Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt der zu treffenden Gefahrenprognose ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
EuGH, U. v. 29.04.2004 – C-482/01 und C-493/01 – Orfanopoulos und Oliveri, Rn. 82
In den Rechtssachen Orfanopoulos und Oliveri zieht der EuGH aus der Notwendigkeit, Ausnahmen vom Grundsatz der Freizügigkeit eng auszulegen, den Schluss, dass die Voraussetzung des Vorliegens einer gegenwärtigen Gefährdung grundsätzlich zu dem Zeitpunkt erfüllt sein muss, zu dem die Ausweisung erfolgt . Demnach steht das Unionsrecht einer innerstaatlichen Praxis entgegen,
„wonach die innerstaatliche Gerichte nicht verpflichtet sind, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats verfügten Ausweisung einen Sachvortrag zu berücksichtigen, der nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt ist und der den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen kann, die das Verhalten des Betreffenden für die öffentliche Ordnung darstellen würde. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn ein längerer Zeitraum zwischen dem Erlass der Entscheidung über die Ausweisung und der Beurteilung dieser Entscheidung durch das zuständige Gericht liegt .“
EuGH, U. v. 29.04.2004 – C-482/01 und C-493/01 – Orfanopoulos und Oliveri, Rn. 79
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Auf die Entscheidungen nach § 6 finden die unionsrechtlichen Verfahrensvorschriften der Art. 30 und 31 Freizügigkeits-RL Anwendung. Ergänzt werden die Regelungen in der Freizügigkeits-RL durch allgemeine Grundsätze und die GRCh. So ergibt sich ein Anhörungsrecht aus Art. 41 GRCh, wonach jede Person das Recht hat, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird. Die Gewährung rechtlichen Gehörs in allen Verfahren, die zu einer den Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen können, ist zudem ein fundamentaler Grundsatz des Unionsrechts, der auch dann sichergestellt werden muss, wenn eine besondere Regelung fehlt .
Vgl. EuGH Urt. v. 10.7.1986 – 234/84 und 40/85, Slg. 1986 (2263 und 2321) – Königreich Belgien/Kommission; Urt. v. 11.11.1987 – 259/85, Slg. 1987, 4393 – Französische Republik/Kommission.
Entscheidungen nach § 6 müssen dem Betroffenen nach Art. 30 I Freizügigkeits-RL schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden, dass er deren Inhalt und Wirkung nachvollziehen kann. Dem Betroffenen sind die Gründe, die der ihn betreffenden Entscheidung zugrunde liegen, genau und umfassend mitzuteilen, es sei denn, dass Gründe der Sicherheit des Staates dieser Mitteilung entgegenstehen (Art. 30 II Freizügigkeits-RL).
Mit dieser Regelung wird die Begründungspflicht aus Art. 6 RL 64/221/EWG fortgeführt, hinter die die Verfahrensrechte der Freizügigkeits-RL nicht zurückfallen dürfen .
EuGH Urt. v. 25.7.2008 – C-127/08 Rn. 59 – Metock.
Nach Art. 6 RL 64/221/EWG sind dem Betroffenen die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die der ihn betreffenden Entscheidung zugrunde liegen, bekannt zu geben, es sei denn, dass Gründe der Sicherheit des Staates dieser Bekanntgabe entgegenstehen. Aus der Zielsetzung der RL ergibt sich, dass die Mitteilung der Gründe hinreichend detailliert und genau sein muss, um es dem Betroffenen zu ermöglichen, seine Interessen wahrzunehmen .
EuGH Urt. v. 18.5.1982 – 115/81, Slg. 1982, 1665 Rn. 13 – Adoui und Cornuaille.
