Versagung von Sozialleistungen bei Arbeitssuche verstößt gegen EU-Recht

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Der Generalanwalt Colomer hat sich in seinen Schlussanträgen vom 12. März 2009 in den verbundene Rechtssachen C‑22/08 und C‑23/08 (Athanasios Vatsouras und Josif Koupatantze gegen Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Nürnberg 900) den Leistungsausschluss nach § 7 SGB II für arbeitssuchende EU-Bürger, die zuvor eine Beschäftigung ausgeübt hatten und unfreiwillig arbeitslos geworden sind, für europarechtswidrig erklärt.

Nach dem Vorlagebeschluss reiste Athanasios Vatsouras, ein griechischer Staatsangehöriger, im März 2006 in die Bundesrepublik Deutschland ein und nahm dort eine geringfügige Beschäftigung auf. Am 10. Juli 2006 veranlasste ihn seine Lage, bei der Arbeitsgemeinschaft Nürnberg 900 (im Folgenden: ARGE) Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II), die ihm mit Bescheid vom 27. Juli 2006 in Höhe von monatlich 169 Euro bis zum 30. November 2006 bewilligt wurden, zu beantragen. Im Januar 2007 verlor Herr Vatsouras seine Beschäftigung.

Im Verfahren über die Klage von Josif Koupatantze wird ebenfalls ein Bescheid der ARGE angefochten. Der Kläger, ein griechischer Staatsangehöriger, reiste im Oktober 2006 nach Deutschland ein. Am 1. November 2006 nahm er eine Beschäftigung auf, bis ihm das Arbeitsverhältnis zum 21. Dezember 2006 wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten seines Arbeitgebers gekündigt wurde. Am ersten Tag seiner Arbeitslosigkeit beantragte er Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II, die ihm mit Bescheid vom 15. Januar 2007 bis zum 31. Mai 2007 in Höhe von monatlich 670 Euro bewilligt wurden. Aus im Vorlagebeschluss nicht erläuterten Gründen hob die ARGE die bewilligte Sozialhilfe für Herrn Koupatantze mit Bescheid vom 18. April 2007 rückwirkend ab 28. Februar 2007 auf.

Beiden Fällen ist gemeinsam, dass die Kläger vor ihren Anträgen auf SGB-II Leistungen beschäftigt waren und unfreiwillig arbeitslos geworden sind.

§ 7 Abs. 1 SGB II bestimmt, dass keine Ausländer SGB-II Leistungen erhalten, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. § 23 Abs. 3 SGB XII wiederholt für Sozialhilfe, dass Ausländer, die nach Deutschland eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben.

Mit dem Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II hat der Gesetzgeber Art. 24 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und sich aufzuhalten, umsetzen wollen (vgl. die Begründung in BT-Drs. 16/688, S. 13). Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG schränkt den Anspruch auf Gleichbehandlung der Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats nach Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38/EG ein. Nach ihm ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder ggf. während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren.

In dem zur Entscheidung vorliegenden Fall geht der Generalanwalt davon aus, dass Herr Vatsouras und Herr Koupatantze vor ihrer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit die Stellung von Arbeitnehmern besaßen. Trotz Arbeitslosigkeit würden die Betroffenen aber ihren Arbeitnehmerstatus nach Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38, der die Situation der Kläger der Ausgangsverfahren erfasst, behalten. Liegt bei einem Arbeitnehmer, der sein Recht auf Freizügigkeit weniger als ein Jahr lang ausgeübt hat, unfreiwillige Arbeitslosigkeit vor, so gewährleistet ihm die Richtlinie 2004/38 seine Arbeitnehmerstellung und damit das Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, wenn er sich „dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung [stellt]“. Unter diesen Umständen behält der Arbeitnehmer die Rechte, die ihm das Gemeinschaftsrecht verleiht, für mindestens sechs Monate.

Sind die dargestellten Voraussetzungen erfüllt, hat die deutsche Arbeitsverwaltung das Gemeinschaftsrecht dadurch verletzt, dass sie den Klägern die Sozialhilfe entzog. Da die Kläger Arbeitnehmer sind, müssen sie auch in Bezug auf die im Zusammenhang mit der Ausübung einer Beschäftigung verbundenen sozialen Maßnahmen so wie jeder andere deutsche Arbeitnehmer behandelt werden. Daher verstößt eine Regelung, die Arbeitnehmer der Union vom Zugang zu Sozialleistungen ausschließt, wenn sie arbeitslos sind und sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung gestellt haben, nachdem sie weniger als ein Jahr lang beschäftigt waren, gegen Art. 39 EG.

Aber auch dann, wenn die Beschäftigung so geringfügig war, dass die Kläger nicht als Arbeitnehmer anzusehen wären, hält der Generalanwalt die Versagung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für europarechtswidrig.

Der Generalanwalt kommt zu dem Ergebnis: „Art. 39 EG in Verbindung mit Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, steht einer nationalen Regelung entgegen, die Unionsbürger vom Sozialhilfebezug ausschließt, wenn sie arbeitslos sind und ordnungsgemäß beim zuständigen Arbeitsamt eingeschrieben sind, nachdem sie weniger als ein Jahr gearbeitet haben.“