Brüssel/Ankara/Berlin - Am Ende der Woche steht fest: die Europäische Union (EU) will mit der Türkei am 3. Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen aufnehmen. Diesem Ergebnis gingen harte Verhandlungen zwischen EU und Türkei sowie zahllose zum Teil heftig geführte Debatten zwischen und in den EU-Staaten voraus.
Die EU rang sich auf dem Gipfel der Mitgliedstaaten am Freitag zu der positiven Entscheidung gegenüber der Türkei durch, ließ aber keinen Zweifel daran, die Beitrittsverhandlungen nur aufnehmen zu wollen, wenn bis zum Stichtag Bewegung in die Zypern-Frage gekommen sei. Von der Erwähnung anderer möglicher Formen der Kooperation mit der Türkei als der Mitgliedschaft, wie sie von einigen Mitgliedstaaten gefordert worden war, in ihrer Entschließung sah die EU ab. Aus der Entschließung geht - was europarechtlich selbstverständlich ist - hervor, dass die Verhandlungen nicht automatischen einen Anspruch auf die Mitgliedschaft entstehen lassen. Vielmehr kann im Falle fehlender Erfüllung von Voraussetzungen der Prozess ausgesetzt oder im Falle schwerwiegender Verfehlungen sogar abgebrochen werden. Am Mittwoch hatte sich das Europäische Parlament mehrheitlich für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ausgesprochen.
Die türkische Seite war weder während der Verhandlungen noch über deren Ergebnisse in Euphorie geraten. Informierten Kreisen zufolge soll der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan, der nach Brüssel angereist war, um die Verhandlungen in der heißen Phase selbst zu führen, bei der Diskussion über das Problem der Haltung der Türkei gegenüber Zypern sogar mit Abbruch der Gespräche und Abreise gedroht haben. In diesem Verhalten dürfte eine Konzession an die europaskeptischen Kräfte in der Türkei zu sehen sein, die auch dort in nicht unerheblichem Maße existieren; im Übrigen hatte sich Erdogan schon im Vorfeld unter Berufung auf EU-Kommissar Günter Verheugen dagegen gewehrt, dass die Zypern-Frage als weitere Hürde für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen etabliert werde. Der Konflikt um Zypern, das 1974 durch den Einmarsch türkischer Streitkräfte geteilt wurde, gilt als die mpfindlichste Stelle der Türkei in der Außenpolitik. Nach Ansicht der Türkei war die Invasion erforderlich, um Übergriffe der griechischen Bevölkerungsmehrheit Zyperns auf die türkische Minderheit vorzubeugen. Die Türkei hatte sodann den nördlichen, von der türkischen Minderheit auf Zypern bewohnten und von den türkischen Truppen kontrollierten Teil der Insel als Staat anerkannt. Von jeglichem anderen Staat blieb Nordzypern die Anerkennung versagt. Der südliche Teil Zyperns wurde am 1. Mai 2004 EU-Mitglied, nachdem zuvor aufgrund der ablehnenden Haltung der griechischen Bevölkerung das Referendum über einen UN-Friedensplan gescheitert war.
Die deutsche Bundesregierung hatte sich in der Vergangenheit klar für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit dem Ziel einer uneingeschränkten Mitgliedschaft der Türkei in der EU positioniert. Es gehe darum, der Modernisierung und Demokratisierung der Türkei einen weiteren Impuls zu geben. Das Interesse am Beitritt der Türkei ist nach Ansicht von Bundesaußenminister Joschka Fischer ein vorwiegend geopolitisches, wie es auch bei der Aufnahme der Türkei in die NATO vorgeherrscht habe. Als realistisch für den frühestmöglichen Beitrittszeitpunkt sieht das Auswärtige Amt einen Zeitpunkt zwischen 2015 und 2020 an, wobei im Anschluss an einen Beitritt noch Übergangsfristen bis zur Gewährung von Rechten wie der vollen Freizügigkeit für türkische Staatsangehörige gelten würden.