Problematisch erscheint, ob eine unionsrechtlich vorgeschriebene fehlende Begründung nach § 46 (L)VwVfG unbeachtlich ist. Hierbei geht es um die Frage, ob das Fehlerfolgenregime der nationalen Rechtsordnung zum Zuge kommt, wenn unionsrechtliche Verfahrensregelungen in Form des indirekten Vollzugs durchgeführt werden. Der EuGH hat für den indirekten unmittelbaren Vollzug einer VO folgenden Grundsatz aufgestellt:
„Obliegt der Vollzug einer Gemeinschaftsverordnung den nationalen Behörden, so ist davon auszugehen, dass er grundsätzlich nach den Form- und Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts zu geschehen hat. Um der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts willen ist jedoch der Rückgriff auf innerstaatlichen Rechtsvorschriften nur in dem zum Vollzug der Verordnung notwendigen Umgang zulässig.“
EuGH Urt. v. 11.2.1971 – 39/70, Slg. 1971, 49 (58) – Fleischkontor.
Auch in der Rechtssache Deutsches Milch-Kontor GmbH wurde dieser Grundsatz bestätigt:
„Soweit das Unionsrecht einschließlich der allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätze hierfür keine gemeinsamen Vorschriften enthält, gehen die nationalen Behörde bei dieser Durchführung der Gemeinschaftsregelungen nach den formellen und materiellen Bestimmungen ihres nationalen Rechts vor, wobei dieser Rechtssatz freilich, …, mit den Erfordernissen der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts in Einklang gebracht werden muss, die notwendig ist, um zu vermeiden, dass die Wirtschaftsteilnehmer ungleich behandelt werden.“
EuGH Urt. v. 21.9.1983 – 205 bis 215/82, Slg. 1983, 2633 (2665) – Deutsches Milch-Kontor
Danach gelangt im indirekten Vollzug des Unionsrechts in Ermangelung unionseinheitlicher Vorschriften das nationale (L)VwVfG zur Anwendung . Die den einzelnen Mitgliedstaaten durch den EuGH zugestandene Verfahrensautonomie, dh, die Freiheit der Mitgliedstaaten das Verwaltungsverfahren individuell auszuformen, besteht aber nicht grenzenlos. Der EuGH hat die Freiheit zur Ausgestaltung an zwei Bedingungen geknüpft: Das nationale Verfahrensrecht darf weder diskriminierend wirken noch darauf hinauslaufen, dass die Verwirklichung der unionsrechtlichen Regelung praktisch unmöglich wird .
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Während sich das Diskriminierungsverbot nicht begrenzend auf die Anwendung des § 46 (L)VwVfG auszuwirken vermag, weil diese Vorschrift gleichermaßen in rein nationalen wie in unionsrelevanten Verfahren einen kausalitätsunabhängigen Aufhebungsanspruch versagt , erscheint eine Verletzung des mit dem Begriff der praktischen Unmöglichkeit angesprochenen Effektivitätsgebots, bei dessen Anwendung es entscheidend darauf ankommt, ob die in Rede stehende nationale Vorschrift die Ausübung des europäischen Rechts tatsächlich unmöglich macht oder übermäßig erschwert, bedenkenswert .
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Immerhin läuft der durch § 46 (L)VwVfG angeordnete Ausschluss des Aufhebungsanspruchs darauf hinaus, dass die verfahrensrechtliche Regelung (zB Art. 30 I Freizügigkeits-RL) leerläuft, und zwar schlicht deshalb, weil ihre Nichtbeachtung durch § 46 (L)VwVfG sanktionslos gestellt wird. Damit würde iE der mit der Verfahrensvorschrift bezweckte Erfolg „praktisch unmöglich“ gemacht. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, gebietet das Effektivitätsgebot grundsätzlich in Bezug auf europarechtliche Verfahrensvorschriften eine Sanktionierung von Verfahrensverstößen, um deren Beachtung auf nationaler Ebene zu erzwingen .
Hierzu EuGH Urt. v. 21.9.1983 – 205 bis 215/82, Slg. 1983, 2633 (2665) – Deutsches Milch-Kontor; Urt. v. 14.12.1995 – C-430/93 und C-431/93, Slg. 1995, I-4705 (4737) – Van Schijndel und Van Veen
Das Prinzip der effektiven Durchsetzung europäischen Rechts auf nationaler Ebene ist aber auch aus Sicht des EuGH nicht grenzenlos gewährleistet; dies zeigt bereits die Verwendung der Begriffe „praktische Unmöglichkeit“ bzw. „übermäßiges Erschweren“. Damit wird nicht die maximale Verwirklichung unionsrechtlicher Verfahrensvorschriften bzw. sonstigen materiellen Unionsrechts gefordert. Der EuGH hat insoweit ausgeführt, dass
„jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschriften im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheiten dieser Verfahren zu prüfen ist“ .
