassene gemeinschaftsrechtliche Verfügungen auseinandersetzt.
Der Gerichtshof stellte fest, dass der Rechtsstreit nicht das rechtliche Schicksal des Verwaltungsaktes, nämlich des Bescheids vom 9. August 1990, selbst, sondern die Frage betrifft, ob ein solcher Verwaltungsakt im Rahmen der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Sanktion, die wegen der Nichtbeachtung einer sich aus ihm ergebenden Verpflichtung verhängt wurde, deshalb unangewendet bleiben muss, weil er mit dem Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs unvereinbar ist. Im vorliegenden Fall musste ein gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßendes Verbot, das vor dem Beitritt eines Mitgliedstaats zur Europäischen Union durch eine individuell-konkrete, bestandskräftig gewordene Verwaltungsentscheidung eingeführt wurde, bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Geldstrafe, die nach dem Zeitpunkt des Beitritts wegen der Nichtbeachtung dieses Verbots verhängt wurde, unangewendet bleiben.

Auch hier hätte ein nicht (mehr) gemeinschaftskonformes Verbot Rechtsfolgen wie in der Rechtssache Sagulo u.a., Slg. 1977, 1495 perpetuiert.

Nur am Rande sei angemerkt, dass der Gerichtshof offenbar auch nach „Rechtsstatuswechsel“ vom Drittstaatsangehörigen zum „Familienangehörigen eines Unionsbürgers“ eine Ausschreibung zur Einreiseverweigerung nicht beanstandet, wenn die Einreise eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

EuGH, U. v. 31.01.20006 - C-503/01 -, Kommission gegen Spanien, Slg. I-1097.

Soweit in weiteren Verfahren vor dem EuGH „administrative Ausweisungen“ wegen Verletzung der Aufenthaltsbestimmungen in Rede standen, die für den Gerichtshof nicht ausschlaggebend waren, bleibt festzuhalten, dass in den Rechtssachen sämtlich Rechtsmittel eingelegt worden waren und eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit im Einzelfall auch ausdrücklich verneint wurde.

Vgl. Carpenter, EuGH, U. v. 11.07.2002 - C-60/00 -, Carpenter, Slg. 2002, I-6279, Rdnr. 44:

“Im Ausgangsverfahren hat die Ehefrau von Herrn Carpenter zwar gegen die Einwanderungsgesetze des Vereinigten Königreichs verstoßen, indem sie nach Ablauf ihrer Erlaubnis zum Aufenthalt als Besucherin das Hoheitsgebiet nicht verlassen hat, doch war ihr Verhalten seit ihrer Ankunft im Vereinigten Königreich im September 1994 nicht Gegenstand irgendeines weiteren Vorwurfs, der die Befürchtung aufkommen lassen könnte, dass sie künftig eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt. Im Übrigen ist unstreitig, dass die im Vereinigten Königreich 1996 geschlossene Ehe keine Scheinehe ist und dass Frau Carpenter dort stets ein tatsächliches Familienleben geführt hat, indem sie insbesondere für die aus einer ersten Ehe hervorgegangenen Kinder ihres Ehemannes gesorgt hat.“

Rechtssache Metock, EuGH, U. v. 27.07.2008 - C-127/08 -, Metock, Slg. 2008, I-6241:

Rdnr, 46: „Das vorlegende Gericht betont, dass es sich bei keiner der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ehen um eine Scheinehe handele“.

Zum Einwand der Erschwernis einer Einwanderungskontrolle, Rdnr. 74:

„Zum anderen nimmt die Richtlinie 2004/ 38 den Mitgliedstaaten nicht jegliche Möglichkeit, die Einreise der Familienangehörigen von Unionsbürgern in ihr Hoheitsgebiet zu kontrollieren. Denn aufgrund von Kapitel VI dieser Richtlinie dürfen die Mitgliedstaaten, wenn dies gerechtfertigt ist, die Einreise und den Aufenthalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit verweigern. Eine solche Weigerung muss aber auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt werden.“

Da auf dem Gebiet der Rechtskraft gemeinschaftsrechtliche Vorschriften fehlen, ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die Modalitäten der Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen internen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Äquivalenz), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (vgl. insbesondere Urteile Kapferer, Randnr. 22, und Fallimento Olimpiclub, Randnr. 24).

Nach ständiger Rechtsprechung ist die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral, 33/ 76, Slg. 1976, 1989, Randnr. 5, vom 10. Juli 1997, Palmisani, C-261/ 95, Slg. 1997, I-4025, Randnr. 28, und vom 12. Februar 2008, Kempter, C-2/ 06, Slg. 2008, I-411, Randnr. 58).
Solche Fristen sind nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2002, Grundig Italiana, C-255/ 00, Slg. 2002, I-8003, Randnr. 34).

Zu nicht bestandskräftigen Ausweisungsverfügungen / Keine Umdeutung einer auf §§ 53 ff. AufenthG gestützte Ausweisung?

Eine auf die §§ 53 ff. AufenthG gestützte Ausweisung, die ohne unionsrechtlichen Bezug ergangen ist, kann nach Auffassung des VGH BW hingegen nicht in eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU umgedeutet werden.

