Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 1. Februar 2007 – BVerwG 1 C 24.06 – eine grundsätzliche Entscheidung zur inländischen Fluchtalternative für Tschetschenen ohne gültigen Inlandspass in verfolgungsfreien Regionen der Russischen Föderation getroffen. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 31. März 2006 wurde aufgehoben. Die Sache wurde zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
1 Der Kläger begehrt seine Anerkennung als Flüchtling nach § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) im Hinblick auf eine ihm in der Russischen Föderation drohende Verfolgung.
2 Der in Grosny (Tschetschenien) geborene ledige Kläger ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation. Er bezeichnet sich als tschetschenischen Volkszugehörigen islamischen Glaubens. Nach eigenen Angaben reiste er im Januar 2004 auf dem Landweg nach Deutschland ein. Hier beantragte er seine Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung trug er im Wesentlichen vor, er habe in seiner Heimat tschetschenische Kämpfer mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt. Dabei sei er von russischen Soldaten festgenommen, misshandelt und gefoltert worden. Er habe jedoch fliehen können. Zunächst habe er sich einen Monat lang in Inguschetien versteckt. Da ihn aber russische Behörden gesucht hätten, sei er aus Russland nach Deutschland geflohen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte den Asylantrag ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung in die Russische Föderation an.
3 Das Verwaltungsgericht hat das Bundesamt zu der Feststellung verpflichtet, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Es hat den Bescheid des Bundesamtes aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.
4 Mit seiner Berufung hat sich das Bundesamt gegen die Verpflichtung zur Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG gewandt, weil dem Kläger in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es sinngemäß ausgeführt: Es könne dahingestellt bleiben, ob der Kläger in seinem Heimatland eine Vorverfolgung erlitten habe, denn er sei als Tschetschene jedenfalls gegenwärtig im Fall einer Rückkehr der Gefahr einer Gruppenverfolgung ausgesetzt, der die gesamte Zivilbevölkerung in Tschetschenien unterliege. Zwar habe tschetschenischen Asylbewerbern bis zum Ablauf des Juni 2004 eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation zur Verfügung gestanden. Diese sei mittlerweile jedoch für Tschetschenen ohne gültigen Inlandspass entfallen. Hierzu zähle der Kläger, dessen in Grosny ausgestellter Ausweis bis zum 31. Dezember 2004 befristet gewesen sei. Ohne gültigen Inlandspass sei keine Registrierung an einem Zufluchtsort innerhalb der Russischen Föderation möglich. Nur die Registrierung gewähre jedoch ein Aufenthaltsrecht und den Zugang zu Sozialleistungen. Die vorgeschriebene Beantragung des Passes an seinem letzten Wohnort in Tschetschenien sei dem Kläger wegen der dortigen Sicherheitslage und der ihm dort drohenden Verfolgungsgefahr nicht zumutbar.
5 Hiergegen wendet sich das Bundesamt mit seiner Revision.
6 Die Revision, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist begründet. Die Entscheidung des Berufungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Die Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts zur notwendigen Verfolgungsdichte bei einer Gruppenverfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG genügen nicht den Anforderungen, die vom Bundesverwaltungsgericht hierzu entwickelt worden sind (1.). Im Übrigen legt das Oberverwaltungsgericht seiner Entscheidung unzutreffende Maßstäbe für eine inländische Fluchtalternative zugrunde (2.). Für eine abschließende Entscheidung des Senats dazu, ob der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG hat, fehlt es an ausreichenden Tatsachenfeststellungen. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
7 1. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. zuletzt Urteil vom 18. Juli 2006 BVerwG 1 C 15.05 NVwZ 2006, 1420 zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung vorgesehen m.w.N.). Danach kann sich die Gefahr eigener Verfolgung des Flüchtlings nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Volkszugehörigkeit anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche/inländische Fluchtalternative besteht, die im Falle einer drohenden Rückkehrverfolgung vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss. Diese Grundsätze gelten prinzipiell auch für die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, wie sie nunmehr durch das Zuwanderungsgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG).
8 Ob die Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung in einem bestimmten Herkunftsstaat vorliegen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (Urteil vom 18. Juli 2006, a.a.O. Rn. 24).
