Gesetz:
Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU)
Paragraph:
§ 7 Ausreisepflicht
Autor:
Maria Maximowitz
Stand:
Maximowitz in: OK-MNet-FreizügG/EU (01.08.2011)

I. Vorbemerkungen (3)

3. Einschränkung der nationalen Verfahrensautonomie /
Verfahrensrechte im Primärrecht

  • Anhörrecht
  • Akteneinsicht
  • Begründungspflicht
  • Rechtsschutz
  • angemessene Verfahrensdauer
  • Schadenersatz

Eine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Verfahrensvorschriften und Rechtsschutzsysteme ist auch mit dem Vertrag von Lissabon nicht erfolgt.
Art. 67 AEUV verweist auf die Rechtsgemeinschaft der Union und die verschiedenen Rechtsordnungen und –traditionen der Mitgliedstaaten.
Gem. Art. 291 Abs. 1 AEUV („Durchführungsrechtsakte“) ergreifen die Mitgliedstaate alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht.
Insoweit besteht auch die Konzession an die Verfahrens- und Prozessautonomie der Mitgliedstaaten.
Zum Prinzip der verfahrensrechtlichen Autonomie und der „Soweit-Formel“ vgl. Kopp/ Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl. 2010, Einf. II, Rn. 24 ff.

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist mangels einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung von Verfahren, die den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten.

Diese Verfahren sind in Einklang mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (vgl Art. 4 Abs. 3 AEUV) auszugestalten und dürfen

  • nicht weniger günstig gestaltet sein als bei entsprechenden Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz),
  • die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (st. Rspr. des EuGH, U. v. 14.12. 1995 - C-430/ 93 -, van Schijndel u.a., Slg. 1995, I-4705;
    Randnr. 17, EuGH, U. v. 9.12.2003 - C-129/ 00 -, Kommission/ Italien, Slg. 2003, I-14637, Randnr. 25;
    EuGH U. v. 07.01.2004 - C-201/02-, Wells, Slg. 2004 I-723 Rdnr. 67).

In Bezug auf den Effektivitätsgrundsatz ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Gemeinschaftsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (vgl. EuGH, U. v. 14. 12.1995 -C-312/ 93-, Peterbroeck, , Slg. 1995, I-4599, Randnr. 14, EuGH, U. v. 14.12. 1995 - C-430/ 93 -, van Schijndel u.a., Slg. 1995, I-4705 Randnr. 19).

Im Zweifel wird der EuGH hier im Sinne der Effektivität des Gemeinschaftsrechts intervenieren (vgl. Haltern, Dogmatik im Kontext, 2. Aufl., S.388 ff. in seiner Zusammenfassung der in drei Phasen entwickelten Rechtsprechung des EuGH zum Haftungsregime).

An seine ständige Rechtsprechung erinnerte der EuGH in seiner Entscheidung Orfanopoulos u. Oliveri:

„Es trifft zwar zu, dass die Ausgestaltung von Gerichtsverfahren, die den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten ist; gleichwohl dürfen diese Verfahren die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteile vom 16. Dezember 1976 in der Rechtssache 33/ 76, Rewe, Slg. 1976, 1989, Randnr. 5, und vom 9. Dezember 2003 in der Rechtssache C-129/ 00, Kommission/ Italien, Slg. 2003, I-0000, Randnr. 25).“

EuGH, U. v. 29.04.2004 - C-482/01 -, Orfanopoulos u. Oliveri, Slg 2004, I-5257

Europäischer Rechtsschutz gründet im Primärrecht aktuell auf Art. 2 und Art. 6 EUV, die Rechtsstaatlichkeit und justizielle Rechte garantieren. Substantielle Neuerungen ergeben sich hieraus im Vergleich mit den abgelösten Verträgen zunächst nicht.

Eine positive Verpflichtung enthält Art. 19 Abs. 1 EUV, wonach die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.

Recht auf wirksamen Rechtsbehelf
Art. 6 EUV verbindet nunmehr mit Art. 47 Grundrechtecharta. Die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig.
Gem. Artikel 47 Grundrechtecharta hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.
Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.

Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.
(Zur Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Effektivität vgl. zusammenfassend die Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi v. 02.09.2010 in der Rechtssache C-279/09)

Mit dem Recht auf wirksamen Rechtsbehelf geht Art. 47 GRC über die Gewährleistung des Art. 13 EMRK hinaus. Der dort geforderten Möglichkeit einer wirksamen Beschwerde war mit einer nationalen Instanz, die nicht zwingend ein unabhängiges Gericht sein musste, Genüge getan. Anders verhält es sich nunmehr bei Gewährleistung eines wirksamen Rechtsbehelfs vor den nationalen Gerichten.

Recht auf eine gute Verwaltung
Gem. Artikel 41 Grundrechtecharta besteht Recht auf eine gute Verwaltung.
Hiernach hat jede Person ein Recht darauf, dass ihre Angelegenheiten von den Organen und Einrichtungen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden. Dieses Recht umfasst insbesondere

  • das Recht einer jeden Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird;
  • das Recht einer jeden Person auf Zugang zu den sie betreffenden Akten unter Wahrung des legitimen Interesses der Vertraulichkeit sowie des Berufs- und Geschäftsgeheimnisses;
  • die Verpflichtung der Verwaltung, ihre Entscheidungen zu begründen.

Jede Person hat Anspruch darauf, dass die Gemeinschaft den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ersetzt, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind.

In den als Interpretationshilfen gegebenen Erläuterungen wird zu Artikel 41 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH ausgeführt, Artikel 41 sei auf das Bestehen der Union als eine Rechtsgemeinschaft gestützt, deren charakteristische Merkmale sich durch die Rechtsprechung entwickelt hätten, die unter anderem eine gute Verwaltung als allgemeinen Rechtsgrundsatz festgeschrieben habe Dieses Recht in der in den ersten beiden Absätzen dargestellten Form ergebe sich aus der Rechtsprechung. Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, das hierbei eine wichtige Rolle spiele, werde durch Artikel 47 der Charta gewährleistet.

Gem. Art. 51 Abs. 1 Grundrechtecharta ist der Anwendungsbereich der Charta bei „Durchführung des Rechts der Union“ eröffnet.
Zum Meinungsstand hinsichtlich der Durchführung von Unionsrecht bei nationaler Transformation von Unionsrichtlinien vgl. m.w.N. Bergmann, ZAR 2011, S. 41 ff. , Ziegenhorn, NVwZ 2010, 803 ff., Vorlagebeschluss des VGH BW v. 20.01.2011, 11 S 1069/10, EuGRZ 2011, 96.

Die Bezugnahme auf die Union als „Rechtsgemeinschaft“ und die der Auslegung zu Grunde gelegten Entscheidungen ließen den Schluss zu, dass zur Grundrechtsgewährleistung jede das Recht der Union durchführende Stelle verpflichtet ist.

Rspr. zur Begründungspflicht:
In der in den Erläuterungen zu Art. 41 Grundrechtecharta angeführten Rechtssache Heylens war der Angeklagte des Ausgangsverfahrens, ein belgischer Staatsangehöriger, beim französischen Verein Lille Olympic Sporting Club als Trainer einer Berufsfussballmannschaft eingestellt worden. Die Anerkennung seines belgischen Trainerdiploms war abgelehnt worden. Zur Begründung wurde auf eine negative Stellungnahme des zuständigen Ausschusses Bezug genommen, die selbst nicht mit einer Begründung versehen war. Da Herr Heylens seinen Beruf weiter ausübte, ließ der Berufsverband der Fußballtrainer ihn nebst den Vorstandsmitgliedern der Gesellschaft, die ihn eingestellt hatten, vor das Tribunal Correctionnel Lille laden.
Der EuGH führt zum Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal de Grande Instance Lille, Achte Strafkammer in Rdnr. 14 ff. aus (Hervorh. durch Verf.):

„Der freie Zugang zur Beschäftigung ist ein Grundrecht, das jedem Arbeitnehmer der Gemeinschaft individuell vom Vertrag verliehen ist; die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes hängt wesentlich davon ab, dass Entscheidungen einer innerstaatlichen Behörde, durch die die Gewährung dieses Rechts verweigert wird, vor Gericht angefochten werden können. Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Mai 1986 in der Rechtssache 222/84 (Johnston, Slg. 1986, 1651, 1663) anerkannt hat, stellt dieses Erfordernis einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der sich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ergibt und in den Art. 6 und 13 der Europäischen Menschenrechtskonventionen verankert ist.