EuGH Urt. v. 21.11.2002 – C-473/00, Slg. 2002, I-10875 Rn. 37 – Cofidis SA.
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Die Wesentlichkeit einer Verletzung einer Form- oder Verfahrensbestimmung, auf die es maßgeblich ankommt, beurteilt sich daran, ob ihre Nichtbeachtung Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung des Rechtsakts gehabt haben könnte .
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Wenn das Begründungserfordernis erst an die Ablehnungsentscheidung selbst anknüpft (zB Art. 30 I und II Freizügigkeits-RL) und keine Verfahrensregelung darstellt, die die Richtigkeit des Ergebnisses sicherstellen will, ist sie nicht wesentlich, sodass eine Unbeachtlichkeit des Fehlers nach § 46 (L)VwVfG bei Verletzung der Begründungspflicht möglich ist. Andernfalls ist die Verletzung der Begründungspflicht geeignet, zur Rechtswidrigkeit des VA zu führen, wenn es um die Sicherung wichtiger materieller Rechte durch Verfahrensvorgaben geht.
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Das Unionsrecht geht im Hinblick auf eine geringere gerichtliche Kontrolldichte in anderen Mitgliedstaaten von der Vorstellung aus, dass die materielle Richtigkeit einer Verwaltungsentscheidung durch ein konkretes Verwaltungsverfahren gesichert wird. Dies hat zur Folge, dass die Verletzung von Verfahrensregelungen nicht allein mit dem Hinweis auf die Kontrolldichte im gerichtlichen Verfahren für unbeachtlich erklärt werden kann.
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In der Mitteilung ist nach Art. 30 III 1 Freizügigkeits-RL in einer Rechtsbehelfsbelehrung anzugeben, bei welchem Gericht oder bei welcher Behörde der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann, innerhalb welcher Frist der Rechtsbehelf einzulegen ist und ggf. binnen welcher Frist er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat.
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Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen (Art. 30 III 2 Freizügigkeits-RL).
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Gegen die Entscheidung nach § 6 I müssen die Betroffenen nach Art. 31 I Freizügigkeits-RL einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und ggf. bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Wird neben dem Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wurde, auch ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, um die Vollstreckung dieser Entscheidung auszusetzen, so darf nach Art. 31 II Freizügigkeits-RL die Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet nicht erfolgen, solange nicht über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden wurde, es sei denn,
– die Entscheidung stützt sich auf eine frühere gerichtliche Entscheidung,
– oder die Betroffenen hatten bereits früher die Möglichkeit, eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen, oder
– die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit nach Art. 28 III Freizügigkeits-RL.
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Durch diese Verfahrensregelung, die mit § 7 II 5 umgesetzt wurde, wird die Vollzugsmöglichkeit der Behörden nach Anordnung des Sofortvollzugs nach § 80 II 1 Nr. 4 VwGO beschränkt. Der deutsche Gesetzgeber verzichtet dabei auf die in Art. 31 II Freizügigkeits-RL aufgeführten Ausnahmeregelungen, da er den Vollzug grundsätzlich erst nach einer Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 V VwGO ermöglicht.
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Im Rechtsbehelfsverfahren sind nach Art. 31 III Freizügigkeits-RL die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Es gewährleistet, dass die Entscheidung nicht unverhältnismäßig ist.
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Die Mitgliedstaaten können gem. Art. 31 IV Freizügigkeits-RL dem Betroffenen verbieten, sich während des anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens in ihrem Hoheitsgebiet aufzuhalten, dürfen ihn jedoch nicht daran hindern, sein Verfahren selbst zu führen, es sei denn, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit können durch sein persönliches Erscheinen ernsthaft gestört werden oder der Rechtsbehelf richtet sich gegen die Verweigerung der Einreise in das Hoheitsgebiet.
