Die Verfasserin ist britische Fotografin und verbrachte den April 2002 in Caulonia um mit der Theaterregisseurin Karen Witthuhn, das Leben der in der Region verbliebenen Einwohner in Bild und Ton zu dokumentieren. Die entstandene Ausstellung mit dem Thema ?Radici? wurde im August 2004 mit Unterstützung des Goethe Instituts Berlin in der Italienischen Botschaft Berlin (Kulturinstitut) gezeigt. Zur Eröffnung kamen Einwohner aus Caulonia und kochten und musizierten traditionell. Im Dezember wird die Ausstellung in Caulonia zu sehen sein. Lucy Jones wird das Projekt ?Wurzeln? in Brandenburg fortsetzen. Weitere Informationen hierzu bietet www.virtual-home.info.
Caulonia Superiore ist ein mehr oder weniger typisches kalabresisches Dorf in einer der ärmsten Regionen Italiens. Nicht nur das Dorf mutet altertümlich an, sondern auch seine Bewohner. Untypisch für diese Region ist, dass man die Mafia seltener spürt ? es ist einfach zu schwierig hier unbemerkt hereinzukommen. Hoch auf einem Berg wirkt das Dorf, als hätte es sich optisch an seine Bewohner angepasst. Arbeitslosigkeit und ausbleibende Investitionen haben zur Folge, dass seit Jahrzehnten die Jugend in den Norden Italiens oder ins Ausland abgewandert ist. Touristen fliegen nicht in Massen bis an des Stiefels Spitze ? warum auch, wenn man mit dem Auto in wenigen Stunden die Lombardei oder die Toskana erreicht. Anziehende Städte wie Rom und Venedig gibt es hier nicht.
Die Volkszählung der offiziellen Caulonia-Website zeigt, dass die Bevölkerung um dreißig Einwohner jährlich schrumpft. Das erscheint auf den ersten Blick nicht viel; das Ausmaß wird jedoch deutlich, wenn man beachtet, dass auf diese Weise die Bevölkerung seit 1951 um 40% zurückgegangen ist. Kunstprojekte wie ?Shrinking Cities? zeigen, dass dieser Trend nicht nur Städte in abgelegenen Regionen Italiens betrifft. Ganze Teile des Ostens Deutschland und vieler weiterer Regionen Europas sterben aus. ?Es gibt zwar keine spektakulären Dokumentationen des Massenexodus (aus Ostdeutschland; die Verfasserin), niemand klettert über Mauern und Maschendrahtzäune (?). Die Statistiken sind aber nicht weniger dramatisch,? sagt Ulrike Steglich. Es geht um a) 1 Million, b) 1,3 Millionen und c) 20-25%; der Schlüssel hierzu: a) abgewanderte Menschen b) leer stehende Wohnungen c) Arbeitslosenquote.
Caulonias Exodus fand über einen langen Zeitraum statt und das Dorf hat diese Entwicklung schon einmal mitgemacht. Die Bevölkerungszahl nach der letzten Zählung von 1999 liegt mit 7.394 Einwohnern nur knapp unter der von 1881. Zwischen 1890 und 1914 verließen 4 Mio. Italiener ihre Heimat in Richtung Amerika. Damals zählte Italien etwa 30 Mio. Einwohner, woraus sich in diesem Zeitraum eine Abwanderungsquote von 12 % ergibt. Halle bei Leipzig hat in den letzten 13 Jahren 25 % seiner Bevölkerung verloren ? das ist eine dramatische Entwicklung.
Es gibt keine Statistik über Bildung auf der Website von Caulonia, aber nach dem ich einen Monat dort verbracht hatte, war mir klar, dass diejenigen, die nicht auswandern ? wie in Ostdeutschland ? die weniger qualifizierten sind. Zumindest sind sie nach den Maßstäben einer modernen Gesellschaft ?wenig qualifiziert?. Enzo ist ein gutes Beispiel für die Diskrepanz zwischen Arbeitsangebot und Bildung in der Region. Er ist ein gut erhaltener 50ger mit tiefgebräuntem Gesicht von der täglichen Arbeit in der Sonne, der einst Kunst studierte und nun Fahrbahnlinien für die örtliche Straßenmeisterei malt.