„Eine Umdeutung der Ausweisungsverfügung in eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU scheidet aus. Nach § 47 LVwVfG kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Das gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt, in den der fehlerhafte Verwaltungsakt umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspräche oder seine Rechtsfolgen für den Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsaktes.
Ein Verwaltungsakt ist u.a. dann nicht auf das gleiche Ziel gerichtet, wenn der Verwaltungsakt, in den umgedeutet würde, gegenüber dem ursprünglichen Verwaltungsakt wesensverschieden wäre (vgl. Sachs, in: Stelkens/ Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., 2008, § 47 Rdn. 34 ff.; Schwemmer, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, § 47 Rdn. 21 ff.). Davon ist hier auszugehen. Denn die Verlustfeststellung beträfe eine völlig andere – wesentlich privilegiertere – Rechtsstellung, die darüber hinaus einem grundlegend anders strukturierten rechtlichen Regime unterliegt.“

Der VGH BW knüpft damit an die Rechtsstellung nicht an die Rechtswirkungen an.

Zum Sachverhalt:
Der Kläger, ein tunesischer Staatsangehöriger, wehrt sich gegen seine Ausweisung aus Deutschland. Die Ausweisung wurde 2006 verfügt, nachdem er wegen unerlaubte4n Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 97 Fällen sowie unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden war. Die Ausländerbehörde hat ihn dabei nicht als rechtlich privilegierten Familienangehörigen eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers behandelt. Das Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz blieb in zwei Instanzen erfolglos. Im März 2007 wurde der Kläger aus der Haft heraus abgeschoben. Im Dezember 2007 reiste er unerlaubt ins Bundesgebiet ein. Die Klage wurde im März aufgrund unbekannten Aufenthalts wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses abgewiesen. Im Berufungszulassungsverfahren wurde eine ladungsfähige Anschrift übermittelt.
Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hob nach Zulassung der Berufung die Ausweisungsverfügung am 22.03.2010 auf. Der Kläger sei sorgeberechtigter Vater eines im September 2008 (? 2007) geborenen litauischen Sohnes, der freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger sei.
Mit der inzwischen in Deutschland lebenden litauischen Kindesmutter ist der Kläger nicht verheiratet.. An einer Lebensgemeinschaft mit dem Sohn bestanden im Verfahren keine Zweifel.
Als dessen Familienangehöriger stehe dem Kläger daher ebenfalls die Rechtsstellung eines Freizügigkeitsberechtigten zu. Zwar fehle es an der gesetzlichen Voraussetzung, dass der Sohn ihm Unterhalt gewähre. Dies könne jedoch bei minderjährigen Unionsbürgern nicht gefordert werden. An diese Fälle habe der Gesetzgeber ersichtlich nicht gedacht. Deshalb müsse die entsprechende Regelung in § 3 Abs. 2 Nr. 2 des Freizügigkeitsgesetzes/EU dahin erweiternd ausgelegt werden, dass auch ein sorgeberechtigter Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers trotz fehlender Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz Freizügigkeit genieße. Nur so sei gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die "praktische Wirksamkeit" des Aufenthaltsrechtes gewährleistet, welches dem Kind freizügigkeitsbedingt zustehe.

VGH BW, U. v. 22.03.2010 - 11 S 1626/08 -, AuAS 2010, 136

Nach Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung war das Verfahren vor dem BVerwG - 1 C 8.10 - anhängig. Eine Klärung der formellen und materiellen Fragen durch das Bundesverwaltungsgericht wird in dieser Rechtssache allerdings nicht mehr erfolgen. Das Verfahren hat sich inzwischen (nach Eheschließung des Betroffenen mit einer Unionsbürgerin während der Rechtshängigkeit) erledigt.

Eine “Altabschiebung” steht, vgl. auch Urteil des OVG Bremen, OVG Bremen, U. v. 28.09.2010 - 1 A 116/09 -, InfAuslR 2011, 2 dem Freizügigkeitsrecht nicht entgegen.
Zur fehlenden Anwendbarkeit von § 8 Abs. 2 AuslG 1990 bei gemeinschaftswidriger Abschiebung vergleiche bereits EuGH, U. v. 19.11.2002 - C-188/00 -, Kurz (Yüce), Slg. 2002, I-10691

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b) Ausreisepflicht aufgrund Verlustfeststellung bei Unionsbürgern

Die Ausreisepflicht für Unionsbürger knüpft an das Vorliegen einer Feststellung des Nichtbestehens, des Wegfalls des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 5 oder des Verlusts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gem. § 6 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz an.
Die Feststellung des Nichtbestehens des Rechts auf Einreise und Aufenthalt wird mit Bekanntgabe wirksam und löst die Ausreisepflicht aus.

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c) Widerruf und Rücknahme der Aufenthaltskarte Drittstaatsangehöriger

Über die Verlustfeststellung hinaus ist für Familienangehörige mit Drittstaatsangehörigkeit der Widerruf oder die Rücknahme der (Dauer)Aufenthaltskarte zur Begründung der Ausreisepflicht erforderlich. In Ermangelung gesonderter Regelungen im Freizügigkeitsgesetz finden hier die allgemeinen Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes Anwendung, so dass hier doppelt Ermessen auszuüben ist. Ebenso wie im Freizügigkeitsgesetz bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen das Ermessen eröffnet ist, sind Widerruf und Rücknahme keine zwingenden Folgen nach den Bestimmungen der §§ 48, 49 VwVfG. Hier kann unter Umständen auch die Jahresfrist zu beachten sein.
Vor dem Hintergrund der gemeinschaftsrechtlichen Bewertung ausgestellter Dokumente (vgl. Erl. zu § 7 I 1) und der Zielsetzung der Verlustfeststellung überzeugt eine Notwendigkeit dieser Rechtskonstruktion in ihrer Ausgestaltung nicht.