9 Diesen Anforderungen wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das Oberverwaltungsgericht hätte bei seiner Ermittlung der Verfolgungsdichte zwischen Verfolgungsschlägen differenzieren müssen, die unter Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale von den russischen Streitkräften und den mit ihnen verbundenen tschetschenischen Kräften ausgehen, und solchen, die von der tschetschenischen Widerstandsbewegung ausgehen. Denn nur für die beiden erstgenannten Verfolger stellt das Oberverwaltungsgericht fest, dass sich deren Übergriffe gegen die in Tschetschenien verbliebene Zivilbevölkerung als Verfolgung sowohl wegen ihrer Ethnie als auch wegen ihrer vermuteten politischen Überzeugung darstellen (UA S. 27). Bei der Feststellung der Dichte der Verfolgungsschläge bezieht die angegriffene Entscheidung jedoch auch Guerilla-Aktivitäten und Geiselnahmen sowie Exekutionen von Zivilisten durch „Rebellen“ (UA S. 21) und „terroristische Aktionen“ der „tschetschenischen Widerstandsbewegung“ (UA S. 23) ein. Dass auch diese Übergriffe unter Anknüpfung an die Ethnie oder ein anderes asylerhebliches Merkmal der tschetschenischen Zivilbevölkerung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG erfolgen, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Das Oberverwaltungsgericht wird daher bei seiner erneuten Befassung zu untersuchen und nachvollziehbar darzulegen haben, ob die als asylrelevant im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG qualifizierten Verfolgungsschläge gegen die Zivilbevölkerung in Tschetschenien eine solche Dichte aufweisen, dass für jeden dort ansässigen Tschetschenen die begründete Furcht vor eigener Verfolgung gerechtfertigt erscheint.
10 2. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts war auch deshalb aufzuheben, weil sie Maßstäbe für eine inländische Fluchtalternative zugrunde legt, die von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abweichen.
11 Das Oberverwaltungsgericht hat eine Fluchtalternative in verfolgungsfreien Regionen der Russischen Föderation für Tschetschenen ohne gültigen Inlandspass bereits deshalb verneint, weil der Inlandspass Voraussetzung für die Registrierung und damit für die Gewährung von Aufenthaltsrechten und den Zugang zu Sozialleistungen sei (UA S. 29 f.). Nach den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätzen bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche Existenzminimum aber in aller Regel dann, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können (Beschluss vom 21. Mai 2003 BVerwG 1 B 298.02 Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 270, gleichlautend mit Beschluss vom gleichen Tag BVerwG 1 B 263.02 juris). Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können. Nicht zumutbar sind hingegen die entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation, die in der fortgesetzten Begehung von oder Teilnahme an Verbrechen besteht. Ein verfolgungssicherer Ort, an dem das wirtschaftliche Existenzminimum nur durch derartiges kriminelles Handeln erlangt werden kann, ist keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschlüsse vom 17. Mai 2006 BVerwG 1 B 100.05 juris, Rn. 11 und vom 9. Januar 1998 BVerwG 9 B 1130.97 juris, insoweit gleichlautend mit dem nicht veröffentlichten Beschluss vom 12. März 1998 BVerwG 9 B 765.97).
12 Von diesen Maßstäben ausgehend hätte das Oberverwaltungsgericht vorliegend prüfen müssen, ob der Kläger seine Existenz am Ort der Fluchtalternative auch ohne förmliche Gewährung eines Aufenthaltsrechts und ohne Inanspruchnahme staatlicher Sozialleistungen in zumutbarer Weise etwa im Rahmen eines Familienverbandes sichern kann. Ein Leben in der Illegalität, das den Kläger jederzeit der Gefahr polizeilicher Kontrollen und der strafrechtlichen Sanktionierung aussetzt, stellt keine zumutbare Fluchtalternative dar. Die erforderliche Prüfung wird das Oberverwaltungsgericht nunmehr nachzuholen haben. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass die Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative nunmehr am Maßstab des Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG zu messen ist. Denn diese Vorschrift ist infolge Ablaufs der Umsetzungsfrist der Richtlinie am 10. Oktober 2006 (Art. 38 Abs. 1) unmittelbar anwendbar."
Die Entscheidung ist für Mitglieder als pdf-download auf der Datenbank erhältlich.