3. Vier-Augen-Prinzip
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Die Abschaffung der Widerspruchsverfahren führte vor Ablauf der Transformationsfrist der Freizügigkeits-RL zur zwingenden, unheilbaren Rechtswidrigkeit der Verlustfeststellungen wegen des Verstoßes gegen die verfahrensrechtliche Regelung des Art. 9 RL 64/221/EWG (sog. „Vier-Augen-Prinzip“), es sei denn, es hätte ein „dringender Fall“ iSv Art. 9 I RL 64/221/EWG vorgelegen. Nur in solchen dringenden Fällen kann von der Beteiligung einer zweiten Stelle ausnahmsweise abgesehen werden .
BVerwG Urt. v. 13.9.2005 – 1 C 7.04, BVerwGE 124, 217 (221) = InfAuslR 2006, 110; Urt. v. 6.10.2005 – 1 C 5.04, BVerwGE 124, 243 = InfAuslR 2006, 114; Urt. v. 20.3.2008 – 1 C 33.07.
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Im System der durch die RL 64/221/EWG verbürgten Verfahrensgarantien stellt das Merkmal der Dringlichkeit einen Ausnahmetatbestand dar. Als Ausnahme damit auch vom unionsrechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist dieses Merkmal besonders eng auszulegen. Ein dringender Fall kann sich daher nicht schon aus der mit einer Ausweisung stets verbundenen Gefährdung der öffentlichen Ordnung ergeben, sondern kann erst dann angenommen werden, wenn ein Zuwarten mit der Vollziehung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme im Einzelfall nicht zu verantworten ist. Ein dringender Fall kommt demnach nur in Betracht, wenn die begründete Besorgnis besteht, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren. Dann ist auch eine Verzögerung durch Einschaltung einer zweiten Behörde nicht hinnehmbar .
BVerwG Urt. v. 13.9.2005 – 1 C 7.04, BVerwGE 124, 217 = InfAuslR 2006, 110.
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Für alle Verlustfeststellungen, bei denen das Verwaltungsverfahren vor dem 30.4.2006 noch nicht abgeschlossen war, richtet sich das Verfahren nach der Unionsbürger-RL. Welche verfahrensrechtlichen Anforderungen bei aufenthaltsbeendenden Entscheidungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gegen Unionsbürger zu beachten sind, bestimmt sich nach der Freizügigkeits-RL, die die europarechtliche Vorgaben für die Ausweisung sowohl in formeller als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht neu regelt und nach Art. 38 II ausdrücklich die RL 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.4.2006 aufhebt.
107
Die Verfahrensregelungen finden sich nunmehr in Art. 31 Freizügigkeits-RL. Nach Abs. 3 dieser Bestimmung müssen im Rechtsbehelfsverfahren die Rechtmäßigkeit der Ausweisung sowie die Tatsachen und Umstände, auf denen sie beruht, überprüft werden können. Außerdem muss gewährleistet sein, dass sie insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gem. Art. 28 Freizügigkeits-RL nicht unverhältnismäßig ist. Damit enthält die Freizügigkeits-RL keine Bestimmung, die dem Art. 9 I RL 64/221/EWG entspricht.