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d) Ausreisefrist

Die Ausreisefrist muss außer in dringenden Fällen mindestens einen Monat betragen.

Ein dringender Fall ist nur in den Fällen denkbar, in denen das öffentliche Interesse an der Ausreise des Unionsbürgers aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit derart schwer wiegt, dass es das Interesse des Ausreisepflichtigen an der geordneten Abwicklung seines Aufenthalts erheblich überwiegt. Beispielsweise ist dies anzunehmen bei einer akuten Gefahr der Begehung von Straftaten vor Ablauf der Ausreisefrist, bei aktuell bevorstehendem Untertauchen des Betroffenen oder im Fall des Scheiterns des Vollzugs der Ausreisepflicht in der Vergangenheit.

VG München, U. v. 13.02.2020 - M 10 K 18.6271 - Rn. 32

§ 7 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz setzt hier Art. 30 Abs. 3 UnionsbürgerRL um. Die Ausreisefrist berechnet sich ab dem Zeitpunkt der Mitteilung.

Gem. Art. 30 Abs. 3 ist in der Mitteilung anzugeben, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann, innerhalb welcher Frist der Rechtsbehelf einzulegen ist und gegebenenfalls binnen welcher Frist er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung betragen.

Die durch die Unionsbürgerrichtlinie abgelöste Richtlinie 64/221/EWG hatte hierzu in Artikel 7 geregelt:
Die Entscheidung über die Verweigerung oder Nichtverlängerung einer Aufenthaltserlaubnis oder über eine Entfernung aus dem Hoheitsgebiet wird dem Betroffenen amtlich mitgeteilt. Dabei ist anzugeben, innerhalb welcher Frist er das Hoheitsgebiet zu verlassen hat. Außer in dringenden Fällen darf diese Frist, wenn der Betroffene noch keine Aufenthaltsgenehmigung erhalten hat, nicht weniger als fünfzehn Tage, in allen anderen Fällen nicht weniger als einen Monat betragen.

Das BVerwG hatte (vgl. Kloesel/Christ, Komm. zum Ausländerrecht, § 12 Abs. 7 AufenthG/EWG Rdnr. 20, Stand März 1989) zu dieser Rechtslage entschieden, dass die einzuräumende Frist dem Ausländer zum einen die Möglichkeit geben soll, freiwillig auszureisen. Sie solle ihm aber auch die Möglichkeit geben, seine Angelegenheiten zu ordnen und Rechtsbehelfe einzulegen. Deshalb sei die Frist auch inhaftierten Ausländern einzuräumen.

BVerwG, U. v. 12.06.1979, DÖV 1980, 455.

Nach Auffassung des OVG NRW konnte die Ausreisefrist auch in eine Haftzeit fallen

OVG NRW B. v. 04.11.1980, DÖV 1982.

Das OVG NRW weist auch aktuell in seiner Rechtsprechung darauf hin, dass es für unbedenklich gehalten wird, in solchen Fällen eine Frist zu setzen, die - ungeachtet des Umstands, dass der Betroffene infolge seiner Inhaftierung einer Aufforderung zur Ausreise nicht nachzukommen vermag - diesem die Möglichkeit eröffnet, sich auf die Ausreise vorzubereiten (vgl. etwa B. vom 11. März 2002, 18 B 849/01, B. v. 15.05.2007 18 B 2389/06 u.a).

„Mit der Bestimmung einer Ausreisefrist wird generell der Zweck verfolgt, es dem Ausländer zu ermöglichen, seine beruflichen und persönlichen Lebensverhältnisse im Bundesgebiet abzuwickeln sowie - im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs, 4 Satz 1 GG - ggf. wirksamen Rechtsschutz zu erlangen. Zur wesentlichen Funktion der Ausreisefrist gehört es darüber hinaus grundsätzlich auch, dem Ausländer Gelegenheit zu geben, einer Abschiebung durch eine freiwillige Ausreise zuvorzukommen. [ …] Einerseits hatte der Antragsteller während der Strafhaft hinreichend Gelegenheit, innerhalb der gesetzten Frist seine Angelegenheiten, ggf. unter Einschaltung von Mittelspersonen, zu regeln, Andererseits bestand wegen seiner Straffälligkeit aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ununterbrochen ein öffentliches Interesse daran, seine Abschiebung auch im Fall der Haftentlassung jederzeit vornehmen zu können, ohne daran durch Unwägbarkeiten gehindert zu werden, die sich etwa aus dem Zeitpunkt der von der Ausländerbehörde nicht beeinflussbaren Haftentlassung oder einer tatsächlichen Abschiebemöglichkeit (Flugtermin etc) ergeben können.“

Zu Verlustfeststellungen aus Gründen des ordre public finden sich aktuell Entscheidung des VG Saarlouis, U. v. 30.09.2010 - 10 K 54/10 -, U. v. 28.10.2010 - 10 K 5/10 -, B. v. 28.01.2011 - 10 L 2357/10 -.

In der Klageabweisung vom 30.09.2010 entschied das Gericht:

„Die Ausreisepflicht des Klägers beruht auf § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügigG/EU, die Abschiebungsandrohung ist gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügigG/EU zu Recht ergangen. Von der Setzung einer Ausreisefrist hat der Beklagte sinnvollerweise abgesehen, da der Kläger in Haft ist und nicht freiwillig ausreisen kann.