Warum sollte man auch nicht Kunst studieren, wenn man schon von klein auf in der Schule mitbekommt, dass sich nach erfolgreicher Ausbildung die Lebensperspektive in Ziegenhüten, Bauhelfer oder Arbeitslosigkeit erschöpft? Warum sollte man Programmierer oder Webdesigner werden? Gerade wo der einzige ? sehr langsame ? Internetzugang der Gemeinde in der öffentlichen Bibliothek (ein kleiner Raum mit Büchern über die Geschichte Caulonias) nur mittwochs von 15.30-18.30 besteht. Caulonia ist voll von Kunst und Geschichte. Es gibt acht Kirchen, die immer geöffnet sind. Sie sind prachtvoll geschmückt mit Statuen und Fresken sogar aus Byzantinischer Zeit. In der Immacolata-Kirche traf ich auf den 26jährigen Emilio, der aus Rom für die Osterferien gekommen war. Er skizzierte gerade die Füße einer hölzernen Statue mit dem Titel ?Christus auf der Säule?, kunstvoll gedreht und an den Händen um einen Säule gefesselt. Bei unserem Gespräch über die Statue war er voll Ausdruckskraft und Sensibilität für die Kunst des Handwerks.
Leere und Bevölkerungsschwund haben gerade in einer Wachstumsgesellschaft gravierende negative Begleiterscheinungen. Dennoch erfuhr ich in Caulonia eine Welle von Kreativität. Durch die Möglichkeit in Ruhe nachzudenken, den Frieden, den verlangsamten Informationsfluss und die Art der Menschen konnte ich mich hier auf meine Arbeit konzentrieren. In erster Linie hielt ich mit meiner Fotografie Rituale fest ? in Familien in Kirchen, im Austausch untereinander, Individuen mit Würde und Geschichte. Trotz des Verfalls des Dorfes funktioniert die innere Gemeinschaft, die sozialen Strukturen sind intakt. Ein Highlight in Caulonia ist die Arbeit der Theatergruppe ?Proskenion? (griechisch: Schnittstelle zwischen Bühne und Publikum) von Claudio La Camera. Gegen den Migrationsstrom ist die Gruppe kürzlich ganz nach Caulonia gezogen und veranstaltet dort Sommer-Workshops - einer davon mit dem international renommierten Regisseur Eugenio Barba in der Nähe von Scilla. Proskenion bezieht die piazze, alte Gemäuer und verlassene Häuser in die Arbeit mit den Bewohnern mit ein. Jeder Winkel im Ort wird zur Bühne. Die Ideologie hinter diesem Projekt ist, die Caulonesi so weit wie möglich Teil der Aufführung werden zu lassen ? sie sollen nicht bloß zuschauen. Örtliche Darsteller spielen in Ledermasken Charaktere der Comedia Dell?Árte, wie Pucinella oder Il Professore, und kommen ? gewöhnlich zur Abendessenzeit - in die Häuser Ihrer Nachbarn. Jedes mal, wenn ich eine Weile auf der Piaza Mese stand, begegnete mir eine Figur, den sie Il giudice mondiale ? Richter der Welt - nennen. Er sabberte seine Verschwörungstheorien durch die Zahnlücken. Er ist einer von hier, so um die Siebzig mit einem sehr starken Ausdruck von Ekel im Gesicht ? Leben spielte Kunst spielte Leben. Die Quelle meiner Inspiration war mir gleich, ich eilte nachts nach hause und kritzelte Notizen in mein Notizbuch.
Für manche Caulonesi hat Proskenion mit der Kunst auch Cash gebracht. Das ist kein Zufall, sondern von La Camera so beabsichtigt. Er brachte Giovanna Puccio und ein paar Freundinnen dazu, für die Schauspieler zu kochen. Giovanna organisierte daraufhin mit den anderen Frauen die Schlüssel der verlassenen und vermietete sie an die Künstler. Wo ich untergebracht war, lagen noch Fotos und persönliche Dinge auf den Tischen ? man schlüpfte in die Rolle des unbekannten ? ausgewanderten ? Besitzers. Nur anhand der Fotos konnte man die Abreise ungefähr in den 70er Jahren datieren. Die Stärke des Unternehmens Proseknion ist, dass es auf lokale Strukturen zurückgreift um Künstler und Einwohner in Kontakt zu bringen. Giovanna und ihre Freundinnen werden unterstützt, ein Geschäft aus Ihrer täglichen Hausarbeit zu machen.
