Das Bundesinnenministerium hat an die Bundespolizei einen Erlass gerichtet, der die Umsetzung der Soysal-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Februar 2009 (Az: C-228/06) regelt. Hier wurde auch die Gruppe der von der Visumpflicht befreiten Ausländer näher konkretisiert.
Problematisch ist der Hinweis in dem Erlass, dass bis zum Abschluss der Prüfung der Möglichkeiten einer praktikablen Umsetzung keine visumfreie Einreise erfolgen kann. Kommt es zu einer Zurückweisung an der Grenze, so sind die damit verbundenen Freiheitsentziehungen und -beschränkungen sowie der Einsatz von körperlichem Zwang nicht mehr gerechtfertigt. Steht das Recht auf visafreie Einreise fest, so kann die Verweigerung dieses Rechts nicht damit gerechtfertigt werden, dass die bekannte aus dem Gemeinschaftsrecht folgende zwingende Verpflichtung noch nicht verfahrensrechtlich umgesetzt ist.
Es bleibt zu hoffen, dass die Grenzbeamten in dieser Situation Ausnahmevisa ausstellen, um den europarechtlichen Vorgaben Rechnung zu tragen.
Der Erlass enthält folgende Regelung:
Der EuGH hatte über ein Vorabentscheidungsersuchen des OVG Berlin-Brandenburg entschieden, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls vom 23. November 1970 zum Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12. September 1963 dahin gehend auszulegen ist, dass diese Vorschrift es verbietet, ein Visum für die Einreise türkischer Staatsangehöriger in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats zu verlangen, wenn ein türkischer Staatsangehöriger wie der der Kläger des Ausgangsverfahrens in dem Mitgliedstaat Dienstleistungen für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen erbringen will, sofern ein solches Visum zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls (in Deutschland geschah dies am 1. Januar 1973) nicht verlangt wurde.
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Zur Begründung verwies der Gerichtshof auf die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls festgelegte Pflicht der Vertragsparteien, "keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen" (Stillhalteklausel). Der Kläger des Ausgangsverfahrens hatte eine visumfreie Einreise nach Deutschland begehrt, um im grenzüberschreitenden Güterverkehr Dienstleistungen als Fahrer eines Lastkraftwagens zu erbringen. Der Gerichtshof hat zudem klargestellt, dass der Stillhaltepflicht Vorrang vor der allgemeinen Visumpflicht für türkische Staatsangehörige nach der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 (sog. EU-Visumverordnung) zukommt. Das Verfahren vor dem OVG Berlin-Brandenburg wurde inzwischen klägerischerseits für erledigt erklärt. Ungeachtet dessen sind die Feststellungen des EuGH-Urteils als verbindliche Auslegung europäischen Rechts von Deutschland zu beachten.
Deutschland verlangt als Konsequenz aus diesem Urteil in der vom EuGH entschiedenen Fallkonstellation kein Visum von türkischen Staatsangehörigen. Mithin sind solche Lkw-Fahrer türkischer Staatsangehörigkeit von der Visumpflicht befreit, welche
a. als Arbeitnehmer
b. eines Arbeitgebers mit Sitz in der Türkei
c. grenzüberschreitende LKW-Fahrten in Deutschland durchführen,
d. sich nicht länger als zwei Monate im Bundesgebiet aufhalten und
e. die angestrebte Transportleistung rechtmäßig erbringen können.
Nach der (ggf. auch kurzzeitigen) Ausreise ist die visumfreie Wiedereinreise für einen erneuten Aufenthalt von bis zu zwei Monaten grundsätzlich möglich. Eine Ausnahme besteht nur, wenn aufgrund der Gesamtumstände festgestellt werden kann, dass die kurzzeitigen Ausreisen missbräuchlich benutzt werden, um die Zuwanderungsvoraussetzungen der Bundesrepublik Deutschland zu umgehen ("bona-fide Nicht-Einwanderer").
Die Rechtmäßigkeit der Dienstleistungserbringung ist anhand des heute und des am 1. Januar 1973 geltenden deutschen Rechts zu prüfen. Die Beschränkung einer bestimmten Form der Dienstleistungserbringung durch die Einführung einer Visumpflicht liegt nicht vor, wenn die beabsichtigte Tätigkeit unerlaubt ist bzw. am 1. Januar 1973 war und eine Einreise zu diesem Zweck von vornherein nicht in Betracht kommt bzw. kam.
Der EuGH hat in der o.g. Entscheidung die vom vorlegenden OVG bejahte Rechtsmäßigkeit der Transportleistung ausdrücklich erwähnt und diese Voraussetzung damit auch im Zusammenhang mit der Anwendung der Stillhalteklausel des Assoziierungsrechts zugrunde gelegt. Zu dem Vorlagenbeschluss des OVG vom 30. März 2006 ist darauf hinzuweisen, dass dieser vor dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. September 2007 (BVerwG 3 C 49/06) ergangen ist, in dem das Bundesverwaltungsgericht für ähnliche Fallgestaltungen eine unzulässige Arbeitnehmerüberlassung festgestellt hat.