Dringende Fälle hat der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht definiert, hier dürften zumindest die Kriterien zu Grunde zu legen sein, die die Rechtsprechung der Anordnung der sofortigen Vollziehung und dem Verzicht auf das unter Geltung der Richtlinie 64/221/EWG geregelten Vier-Augen-Prinzip zugrunde gelegt hat. Es muss ein besonderes öffentliches Interesse daran festgestellt sein, die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer weiteren, unmittelbar drohenden erheblichen Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen.
Ob ein dringender Fall in diesem Sinne zu bejahen ist, muss nach den konkreten Umständen des Einzelfalles im Wege einer Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Belange beurteilt werden. Von Bedeutung ist hierbei vorrangig die Schwere der vom Ausländer ausgehenden Gefahr.

Die Atypik bedarf einer Begründung in der Verlustfeststellung/dem Widerrufs- oder Rücknahmebescheid.

Die Ausreisefrist wird unterbrochen, wenn die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht oder der Abschiebungsandrohung entfällt, § 11 Abs. 1 FreizügG/EU i.V.m.. § 50 Abs. 3 AufenthG.

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e) Abschiebungsandrohung

Hier ist zunächst an die gemeinschaftsrechtliche Bewertung der Verlustfeststellung (Ausweisung) zu erinnern.

Anerkannt sind in der Unionsbürgerrichtlinie die mit einer Ausweisung verbundenen Rechtsfolgen

  • Verlassenspflicht des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaates, der die Ausweisung verfügt hat (Art. 30 Abs. 3),
  • das Setzen einer Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets (Art. 30 Abs. 3),
  • die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets muss mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung betragen (Art. 30 Abs. 3),
  • die Vollstreckung durch Abschiebung (Art. 31 Abs. 2),
  • die Entstehung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots als Rechtsfolge einer ausschließlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügten Ausweisung (Erwägungsgrund 25, Art. 15 Abs. 3, Art 32),
  • Art. 31 Abs. 4 erlaubt es dem Mitgliedstaat, den von Ausweisung Betroffenen während des anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens vom Hoheitsgebiet fernzuhalten, regelmäßig ist diesem jedoch das Erscheinen vor Gericht zu ermöglichen.
  • Art. 31 Abs. 2 trifft ein von Ausnahmen abgesehenes gesetzliches Vollstreckungsverbot während eines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz, der darauf gerichtet ist, die Vollziehung auszusetzen.

In ihrer Systematik folgt die Unionsbürgerrichtlinie in Kapitel VI, dessen Verfahrensgarantien gem. Art. 15 sinngemäß auf Entscheidungen nach Kapitel III Anwendung finden, der im nationalen deutschen Recht, stRspr des BVerwG, u.a. BVerwG, U. v. 21.06.1961 - BVerwG VIII C 398.59 -, BVerwGE 13, 1, geltenden „Vollziehbarkeitstheorie“, vgl. zu den unterschiedlichen Rechtsauffassungen zu Vollziehbarkeitstheorie und Wirksamkeitstheorie Kopp/Schenke, VwGO 16. Aufl. § 80 Rdnr. 22.
Allgemein erinnert der VGH BW, B. v. 16.11.2010 - 11 S 2328/10 -, NVwZ-RR 4/2011 S. 172, m.w.N. daran, dass das BVerwG bereits seit den 50er Jahren in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertritt, dass die aufschiebende Wirkung nicht die Wirksamkeit des angefochtenen Verwaltungsakts beseitigt.

Hier ist auch nochmals auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Yiadom zu verweise: der Rechtsweg darf nicht seinem Zweck entfremdet werden, der in der Überprüfung oder Kontrolle der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung und nicht darin besteht, dass aus der damit verbundenen aufschiebenden Wirkung ein zusätzliches Verbleiberecht entsteht.

EuGH, U. v. 09.11.2000 - C-357/98 -, Yiadom, Slg. 2000, I-9265, Schlussanträge des Generalanwalts Léger v. 30.03.2000

Die Verlustfeststellung ist mit Bekanntgabe wirksam.

Die Abschiebung „soll“ in dem Bescheid über die Verlustfeststellung/ dem Widerrufs- oder Rücknahmebescheid angedroht werden.
In Ermangelung einer Atypik ist die Abschiebung im Rahmen des Regel-Ausnahme-Verhältnisses anzudrohen.

Rechtsgrundlage über das „Ob“ der Abschiebungsandrohung ist ausschließlich § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU. Das Aufenthaltsgesetz findet aufgrund der besonders getroffenen Regelung bei dieser Entscheidung keine Anwendung. Anderes mag bei der Ausgestaltung der Abschiebungsandrohung (Zielstaat, Berücksichtigung von Abschiebungsverboten etc.) gelten, für die das Freizügigkeitsgesetz keine Regelungen getroffen hat.

Die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht ist nicht Voraussetzung für die Abschiebungsandrohung.