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Der Wegfall des „Vier-Augen-Prinzips“ lässt sich auch aus der Entstehungsgeschichte der Freizügigkeits-RL belegen. Der ursprüngliche Vorschlag der RL vom 23.5.2001 sah unter Art. 29 II noch folgende Regelung vor :
„Ist der behördliche Weg vorgesehen, entscheidet die Behörde, außer bei Dringlichkeit, erst nach Stellungnahme der zuständigen Stelle des Aufnahmemitgliedstaates, vor der es dem Betroffenen möglich sein muss, auf seinen Antrag hin seine Verteidigung vorzubringen – es sei denn, dem stehen Gründe der Staatssicherheit entgegen – und nach den innerstaatlichen verfahrensrechtlichen Vorschriften Beistand zu erhalten oder sich vertreten zu lassen. Diese Stelle darf nicht die Behörde sein, die befugt ist, die in Absatz 1 genannten Entscheidungen zu treffen.“
KOM(2003) 199 endg., S. 36
Zur Begründung wurde auf S. 24 des Kommissionsvorschlags ausgeführt:
„Ein lückenloser Rechtsschutz schließt nicht aus, dass ein Mitgliedstaat vorsieht, dass ein Rechtsbehelf bei einer Behörde eingelegt werden kann. In diesem Fall müssen die in Art 9 der RL 64/221/EWG genannten Objektivitätsgarantien gegeben sein, insbesondere die vorherige Stellungnahme einer anderen Behörde, als der, die Einreiseverweigerung oder die Ausweisung verfügen soll, sowie Garantie in Bezug auf die Rechte der Verteidigung.“
Auch der geänderte Vorschlag für die Freizügigkeits-RL vom 15.4.2003 enthielt noch den an Art. 9 RL 64/221/EWG angelehnten Regelungsvorschlag.
111
Hat die Kommission an der Verfahrensregelung zunächst festgehalten, erschließt sich der Grund für deren Streichung aus einer Mitteilung der Kommission an das EU-Parlament betreffend den Gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass der Freizügigkeits-RL . Die Mitteilung, die in dem Protokoll vom 12.1.2004 (Nr. 5191/04) festgehalten ist, führt zu den Gründen der Streichung der Verfahrensregelung auf S. 15 Folgendes aus:
Zitat Start
„Ehemaliger Art 29 II: Der Rat hat mit Zustimmung der Kommission die Streichung dieses Absatzes beschlossen. Mit der Bestimmung wurde der Inhalt von Art 9 der RL 64/221/EWG aufgegriffen, wonach die Mitgliedstaaten, bevor sie eine Ausweisungsentscheidung treffen, eine unabhängige Behörde konsultieren müssen, wenn der Aufnahmemitgliedstaat keine Rechtsmittel vorsieht oder die Rechtsmittel nur zur Überprüfung der Gesetzmäßigkeit der Entscheidung dienen oder keine aufschiebende Wirkung haben. Da jedoch im gemeinsamen Standpunkt die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, stets vorzusehen, dass ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann (Art 31 I), bekräftigt wird, sich dieser Rechtsbehelf auf den Sachverhalt und die Umstände beziehen muss (Art 31 II) und die Aussetzung der Ausweisungsmaßnahme möglich ist (Art 31 III), ist der Rat im Einvernehmen mit der Kommission zu der Auffassung gelangt, dass dieser Absatz überflüssig ist.“
Aus der Entstehungsgeschichte der Freizügigkeits-RL lässt sich daher zweifelsfrei ableiten, dass willentlich von der Aufnahme einer Verfahrensregelung, die in Anlehnung an Art. 9 I RL 64/221/EWG ein „Vier-Augen-Prinzip“ festgeschrieben hätte, Abstand genommen wurde .
IE ebenso BVerwG Urt. v. 9.8.2007 – 1 C 47.06; NdsOVG Urt. v. 16.5.2006 – 11 LC 324/05, InfAuslR 2006, 350 ff.; VGH BW Urt. v. 18.10.2006 – 13 S 192/06, InfAuslR 2007, 49 ff. und Urt. v. 29.6.2006 – 11 S 2299/05, EZAR-NF 40 Nr. 5; BayVGH Beschl. v. 30.1.2006 – 24 B 05.1832
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Allein die Verletzung des Vier-Augen-Prinzips führt aber nicht dazu, dass der Ausländer nachträglich einen Anspruch auf Aufhebung der Ausweisung oder Verlustfeststellung nach § 48 (L)VwVfG hätte . Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen VA, wenn dessen Aufrechterhaltung „schlechthin unerträglich“ erscheint. Allein die Rechtswidrigkeit des VA begründet keinen Anspruch auf Rücknahme, da der Rechtsverstoß lediglich die Voraussetzung einer Ermessensentscheidung der Behörde ist. Das Festhalten an dem VA ist insbesondere dann „schlechthin unerträglich“, wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen .
BVerwG Urt. v. 20.3.2008 – 1 C 33.07.