Niederländische Integrationspolitik vor neuen Herausforderungen
AMSTERDAM / BERLIN - Am 31. Mai 2005 war die niederländische Politikerin, Islam-Kritikerin und Weggefährtin Theo van Goghs Ayaan Hirsi Ali bei Sandra Maischberger in ihrer ARD-Talkshow "Menschen bei Maischberger" zu Gast. Seit der Ermordung des Filmemachers van Gogh im November 2004 bedrohen sie Islamisten mit dem Tod. Sie steht deswegen unter Personenschutz. "Wir müssen uns zur Wehr setzten, wenn wir unsere westlichen Werte erhalten wollen", mahnt die gebürtige Somalierin, die in ihrer Heimat zwangsverheiratet wurde und nach Holland floh. Ayaan Hirsi Ali fordert eine Politik, die Einwanderer zur Integration zwingt. Das Modell in ihrem neuen Heimatland, den Niederlanden, das lange als vorbildlich galt, scheint derweil gescheitert zu sein.
Auf die Ermordung Theo van Goghs, deren ein Marokkaner aus radikal-islamischem Umfeld beschuldigt wird, folgte eine Welle von Gewalt gegen religiöse, insbesondere islamische Einrichtungen in den Niederlanden. Dies sorgte für großes Entsetzen im In- und Ausland. In den Niederlanden wurde seit Ende der 1970er Jahre eine so genannte Minderheitenpolitik praktiziert, die die Förderung und Emanzipation ethnischer Gemeinschaften als zentrales Element umfasste. Sie traten in dem niederländischen Gesellschafts- und Staatsbild, das dem Säulenmodell der Europäischen Union gleicht, gleichberechtigt neben die anderen kulturellen, religiösen oder politischen Gruppen, und alle Säulen gemeinsam tragen das Staatsgebäude. Das Niederländische Modell sah in Umsetzung dieser politischen Vorstellung für jede ethnische oder religiöse Minderheit das Anrecht auf eigene Schulen, eigene Radiosender oder eigene von der Regierung anzuhörende Beratungsorgane vor. 1985, lange bevor es das Recht der Europäischen Gemeinschaften vorsah und auch über den dort später bestimmten Rahmen hinaus, wurde Ausländern das Kommunalwahlrecht verliehen. Eine kaum Beschränkungen unterworfene Einwanderungspolitik, frühzeitiger Eintritt in die Debatte um die Einführung eines Antidiskriminierungsgesetzs und das Streben nach Konsens und Toleranz in immigrations- und integrationspolitischen Fragen waren ebenfalls Ausdruck der niederländischen Integrationspolitik in Zeiten, als die deutsche Integrationspolitik insbesondere nach den ausländerfeindlichen Übergriffen zu Beginn der 1990er Jahre als defizitär, misslungen und weniger erfolgreich als die der europäischen Nachbarn eingeschätzt wurde.
Fraglich ist, ob das niederländische Integrationsmodell nunmehr wirklich als gescheitert anzusehen ist oder ob der Abgesang darauf zu früh kommt. Zunächst ist festzuhalten, dass bereits in den 1990er Jahren und nicht erst mit der Ermordung van Goghs Kritik an der niederländischen Integrationspolitik laut geworden war. Es war der Vorwurf des Kulturrelativismus zu hören, der, dass auf grundlegende Werte und Normen der niederländischen Gesellschaft keine Rücksicht genommen worden sei. Am anderen Ende der Kritikerreihe standen diejenigen, die eine wirtschaftliche und soziale Schlechterstellung der ethnischen Minderheiten in den Niederlanden als Ergebnis der positiven Diskriminierung geißelten. Aus dieser Stimmung zog auch der Populist Pim Fortuyn Profit. Politiker, Medien und betroffenen Organisationen schilderten Fortuyn als einen niederländischen Haider oder Le Pen. Seine Ideen wurden als gefährlich angesehen; er selbst sah sich allerdings nicht als extrem rechten Politiker und auch nicht als einen liberalistischen Populisten. Am 6. Mai 2002 erschütterte die Niederlande der Mord an Fortuyn; schon damals herrschte in der Bevölkerung Fassungslosigkeit darüber, dass das liberale Gesellschaftsmodell solche Taten nicht verhindern konnte.
Ende 2002 setzte das niederländische Parlament eine Untersuchungskommission ein, die sich mit der Frage beschäftigen sollte, warum die Integrationspolitik der vergangenen dreißig Jahre gescheitert sei. Vergleichende empirische, soziologische und weitere wissenschaftliche Studien ergaben unter anderem, dass andere europäische Staaten, unter anderem auch Deutschland, entgegen der landläufigen Meinung zum Teil bessere Integrationserfolge vorweisen konnten. Es erschien vöölig unverständlich, dass die sozio-ökonomische Integration von Migranten in Deutschland ohne eine spezielle Integrationspolitik anscheinend erfolgreicher verlaufen war als in den Niederlanden mit ihrer langer integrationspolitischer Tradition. Ursachen wurden z. B. in der Funktionsweise des Arbeitsmarktes und sonstigen allgemeinen Parametern gesucht. Der Blick schwenkte weg von Konzepten wie dem Multikulturalismus hin zu einer Diskussion über die Integration von Migranten, die derzeit so stark auf kulturelle Aspekte und die Idee einer stärkeren Anpassung von Migranten fokussiert ist, dass einige befürchten, die bisher in den Niederlanden hochgehaltene Toleranz könnte teilweise aus den Augen verloren werden. Die Zukunft der niederländischen Integrationspolitik ist jedoch noch offen, und der Stab über ihre Erfolge oder Misserfolge in der Vergangenheit ist (hoffentlich) noch nicht gebrochen.