Die Abschiebungsandrohung dient dem Zweck, dem Ausländer einen Hinweis auf Zwangsmaßnahmen zu erteilen und es ihm zu ermöglichen, seine Ausreise vorzubereiten und ggf. freiwillig auszureisen. Der Vollziehung des Verwaltungsakts dient die Abschiebungsandrohung erst bei Vollziehbarkeit der Verlustfeststellung und Erschöpfung der Ausreisefrist, soweit eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde.
Vorläufiger Rechtsschutz führt nicht zur Wirksamkeitshemmung, jedoch zum Vollstreckungsschutz.
Nach stRspr des BVerwG dürfen während des Bestehens der aufschiebenden Wirkung aus dem angefochtenen Verwaltungsakt keine Rechtsfolgen gezogen werden, die der „Vollziehung“ des Verwaltungsakts dienen, sofern diese Maßnahmen den Bestand oder die Rechtmäßigkeit des ergangenen Verwaltungsakts voraussetzen,.

Die Vollziehbarkeit der Grundverfügung ist bereits nicht Voraussetzung für die Abschiebungsandrohung nach dem AufenthG, § 59 AufenthG.
Hierzu fasste das OVG NRW mit Beschluss vom 20.02.2009 zusammen:

„Die Abschiebungsandrohung ist auch nicht dadurch rechtswidrig geworden, dass die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht, die sich zunächst infolge der Ablehnung des Verlängerungsantrags vom 30. März 2007 aus § 58 Abs. 2 Satz 2 iVm § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ergab, nach der Rücknahme des Antrags infolge der Gegenstandslosigkeit der Versagungsverfügung nicht mehr aus jener Norm ableiten lässt. Dies folgt ungeachtet der Frage, ob sich die Vollziehbarkeit wegen der dargestellten Unbeachtlichkeit des Verlängerungsantrags vom 29. Juni 2007 nun aus § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ergibt, schon daraus, dass entgegen der vom Senat in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren in Anlehnung an seine Rechtsprechung zum AuslG 1990 vertretenen Auffassung (- vgl. Senatsbeschluss vom 30. August 2005 – 18 B 633/05 -, InfAuslR 2006, 137; ebenso BVerwG, Urteil vom 22. Dezember 1997 – 1 C 14.96 -, InfAuslR 1998, 217 (ohne Begründung zu § 50 Abs. 1 AuslG 1990) -) die Abschiebungsandrohung nach der dem Aufenthaltsgesetz zugrunde liegenden Konzeption nicht die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht voraussetzt.

Dafür, dass die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nur für die Vollstreckungsmaßnahme der Abschiebung und nicht bereits für die Abschiebungsandrohung vorliegen muss, spricht nun schon der Vergleich des Wortlauts des § 59 Abs. 1 AufenthG mit demjenigen des die Abschiebung regelnden § 58 Abs. 1 AufenthG. Weil die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nur in § 58 Abs. 1 AufenthG gefordert wird, liegt es nahe, dass es ihrer für die Abschiebungsandrohung nicht bedarf. Gesetzessystematische Überlegungen führen zu demselben Ergebnis. § 58 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sieht nämlich eine Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht in den dort aufgeführten drei Fallkonstellationen alternativ erst vor, wenn eine Ausreisefrist abgelaufen ist. Davon ausgehend ergäbe es keinen Sinn, für den Erlass der Abschiebungsandrohung an der Forderung festzuhalten, die Ausreisepflicht müsse vollziehbar sein, wenn dann Rechtsfolge des Erlasses einer Androhung mit Fristsetzung unter Umständen zunächst der vorübergehende Wegfall der Vollziehbarkeit wäre (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AuslR, Stand Februar 2008, § 59 AufenthG Rn. 25 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand April 2006, § 59 AufenthG Rn. 13 ff.; Wenger in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms/ Kreuzer, ZuwG, 2. Auflage 2008, § 59 AufenthG Rn.5; HKAuslR/Oberhäuser, 2008, § 59 AufenthG Rn. 4; Armbruster, HTK-AuslR / § 59 AufenthG / Überblick 05/2008 Nr. 3; VGH Bad.- Württ., Urteil vom 29. April 2003 - 11 S 1188/02 -, InfAuslR 2003, 341; a.A. BVerwG, Urteil vom 22. Dezember 1997 - 1 C 14.96 -, a.a.O.).

Dem lässt sich nicht entgegen halten, dass für die in § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG geregelten Fälle, bei denen die Ausreisepflicht nicht auf Grund Gesetzes, sondern erst auf Grund eines Verwaltungsaktes (z.B. einer Ausweisung) entsteht, kein Fristablauf vorgesehen ist. Es wäre unverständlich, denjenigen Ausländer, dessen Ausreisepflicht erst auf Grund eines Verwaltungsaktes begründet wird, durch geringere Anforderungen an die Vollziehbarkeit (Absehen von einer Fristsetzung) schlechter zu stellen gegenüber demjenigen Ausländer, dessen Ausreisepflicht bereits auf Grund Gesetzes (z.B. durch unerlaubte Einreise) entstanden ist.
Der gesetzessystematische Widerspruch ist deshalb so aufzulösen, dass eine Abschiebungsandrohung mit Fristsetzung sowohl in den Fällen des § 58 Abs. 2 Satz 1 AufenthG als auch in denjenigen von dessen Satz 2 immer schon dann erlassen werden kann, wenn die Ausreisepflicht wirksam entstanden ist. In beiden Fällen ist daher davon auszugehen, dass dann, wenn eine konkrete Ausreisefrist gesetzt wurde, die Ausreisepflicht erst mit deren Ablauf im Sinne des § 58 AufenthG vollziehbar wird (vgl. Hailbronner, a.a.O., Rn. 16; Funke-Kaiser, a.a.O., Rn. 32).