Stellen wir uns Halle im Jahre 2024 vor. Die Plattenbauten sind halb verfallen, weil sie viele Jahre leer standen und kein Geld zum Abriss vorhanden ist, aber ein paar alte Sturköpfe wohnen immer noch in einem Teil des zweiten Stockwerks ohne Fensterglas und mit vernagelten Eingängen. Eine Theatergruppe bezieht hier Quartier und bewohnt mit den Schauspielern für ein paar Wochen weitere leer stehende Wohnungen, von wo aus sie ihre Workshops organisieren und abends kommen Leute und kochen Ihnen dort Ihr Essen. Eine andere Gruppe zieht in den dritten Stock und richtet sich ein provisiorisches Studio ein ? aber Moment mal ? wir brauchen uns das nicht vorzustellen.
Wir müssen uns die Entwicklung in Berlin seit der Wende anschauen. Große Teile der Stadt standen plötzlich leer und dieser Leeraum wurde von Künstlern aller Sparten für die verschiedensten Veranstaltungen ?zwischen? genutzt. Im Tacheles, dem riesigen verlassenen und verfallenen Kaufhaus auf einem Filetgrundstück in Mitte. Bereits in den 90gern besetzten Künstler den Bau und richteten dort ihre Studios ein, um den Abriss zu verhindern. Nun arbeitet hier eine findige, geschäftstüchtige Gemeinschaft von Eisen- und Farbenrecyklern mit öffentlichen Mitteln, die sich selbst als ?Künstler und Individualisten aus der ganzen Welt, die die Vielfältigkeit des freien Raums zur Probe alternativer Lebensstile nutzen? verkaufen. Ein erst kürzlich wiedererlangter Teil Berlins ist der Palast der Republik. Die Organisation, die die Räume Künstlern zur Verfügung stellt, einen wirklichen ?Volkspalast? daraus zu gestalten, trägt trefflicher Weise ein in Berlin in den letzten 15 Jahren oft gebrauchtest Wort als Namen: ?Palast Zwischen Nutzung?. Eine wohlwollende Bezeichnung für die Zeit in der Künstler Touristen in Schlauchboten durch das dem Abriss geweihte DDR-Denkmal schippern und einen Golf-Kurs anbieten. Das ein bezeichnendes Moment in dem Berliner Phänomen ?Performance Kunst?: Man muss nur dort gewesen sein - hierin liegt die Kunst. Bei diesen Events trifft sich nicht nur der eingeweihte Kreis. Bisher paddelten 30.000 Besucher durch die Palastflure. Die Akteure suchen verzweifelt nach dem Nutzen ihrer Performance. Es ist schon beachtlich ? mancher hält es gar für zukunftsorientiert ? dass das nicht mehr sehr wohlhabende Land Berlin diese experimentelle Konzeptkunst mit kräftigen Zuschüssen fördert und so einen wahren Kunst-Boom inszeniert. Wer wird denn auch die 1,2 Mio. Besucher der MoMA ignorieren, die vor der Neuen Nationalgalerie campierten um eine Eintrittskarte zu ergattern? Vierzehn von ihnen waren übrigens Caulonesi, die zur Vernissage der Ausstellung ?Radici !? in der Italienischen Botschaft angereist waren und ihr Anführer war Enzo.
Es ist optimistisch zu hoffen, mit Kunst die gähnende Leere Ostdeutschland zu füllen. Wahrscheinlich wird man hier großen Flächen ungenutzten Raums einebnen und neu begrünen. Während in Caulonia das Leben allmählich versiegt, werden die neuen deutschen Länder dezimiert. Die Leute haben kaum Zeit einander zu verabschieden und wenn sie einmal zurückkehren, um sich in ihrer Heimat zu treffen, gibt es keine Orientierungspunkte mehr. Die Topographie ist bis zur Unkenntlichkeit saniert. Im Gegenteil dazu hat sich Caulonia über Jahrzehnte nicht verändert und Hunderte kehren zu Ostern und Weihnachten aus der ganzen Welt in die Gemeinde zurück, in der sie groß wurden. Jean Améry hat geschrieben: ?Heimat ist eine Gleichung: je weniger man sie hat, desto mehr braucht man sie.? Ein ernsthafter Anspruch an Kunst wäre diese Heimat zu schaffen.
Lucy Jones, Berlin (www.the-real-jones.com)
Zur Vertiefung:
Magazine 4 of Die Kulturstiftung des Bundes