Der EuGH hat mit Urteil vom 18. Dezember 2008 in der Rechtssache Altun (C-337/07) eine wichtige Entscheidung zum Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 getroffen. Im Rahmen dieser Entscheidung erfolgten zugleich Konkretisierungen zu zwei Fragestellungen:
• Folgen der unverschuldeten Arbeitslosigkeit bei Arbeitnehmern nach Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 und
• Folgen des Rechtsmissbrauchs des Arbeitnehmers auf die Rechtsstellung der Familienangehörigen nach Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80.
Zunächst beantwortet der Gerichtshof die Frage, ob das Kind eines türkischen Arbeitnehmers die Rechte aus Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 in Anspruch nehmen kann, wenn der betreffende Arbeitnehmer während des Zeitraums von drei Jahren, in dem das Kind mit ihm zusammengelebt hat, zweieinhalb Jahre lang abhängig beschäftigt und anschließend sechs Monate lang arbeitslos war. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass ein türkischer Arbeitnehmer trotz einer vorübergehenden Unterbrechung seines Arbeitsverhältnisses für den Zeitraum, der angemessen sei, um eine andere Beschäftigung zu finden, weiterhin im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehöre, und zwar unabhängig davon, welchen Grund die Abwesenheit des Betroffenen vom Arbeitsmarkt habe, sofern diese Abwesenheit vorübergehender Natur sei. Ein türkischer Arbeitnehmer sei erst dann vom regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen, wenn er objektiv keine Möglichkeit mehr habe, sich in den Arbeitsmarkt wiedereinzugliedern, oder den Zeitraum überschritten habe, der angemessen ist, um nach einer vorübergehenden Beschäftigungslosigkeit eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu finden.
Nach alledem antwortet der Gerichtshof, dass Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen sei, dass das Kind eines türkischen Arbeitnehmers die Rechte aus dieser Bestimmung in Anspruch nehmen könne, wenn der betreffende Arbeitnehmer während des Zeitraums von drei Jahren, in dem das Kind mit ihm zusammengelebt habe, zweieinhalb Jahre lang erwerbstätig und anschließend sechs Monate lang arbeitslos gewesen sei.
Weiterhin stellte der EuGH fest, dass die Tatsache, dass ein türkischer Arbeitnehmer das Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat und damit das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt in diesem Staat als politischer Flüchtling erworben habe, nicht ausschließe, dass ein Angehöriger seiner Familie die Rechte aus Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 in Anspruch nehmen kann.
Von erheblicher Bedeutung sind auch die Grundsätze, die zum Rechtsmissbrauch aufgestellt werden:
„51 Mit der vierten und der fünften Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Rechte des Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers aus Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 in Frage gestellt werden können, wenn der betreffende Arbeitnehmer den Status eines politischen Flüchtlings durch unwahre Angaben erlangt hat.
52 Das vorlegende Gericht führt aus, seine Unsicherheit in diesem Punkt rühre daher, dass sich aus einer ganzen Reihe von Anhaltspunkten ergebe, dass die Angaben von Herrn Ali Altun im Rahmen seines Asylantrags nicht der Wahrheit entsprechen könnten.
53 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt die Ordnungsmäßigkeit der Beschäftigung eines türkischen Staatsangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats und damit ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht voraus (Urteile vom 20. September 1990, Sevince, C 192/89, Slg. 1990, I 3461, Randnr. 30, und vom 26. Oktober 2006, Güzeli, C 4/05, Slg. 2006, I 10279, Randnr. 38).
54 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof festgestellt, dass Beschäftigungszeiten, die ein türkischer Staatsangehöriger aufgrund einer Aufenthaltserlaubnis zurückgelegt hat, die er allein durch eine Täuschung, die zu seiner Verurteilung geführt hat, erwirkt hat, nicht auf einer gesicherten Position beruhen, sondern als in einer nur vorläufigen Position zurückgelegt zu betrachten sind, da ihm während dieser Zeiten von Rechts wegen kein Aufenthaltsrecht zustand (vgl. u. a. Urteile vom 5. Juni 1997, Kol, C 285/95, Slg. 1997, I 3069, Randnr. 27, und vom 11. Mai 2000, Savas, C 37/98, Slg. 2000, I 2927, Randnr. 61).
55 Die Ausübung einer Beschäftigung durch einen türkischen Staatsangehörigen im Rahmen einer Aufenthaltserlaubnis, die aufgrund einer Täuschung erteilt wurde, die zu einer Verurteilung geführt hat, kann weder Rechte für den Betreffenden entstehen lassen noch bei ihm ein berechtigtes Vertrauen begründen (Urteil Kol, Randnr. 28).