Auch unter Beachtung von Sinn und Zweck einer Abschiebungsandrohung ergibt sich nicht, dass ihre Rechtmäßigkeit bereits das Bestehen einer vollziehbaren Ausreisepflicht voraussetzt. Dies folgt schon daraus, dass die Androhung und der Vollzug der Abschiebung bei rechtlicher Betrachtung strikt zu trennen sind. Im Unterschied zu einer Abschiebung ergeht die Abschiebungsandrohung im "Vorfeld" einer möglichen Abschiebung. Ihr muss sich nicht zwangsläufig eine nachfolgende Abschiebung anschließen. Vielmehr bleibt es dem ausreisepflichtigen Ausländer überlassen, die Durchführung einer angedrohten Abschiebung zu vermeiden und freiwillig das Bundesgebiet zu verlassen. Die Abschiebungsandrohung dient damit dem Zweck, dem Ausländer einen rechtzeitigen Hinweis auf Zwangsmaßnahmen zu
erteilen und es ihm zu ermöglichen, seine Ausreise vorzubereiten und freiwillig auszureisen.

Andererseits bleibt eine Abschiebungsandrohung auch rechtmäßig, wenn eine Abschiebung nicht erfolgen kann, weil ihr Abschiebungsverbote entgegenstehen (vgl. § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2003 - 11 S 1188/02 -, a.a.O.).“ Zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung führt es schließlich auch nicht, dass das Verwaltungsgericht die in ihr gesetzte Ausreisefrist (rechtskräftig) als rechtswidrig bewertet hat. Insoweit schließt sich der Senat unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung (- vgl. Senatsbeschluss vom 19. September 1996 – 18 B 3505/95 -, NWVBl. 1997, 108 -) derjenigen des Bundesverwaltungsgerichts zur Teilbarkeit von Abschiebungsandrohung und Ausreisefrist an. Danach ist davon auszugehen, dass die mit der Abschiebungsandrohung verbundene Ausreisefrist selbständiger Gegenstand einer Anfechtungsklage sein kann, da sie weder nach dem Wortlaut des § 59 Abs. 1 AufenthG noch nach dem Regelungszusammenhang untrennbar mit der Androhung der Abschiebung verbunden sein muss. (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. April 2001 – 9 C 22.00 -, BVerwGE 114, 122 = InfAuslR 2001, 357).“

OVG NRW, B. v. 20.02.2009 - 18 A 2620/08 -, InfAuslR 2009, 232

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f) Anordnung der sofortigen Vollziehung und Antrag gem. § 80 Abs. 5 VwGO

Voraussetzung für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsaktes im Einzelfall ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18.07.1973 - 1 BvR 23/73 -BVerfGE 35, 382, 401 f.; vom 21.03.1985 - 2 BvR 1642/83 - BVerfGE 69, 220, 227 f.; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 25.01.1996 - 2 BvR 2718/95 - AuAS 1996, 62; vom 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - InfAuslR 2007, 275).

Im Einzelfall und nach gegenwärtiger Sachlage ist ein dringender unverzüglicher Handlungsbedarf notwendig. Das Bestehen eines solchen besonderen Handlungsbedarfs bereits vor Eintritt der Unanfechtbarkeit kann im gerichtlichen Verfahren nicht durch die Feststellung ersetzt werden, die angefochtene Entscheidung sei (offensichtlich) rechtmäßig (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12.09.1995 - 2 BvR 1179/95 - NVwZ 1996, 58; vom 25.01.1996 - 2 BvR 2718/95 - AuAS 1996, 62; Senatsbeschlüsse vom 11.02.2005 - 11 S 1170/04 - VBlBW 2005, 360 und vom 29.11.2007 - 11 S 1702/07 - VBlBW 2008, 193).

VGH BW, B. v. 16.6.2011 - 11 S 1305/11 -.

Nach Rechtsprechung des Oberverwaltungsgericht NRW (B. v. 05.08.2009 - 18 B 331/09 -) ist für die Frage, ob das erforderliche besondere Vollziehungsinteresse gegeben ist, der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich (vgl. Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Auflage 2006, § 80 Rn. 162 mit weiteren Nachweisen).
Die Anordnung des Sofortvollzugs ist auch schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens als Präventivmaßnahme zur Abwehr der mit der Ausweisungsverfügung zu bekämpfenden Gefahren erforderlich.

In Verbindung mit dem Verzicht auf Strafvollstreckung aufgrund Vollziehung der Abschiebung führt das OVG Lüneburg mit Beschluss vom 14.06.2011 - 8 ME 325/10 - zur Anordnung des Sofortvollzugs im Rahmen einer durch Sexualstraftaten motivierten Aufenthaltsbeendigung aus:

„Dem kann der Antragsteller nicht mit Erfolg entgegenhalten, hier bestehe schon deshalb kein Erfordernis für einen Sofortvollzug, weil er sich in Strafhaft befinde und eine Anordnung nach § 456a StPO nicht in Betracht komme, weil diese die Bestandskraft der Ausweisungsverfügung voraussetze.
Zum einen ermächtigt § 456a Abs. 1 StPO entgegen der Auffassung des Antragstellers die Strafvollstreckungsbehörde schon dann zum Absehen von der Vollstreckung der Strafe, wenn der Ausländer aufgrund einer zwar nicht bestandskräftigen, aber mit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung versehenen Ausweisung vollziehbar ausreisepflichtig ist und die Beendigung seines Aufenthalts demnächst durchgesetzt werden soll (so ausdrücklich Niedersächsisches Justizministerium, Absehen von der Strafverfolgung und von der Strafvollstreckung bei Nichtdeutschen (§§ 154 b, 456 a StPO), AV v. 16.12.2009, Nds. Rpfl. 2010, S. 77, dort Nr. 1 Satz 3; vgl. auch Hessischer VGH, Beschl. v. 11.10.2007 - 7 TG 1849/07 -, juris Rn. 3; Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 456a Rn. 6a; a.A. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 3.7.2007 - 2 VAs 18/07 -, juris Rn. 5; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 456a Rn. 3). Weder der Wortlaut noch der Normzweck des § 456a Abs. 1 StPO erfordern eine Begründung der maßgeblichen vollziehbaren Ausreisepflicht durch einen ausländerbehördlichen Verwaltungsakt, der in Bestandskraft erwachsen ist. Da das Absehen von der Vollstreckung der Strafe - wie § 456a Abs. 2 StPO belegt - eine vorläufige Maßnahme ist und keinen endgültigen Verzicht auf den staatlichen Vollstreckungsanspruch beinhaltet, kann auch aus der Tragweite dieser strafvollstreckungsbehördlichen Entscheidung nicht auf das Erfordernis einer bestandskräftigen ausländerbehördlichen Verfügung geschlossen werden (vgl. Hessischer VGH, Beschl. v. 11.10.2007, a.a.O.). Ist damit eine Entscheidung nach § 456a StPO auch schon vor Bestandskraft möglich und offenbar auch nach wie vor beabsichtigt (vgl. Generalstaatsanwaltschaft Celle, Schreiben v. 14.3.2011, Bl. 193 Beiakte B), rechtfertigt schon dies die Anordnung des Sofortvollzuges (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 25.3.1999 - 1 B 65/99 -, InfAuslR 1999, 409, 412; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 11.1.1999 - 11 S 46/99 -, InfAuslR 1999, 127, 128 f.; GK-AufenthG, a.a.O., Vor §§ 53 ff. Rn. 1554 f.)

Zum anderen ist auch ungeachtet einer Entscheidung nach § 456a StPO nicht ausgeschlossen, dass der Antragsteller vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren aus der Strafhaft entlassen wird und dann die beschriebene konkrete Gefahr der erneuten Begehung von Straftaten, die die körperliche Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung Dritter im Bundesgebiet in ganz erheblicher Weise beeinträchtigen, droht. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Gefahr bis zum rechtskräftigen Abschluss der Anfechtungsklage (also gegebenenfalls einschließlich des Berufungs- und Revisionsverfahrens) anzunehmen ist. Grundsätzlich maßgebend ist gemäß § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO vielmehr, ob von einer Gefahr in dem Zeitraum bis fünf Monate nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils auszugehen ist; denn nach Ablauf dieses Zeitraums ist die Ausweisung ohnehin vollziehbar, so dass es der Anordnung eines Sofortvollzuges nicht (mehr) bedarf (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 16.2.2007 - 11 ME 385/06 -). Ausgehend davon, dass der Antragsteller bereits heute mehr als die Hälfte und im August 2011 zwei Drittel der verhängten Freiheitsstrafe verbüßt haben wird, ist jederzeit eine vorzeitige Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 1 oder 2 StGB und damit verbundene Freilassung möglich, ohne dass vorher in der Hauptsache entschieden worden wäre. Auch ausgehend vom regulären Termin zur Entlassung aus dem Strafvollzug, dem 2. Oktober 2012 (vgl. Jugendanstalt C., 5. Fortschreibung des EFP v. 28.3.2011, Bl. 197 ff. Beiakte B), wäre angesichts der erst am 29. Juli 2010 erhobenen und am 1. Oktober 2010 begründeten Klage und des seitdem laufenden Verfahrens nicht sichergestellt, dass das erstinstanzliche Hauptsacheverfahren durch Zustellung des vollständig abgesetzten Urteils an den Antragsteller spätestens am 2. Mai 2012 abgeschlossen ist.

Schließlich überwiegen die bei einem Aufschub des Vollzugs eintretenden konkreten Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter die den Antragsteller treffenden Folgen der sofortigen Vollziehung.

Der Senat verkennt nicht, dass die sofortige Vollziehung der Ausweisung und die daran letztlich anknüpfende Aufenthaltsbeendigung eine schwer wiegende Maßnahme darstellt, die tief in das Schicksal des Antragstellers und seiner Familie eingreift. Er wird - jedenfalls bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens - gezwungen, das Bundesgebiet zu verlassen, hier bestehende Bindungen zu unterbrechen und sein Leben im Heimatland zu bestreiten. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller jedenfalls in wirtschaftlicher Hinsicht bisher nicht im Bundesgebiet integriert ist, der Sofortvollzug also nicht mit dem Verlust der wirtschaftlichen Existenz verbunden ist. Auch weitere im Bundesgebiet lebende Familienangehörige geraten durch die Aufenthaltsbeendigung des Antragstellers nicht in eine existenzbedrohende Notlage. Dem Antragsteller ist eine soziale Wiedereingliederung im Bundesgebiet für den Fall eines Obsiegens im Hauptsacheverfahren durchaus möglich und auch zuzumuten. Die Wirkungen des Sofortvollzugs sind im Falle eines Obsiegens im Hauptsacheverfahren für den Antragsteller mithin weitgehend reparabel.
Dies gilt für die von einem Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet gefährdeten Rechtsgüter nicht. Realisiert sich die beschriebene konkrete Gefahr, dass der Antragsteller im Bundesgebiet erneut Straftaten begeht, die die körperliche Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung Dritter in ganz erheblicher Weise beeinträchtigen, sind die eingetretenen Schädigungen regelmäßig nicht wieder gutzumachen. Angesichts der Wichtigkeit dieser Schutzgüter und der Irreparabilität ihrer Schädigung überwiegen diese im vorliegenden Einzelfall die den Antragsteller treffenden Folgen der sofortigen Vollziehung.“