Die Türkei hat schon seit 41 Jahren ein besonderes Verhältnis zur heute so bezeichneten Europäischen Union. 1964 wurde zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der Türkei das erste Assoziationsabkommen geschlossen, das die Förderung der Wirtschaftsbeziehungen bis hin zu einer Zollunion vorsah (englische Fassung im pdf-Format) 1995 wurde die definitive Phase, wie sie in dem Abkommen von 1964 vorgesehen war, erreicht (Decision No 1/95 of the EC-Turkey Association Council of 22/12/1995 on implementing the final phase of the Customs Union (englische Fassung im .pdf-Format).
2001 und 2003 verabschiedete der Rat der Europäischen Gemeinschaften weitere Absichtserklärungen und definitorische Akte bezüglich eines beitrittsbezogenen Assoziationsabkommens mit der Türkei, welches wie bei allen neuen Mitgliedsstaaten mit noch stärkerer wirtschaftlicher und sonstiger (z. B. in Sachen institution building) Hilfe für Türkei einherginge. Die Stimmen, die die Notwendigkeit des definitiven Abschlusses eines solchen Abkommens nach über vierzig Jahren als nunmehr unausweichlich ansahen, mehrten sich.
Wie in Deutschland die CDU unter Angela Merkel erwägen auch Stimmen aus anderen Staaten eine andere Art der Annäherung als eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU: Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac beispielsweise ließ trotz seiner Übereinstimmung mit Bundeskanzler Schröder darin, dass Verhandlungsziel die Mitgliedschaft sei, nicht unerwähnt, dass schon jetzt für den Fall der Nichterfüllung der Mitgliedschaftsvoraussetzungen seitens der Türkei über andere Modelle einer verstärkten Zusammmenarbeit nachgedacht werden müsse.
Damit sollte die Frage beantwortet werden, welche Folgen es hätte, wenn allein mit dem Ziel einer uneingeschränkten Mitgliedschaft verhandelt würde und deren Voraussetzungen am Ende des Prozesses nicht vorlägen. Das Problem eines solchen Modells, das in der CDU-Terminologie "privilegierte Partnerschaft" heißt, liegt im Fehlen einer Definition dessen, was sein Inhalt sein soll: in Anbetracht der geschilderten völkerrechtlichen Vertragsbeziehungen zwischen der EU und der Türkei und der damit einhergehenden Wirtschaftsförderung seitens der EU bleibt unklar, was für ein Mehr eine privilegierte Partnerschaft dem status quo gegenüber noch mit sich bringen soll.
Eines dürfte schon heute feststehen: die öffentliche Debatte in Deutschland, aber auch in anderen euorpäischen Ländern, zum Beispiel Großbritannien, über den EU-Beitritt der Türkei, die zum Teil geradezu hysterisch geführt wurde, kommt zum einen zu früh und entbehrt zum anderen einer gefestigten Grundlage. Dies zeigt nicht zuletzt ein vergangene Woche von der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Marieluise Beck vorgestellte Studie unter dem Titel "Verschiedene Welten leben" kommt zu dem Ergebnis, dass junge Migrantinnen bildungswilliger und flexibler sowie integrationsbereit sind und sich nicht durch ihre Familienbindungen an der Integration hindern lassen oder auch nur in ihr behindert fühlen. Fakt ist, dass die Türkei als Mitglied der EU nicht eine galoppierende Islamisierung des Abendlandes in Gang setzen würde. Ebensowenig ist anzunehmen, dass eine Türkei, die die wirtschaftlichen Kriterien für einen EU-Beitritt erfüllt, für ihre Bürgerinnen und Bürger als Lebensmittelpunkt ökonomisch so unattraktiv sein wird, dass diese scharenweise in die anderen Mitgliedstaaten auszuwandern versuchen werden.
Im Ergebnis wird es also darauf ankommen, die Türkei einzubinden, zu fördern und zu fordern, eine sachliche und ruhige Debatte über ihre mögliche Rolle in der EU zu führen und so sowohl die Türkei als auch die heutigen und künftigen EU-Mitgliedstaaten mitsamt ihren Bürgerinnen und Bürgern produktiv auf den Beitritt der Türkei zur EU vorzubereiten.