56 Angesichts des Zusammenhangs, der zwischen den Rechten eines türkischen Arbeitnehmers aus dem Beschluss Nr. 1/80 und den Rechten besteht, auf die sich die Angehörigen seiner Familie, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, nach Art. 7 des Beschlusses berufen können, kann eine solche Täuschung darüber hinaus Auswirkungen auf die Rechtssphäre dieser Familienangehörigen haben.
57 Diese Auswirkungen müssen allerdings in Bezug auf den Zeitpunkt beurteilt werden, zu dem die nationalen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats eine Entscheidung erlassen, mit der die Aufenthaltsgenehmigung des betreffenden Arbeitnehmers zurückgenommen wird.
58 Wenn die Rechte der Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers zu dem Zeitpunkt, zu dem seine Aufenthaltsgenehmigung zurückgenommen wird, im Entstehen begriffen sind, können die Mitgliedstaaten, soweit die in Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 aufgestellte Voraussetzung bezüglich der Dauer des tatsächlichen Zusammenlebens mit dem betreffenden Arbeitnehmer noch nicht erfüllt ist, gegenüber diesen Familienangehörigen die Konsequenzen aus der Täuschung durch den Arbeitnehmer ziehen.
59 Haben die Familienangehörigen dagegen ein eigenes Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat und damit einhergehend ein Aufenthaltsrecht in diesem Staat erworben, können diese Rechte durch Unregelmäßigkeiten, die in der Vergangenheit das Aufenthaltsrecht des betreffenden Arbeitnehmers beeinträchtigt haben, nicht mehr in Frage gestellt werden.
60 Jede andere Lösung liefe dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, der nach ständiger Rechtsprechung insbesondere gebietet, dass Rechtsvorschriften, vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne haben können, klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen voraussehbar sein müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Februar 1996, Van Es Douane Agenten, C 143/93, Slg. 1996, I 431, Randnr. 27, und vom 18. November 2008, Förster, C 158/07, Slg. 2008, I 0000, Randnr. 67).
61 Zudem würde das Recht der Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers auf Zugang zum Arbeitsmarkt nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ausgehöhlt, wenn die zuständigen nationalen Behörden die Möglichkeit hätten, die Ausübung der dem türkischen Migranten unmittelbar durch den Beschluss verliehenen, genau bestimmten Rechte an Bedingungen zu knüpfen oder in irgendeiner Weise einzuschränken (Urteile Ergat, Randnr. 41, und vom 25. September 2008, Er, C 453/07, Slg. 2008, I 0000, Randnr. 27).
62 Es kann nur zwei Arten von Beschränkungen der Rechte geben, die Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers verleiht, die die Voraussetzungen dieses Absatzes erfüllen: Entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Migranten im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. u. a. Urteile Cetinkaya, Randnrn. 36 und 38, sowie Er, Randnr. 30).
63 Der abschließende Charakter der in der vorstehenden Randnummer genannten Beschränkungen wäre in Frage gestellt, wenn die nationalen Behörden die eigenen Rechte, die die Familienangehörigen des Wanderarbeitnehmers erworben haben, im Wege der Überprüfung oder einer Neubewertung der Umstände, unter denen dem Arbeitnehmer selbst das Einreise- und Aufenthaltsrecht gewährt wurde, Bedingungen unterwerfen oder sie einschränken oder entziehen könnten.“
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, ist dahin auszulegen, dass das Kind eines türkischen Arbeitnehmers die Rechte aus dieser Bestimmung in Anspruch nehmen kann, wenn der betreffende Arbeitnehmer während des Zeitraums von drei Jahren, in dem das Kind mit ihm zusammengelebt hat, zweieinhalb Jahre lang erwerbstätig und anschließend sechs Monate lang arbeitslos war.
2. Die Tatsache, dass ein türkischer Arbeitnehmer das Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat und damit das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt in diesem Staat als politischer Flüchtling erworben hat, schließt nicht aus, dass ein Angehöriger seiner Familie die Rechte aus Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 in Anspruch nehmen kann.
3. Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist dahin auszulegen, dass, wenn ein türkischer Arbeitnehmer den Status eines politischen Flüchtlings durch unwahre Angaben erlangt hat, die Rechte, die ein Angehöriger seiner Familie nach dieser Bestimmung hat, nicht in Frage gestellt werden können, wenn dieser Angehörige zu dem Zeitpunkt, zu dem die dem Arbeitnehmer erteilte Aufenthaltsgenehmigung zurückgenommen wird, die Voraussetzungen der genannten Bestimmung erfüllt.
Die Entscheidung steht unter downloads/Rechtsprechung/EUGH zur Verfügung.