 

Wird ein Antrag nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gestellt, darf die Abschiebung nicht erfolgen, bevor über den Antrag entschieden wurde.
Soweit die Verwaltungsvorschriften 7.1.5 ausführen:

„I.d.R. darf die Abschiebung nicht erfolgen, solange nicht über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden ist (Artikel 31 Absatz 2 Freizügigkeitsrichtlinie). Eine Ausnahme gilt bei der Feststellung des Verlusts des Aufenthaltsrechts aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit (§ 6 Absatz 5)“,

findet sich diese Einschränkung in § 7 FreizügG/EU nicht. Dort ist der Vollstreckungsschutz während eines Antrags gem. § 80 Abs. 5 VwGO ausnahmslos gewährleistet.

Kommentierungen (u.a. Kloesel/Christ, Komm. z. Ausländerrecht, Stand April 2008; Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage) führen darüber hinaus aus, der Gesetzgeber habe Einschränkungen des Abschiebungsschutzes aus Art. 31 Abs. 2 der UnionsbürgerRL nicht übernommen, die Ausnahmeregelungen könnten nicht zu Lasten der Betroffenen unmittelbar angewandt werden. Dies erscheint zweifelhaft.

Art. 31 Abs. 2 trifft ein von Ausnahmen abgesehenes gesetzliches Vollstreckungsverbot während eines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz, der darauf gerichtet ist, die Vollziehung auszusetzen.
Wird neben dem Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wurde, auch ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, um die Vollstreckung dieser Entscheidung auszusetzen, so darf die Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet nicht erfolgen, solange nicht über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden wurde, es sei denn,

  • die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, stützt sich auf eine frühere gerichtliche Entscheidung, oder
  • die Betroffenen hatten bereits früher die Möglichkeit, eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen, oder
  • die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit nach Artikel 28 Absatz 3.

Die ersten beiden Ausnahmen implizieren (materielle oder formelle) Bestandskraft. Hier dürfte ohnehin nach nationalem Recht kein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gem. § 80 Abs. 5 VwGO, sondern nur ein Abschiebschutzantrag gem. § 123 VwGO zulässig sein.
Der Gesetzgeber hat sich im Rahmen von § 7 FreizügG/EU hier auch nicht auf die Bezugnahme auf „vorläufigen Rechtsschutz“ beschränkt, sondern an einen „Antrag gem. § 80 Abs. 5 VwGO“ angeknüpft.
Die Benennung der konkreten Rechtsnorm ist bemerkenswert, da im Übrigen konkrete Nennungen von Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes oder der Verwaltungsgerichtsordnung ausbleiben.

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g) Maßgebliche Sach- und Rechtslage

Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Prof. Dr. Ingo KraftDer maßgebliche Entscheidungszeitpunkt im Aufenthaltsrecht“, www.migrationsrecht.de hat seine Rechtsprechung seit August 2004 grundlegend geändert: Bei der Prüfung aufenthaltsbeendender Maßnahmen von Unionsbürgern und ARB-Berechtigten ist auf die letzte mündliche Verhandlung in der Tatsacheninstanz abzustellen.

Im Urteil vom 15. November 2007 wurde dieser Zeitpunkt generell für Ausweisungen aller Drittstaatsangehörigen als maßgeblich erachtet und im April 2010 auf andere aufenthaltsbeendende Maßnahmen wie die Rücknahme und den Widerruf von Aufenthaltstiteln erstreckt.

BVerwG, U. v. 03.08.2004 - 1 C 30.03 -, BVerwGE 121, 297;
BVerwG, U. v. 15.11.2007 - 1 C 45.06 -, BVerwGE 130, 20 Rn. 14 ff., DVBl. 2008, 392, NVwZ 2008, 434 = InfAuslR 2008, 156 , DÖV 2008, 334, JZ 2008, 512;
BVerwG, U. v. 13.04.2010 - 1 C 10.09 -, InfAuslR 2010, 346.

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h) Anwendung des Aufenthaltsgesetzes nach Verlustfeststellung

Über die Verweisung des § 11 Absatz 1 auf § 50 Absatz 3 bis 7 AufenthG sind folgende Regelungen über die Ausreisepflicht aus dem AufenthG anwendbar:

  • Absatz 3: Unterbrechung der Ausreisepflicht,
  • Absatz 4: Erfüllung der Ausreisepflicht durch Einreise in einen anderen EU-Staat,
  • Absatz 5: Anzeigepflicht bei Wohnungswechsel oder Verlassen des Bezirks der Ausländerbehörde,
  • Absatz 6: Verwahrung des Passes oder Passersatzes,
  • Absatz 7: Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung/Festnahme/Zurückweisung.

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