Die Wirksamkeit der gerichtlichen Kontrolle, die sich auf die Rechtmäßigkeit der Begründung erstrecken können muss, setzt allgemein voraus, dass das angerufene Gericht von der zuständigen Behörde die Mitteilung dieser Begründung verlangen kann. Geht es jedoch wie im vorliegenden Fall im Besonderen um die Gewährleistung des effektiven Schutzes eines Grundrechts, das den Arbeitnehmern der Gemeinschaft vom Vertrag verliehen ist, müssen letztere dieses Recht auch unter den bestmöglichen Voraussetzungen geltend machen können, und es ist ihnen die Möglichkeit einzuräumen, in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für sie von Nutzen ist, vor Gericht zu gehen. Deshalb ist in einem solchen Fall die zuständige innerstaatliche Behörde verpflichtet, ihnen die Gründe, auf die ihre ablehnende Entscheidung gestützt ist, entweder in der Entscheidung selbst oder auf Antrag später bekanntzugeben.“

EuGH, U. v. 15. Oktober 1987 - Rs. 222/86 -, Heylens, Slg. 1987, 4097

Rspr. zum Anspruch auf rechtliches Gehör:
In Klageverfahren zwischen Mitgliedstaaten und der Kommission hatte der EuGH ausgeführt, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (vgl. die Urteile vom 10. Juli 1986 in den Rechtssachen 234/ 84 und 40/ 85, Königreich Belgien/Kommission, Slg. 1986, 2263 und 2321, sowie vom 11. November 1987 in der Rechtssache 259/ 85, Französische Republik/Kommission, Slg. 1987, 4393) die Gewährung rechtlichen Gehörs in allen Verfahren, die zu einer den Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen können, ein fundamentaler Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist und auch dann sichergestellt werden muss, wenn eine besondere Regelung fehlt.
Eine solche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör führe jedoch nur dann zu einer Beachtlichkeit, wenn das Verfahren ohne diese Verletzung zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.

EuGH, U. v. 14.02.1990 - C-301/87 -, Frankreich/Kommission, Slg. 1990, I-307

Magiera führt zum Recht auf gute Verwaltung aus Art. 41 GRC aus, anders als in der allgemeinen horizontalen Regelung über den Anwendungsbereich in Art. 51, der auch die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts einschließe, seien diese in der spezielleren Bestimmung des Art. 41 nicht genannt und deshalb auch nicht aus ihr verpflichtet. Unberührt bleibe jedoch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beachtung der Grundsätze einer guten Verwaltung aufgrund des europäischen Vertragsrechts sowie der dazu ergangenen Rechtsprechung der europäischen Gerichtsbarkeit (Magiera, m.w.N. in: Meyer (Hrsg.), 3. Auflage, Art. 41 Rn. 9).

Für Jarass gilt es, die Rechtsprechung des EuGH abzuwarten. Auch wenn die Verfahren der Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut, selbst wenn sie Unionsrecht durchführen, nicht erfasst würden, ergäben sich im Bereich der Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten ganz ähnliche Pflichten aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Besonders fragwürdig sei die Nichtanwendung des Art. 41 Abs. 1, 2 im Bereich des Verwaltungsverbundes zwischen Union und Mitgliedstaaten. Das spreche dafür, Art. 41 über den Wortlaut hinaus analog anzuwenden. Andererseits seien Recht auf Schadenersatz und Sprachenrecht aus Abs. 3 auf die Mitgliedstaaten bei Durchführung von Unionsrecht nicht anwendbar (Jarass m.w.N, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2010, Art. 41, Rn. 10).

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