Rechtmäßig können - heute ebenso wie am 1. Januar 1973 - Transportleistungen in Deutschland durch türkische Staatsangehörige für ausländische Unternehmen jedoch nur erbracht werden, wenn der Einsatz des Fahrers keine erlaubnispflichtige Arbeitnehmerüberlassung darstellt Im Hinblick darauf sind zwei Fallgruppen zu unterscheiden:
- LKW-Fahrer türkischer Staatsangehörigkeit, welche die Transportfahrt mit einem im Ausland zugelassenen LKW durchführen, werden die Dienstleistung regelmäßig in rechtmäßiger Weise erbringen (in derartigen Fällen wird keine unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung vorliegen, soweit keine Anhaltspunkte für eine abweichende Beurteilung bestehen).
- Hingegen besteht für solche Transportleistungen der Anschein der Rechtswidrigkeit, die ein LKW-Fahrer türkischer Staatsangehörigkeit für ein Unternehmen mit Sitz im Ausland auf einem in Deutschland zugelassenen LKW erbringt; denn in dieser Konstellation liegt - nach Maßgabe der Rechtsprechung des BVerwG (Urteil vom 13. September 2007; 3 C 49/06) - im Regelfall eine nicht erlaubte Arbeitnehmerüberlassung vor.
Legt der Fahrer in einem solchen Fall allerdings eine sog. "Fahrerbescheinigung" gem. Art. 3 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 va (EWG) Nr. 881/92 vor, so ist der Anschein der Rechtswidrigkeit entkräftet und anzunehmen, dass sein Einsatz nicht im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung und mithin rechtmäßig erfolgt. Denn die Ausstellung der Fahrerbescheinigung setzt die Prüfung der rechtmäßigen Beschäftigung voraus. Im Hinblick auf o.g. Rechtsprechung des BVerwG dürfte die Vorlage einer Fahrerbescheinigung nur in Ausnahmefällen vorkommen. Die Frage, ob ein Anspruch auf Erteilung einer Fahrerbescheinigung besteht, ist ausschließlich aufgrund von Artikel 3 Abs. 3 der o.g. Verordnung durch die zuständigen Behörden zu entscheiden und wird durch die Frage, ob türkische Fahrer mit oder ohne Visum einreisen dürfen, nicht präjudiziert. Kann der Fahrer nicht das Original der Fahrerbescheinigung vorlegen (z.B. weil er ohne Fahrzeug einreist, um im Bundesgebiet einen LKW zu übernehmen), obliegt es ihm, in sonstiger Weise den Anschein der unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung zu widerlegen. Hierzu hat er eine Kopie der erteilten Fahrerbescheinigung beizubringen. Jede Fahrerbescheinigung enthält neben den Personalien des Fahrers und der Gültigkeitsdauer auch eine Bezeichnung der zuständigen Behörde oder Stelle und den Namen oder die Firma sowie die vollständige Anschrift des Verkehrsunternehmens, für welches der Einsatz erfolgt. Daher kann im Zweifelsfall anhand dieser Angaben eine Überprüfung erfolgen, was - abhängig von der Erreichbarkeit der zuständigen Behörde oder Stelle bzw. des Verkehrsunternehmens - mit zeitlichen Verzögerungen verbunden sein kann.
Die Bundesregierung hat im Detail geprüft, welche weiteren Formen der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung durch türkische Staatsangehörige im Lichte des "Soysal"-Urteils von der Visumpflicht zu befreien sind, und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass türkischen Staatsangehörigen für eine Aufenthaltsdauer von bis zu zwei Monaten eine visumfreie Einreise zu ermöglichen ist, wenn sie rechtmäßig
- durch Arbeitgeber mit Sitz in der Türkei mit Montage- und Instandhaltungsarbeiten sowie Reparaturen an gelieferten Anlagen und Maschinen beschäftigt werden,
- durch Arbeitgeber mit Sitz in der Türkei als fahrendes Personal im grenzüberschreitenden Personen- bzw. Güterverkehr eingesetzt werden oder
- in Vorträgen oder Darbietungen von besonderem wissenschaftlichen oder künstlerischen Wert oder bei Darbietungen sportlichen Charakters in kommerzieller Absicht tätig werden wollen.
Nur diese Tätigkeiten - die am 1. Januar 1973 gemäß § 1 Abs. 2 DVAuslG durch türkische Staatsangehörige ohne Aufenthaltserlaubnis ausgeführt werden durften - konnten aus arbeitserlaubnisrechtlichen Gründen zu diesem Zeitpunkt auch rechtmäßig erbracht werden (§ 19 Abs. 1, Abs. 3 ArbeitsförderungsG i.V.m. § 9 ArbeitserlaubnisVO).
Nunmehr werden die Möglichkeiten einer praktikablen Umsetzung der Visumfreiheit für diese Personen ermittelt. Bis zum Abschluss der Prüfung bleibt es für diese Gruppe beim bisherigen Visum- und Grenzregime. Sobald diese Prüfung abgeschlossen ist, erfolgt ein ergänzender Erlass.
Konsequenzen in Bezug auf die Visumpflicht weiterer Personengruppen sind aus Sicht der Bundesregierung nicht veranlasst. Insbesondere folgt aus dem "Soysal"- Urteil kein Recht türkischer Staatsangehöriger auf eine visumfreie Einreise nach Deutschland zum Zweck des Empfangs von Dienstleistungen (sog. passive Dienstleistungsfreiheit), beispielsweise als Touristen.
Link zum Erlass
https://www.migrationsrecht.net/index.php?option=com_edocman&view=categories