EuGH stellt wichtige Grundsätze zur Wirkungsweise einer Stillhalteklausel auf

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Der Europäische Gerichtshof hat mit seinem Urteil vom 17. September 2009 in der Rechtssache Sahin (C-242/06) wichtige Grundsätze zur Wirksamkeit von Stillhalteklauseln aufgestellt. Das Vorabentscheidungsersuchen betraf die Auslegung von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB 1/80).

Dem Vorlagebeschluss zufolge verlangte das Königreich der Niederlande am 1. Dezember 1980, als die im Beschluss Nr. 1/80 vorgesehenen Bestimmungen über die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer – darunter Art. 13 des Beschlusses – für diesen Mitgliedstaat in Kraft traten, bei einem Antrag auf Aufenthaltserlaubnis keine Gebühren und erhob auch für den Antrag auf Verlängerung der Gültigkeit einer solchen Erlaubnis keine Gebühren.

Erst seit dem Inkrafttreten des Gesetzes über die vollständige Reform des Ausländergesetzes am 1. April 2001 müssen Ausländer für die Behandlung eines Antrags auf Aufenthaltserlaubnis Gebühren entrichten.

Unter diesen Umständen hat der Raad van State das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.       a)     Ist Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 über die Entwicklung der Assoziation im Licht der Randnrn. 81 und 84 des Urteils vom 21. Oktober 2003, Abatay u. a. (C 317/01 und C 369/01, Slg. 2003, I 12301), so auszulegen, dass sich ein Ausländer, ein türkischer Staatsangehöriger, der die Vorschriften für die erstmalige Aufnahme und den Aufenthalt im Inland beachtet hat und vom 14. Dezember 2000 bis 2. Oktober 2002 bei verschiedenen Arbeitgebern ordnungsgemäß abhängig beschäftigt war, jedoch nicht rechtzeitig um Verlängerung der Gültigkeit der ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis ersucht hat, so dass er sich nach Ablauf dieser Erlaubnis und zum Zeitpunkt des Antrags auf deren Verlängerung nach nationalem Recht nicht rechtmäßig in den Niederlanden aufhielt und keine Erlaubnis hatte, im Inland eine Beschäftigung auszuüben, auf diese Bestimmung berufen kann?
1.       b)     Macht es für die Beantwortung der unter 1.a gestellten Frage einen Unterschied, dass ein von diesem Ausländer nicht rechtzeitig eingereichter Antrag auf Verlängerung, der innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Gültigkeit dieser Aufenthaltserlaubnis eingegangen ist, an den für die Erlaubnis des weiteren Aufenthalts geltenden Anforderungen geprüft wird und der Ausländer die Entscheidung über diesen Antrag im Inland abwarten darf, obwohl dieser Antrag nach nationalem Recht einem Antrag auf Erteilung einer ersten Aufenthaltserlaubnis gleichgestellt wird?
2.       a)     Ist der Begriff „Beschränkung“ in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen, dass darunter die Verpflichtung zur Zahlung von Gebühren für die Erledigung eines Antrags auf Verlängerung der Gültigkeit einer Aufenthaltserlaubnis fällt, die ein Ausländer, ein türkischer Staatsangehöriger, der in den Anwendungsbereich des Beschlusses Nr. 1/80 fällt, schuldet und bei deren Nichterfüllung sein Antrag nach Art. 24 Abs. 2 VW 2000 nicht behandelt wird?
2.       b)     Lautet die Antwort auf die unter 2.a gestellte Frage anders, wenn die Höhe der Gebühren die Kosten der Erledigung des Antrags nicht übersteigt?
3.      Ist Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80, der auch der Durchführung des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen dient, in Verbindung mit Art. 59 dieses Protokolls dahin auszulegen, dass die Höhe der Gebühren (für den Ausländer zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt 169 Euro) für türkische Staatsangehörige, die in den Anwendungsbereich des Beschlusses Nr. 1/80 fallen, hinsichtlich der Erledigung eines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder deren Verlängerung, nicht den Betrag der Gebühren (30 Euro) übersteigen darf, der von Gemeinschaftsangehörigen für die Erledigung eines Antrags auf Prüfung nach dem Gemeinschaftsrecht und Erteilung des damit verbundenen Aufenthaltsdokuments (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 68/360 und Art. 25 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38) erhoben werden kann?

Zum persönlichen Anwendungsbereich von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80

Der EuGH, dass die Anwendbarkeit von Art. 13 ARB 1/80 nicht voraussetzt, dass der betreffende türkische Staatsangehörige die Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 dieses Beschlusses erfüllt, und dass der Umfang dieser Bestimmung nicht auf türkische Migranten beschränkt ist, die eine Beschäftigung als Arbeitnehmer ausüben.

„51      Diese beiden Bestimmungen des Beschlusses Nr. 1/80 betreffen nämlich unterschiedliche Fälle, da Art. 6 die Voraussetzungen für die Ausübung einer Beschäftigung regelt und die schrittweise Integration des Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat ermöglicht, während Art. 13 die nationalen Maßnahmen über den Zugang zur Beschäftigung betrifft und dabei die Familienangehörigen, deren Aufnahme im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats nicht von der Ausübung einer Beschäftigung abhängt, in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung einbezieht. Der Gerichtshof schließt daraus im Urteil Abatay u. a., dass Art. 13 nicht dazu bestimmt ist, die bereits in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats integrierten türkischen Staatsangehörigen zu schützen, sondern gerade für die türkischen Staatsangehörigen gelten soll, die noch keine Rechte in Bezug auf Beschäftigung und entsprechend auf Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 genießen.“

Zur Tragweite der Stillhalteklausel nach Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80

Außerdem legt der Gerichtshof dar, dass die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 nicht dem Erlass neuer belastender Vorschriften entgegensteht, die in gleicher Weise auf türkische Staatsangehörige und auf Gemeinschaftsangehörige Anwendung finden.

„69      Folglich können sich die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen nicht erfolgreich auf eine der Status-quo-Bestimmungen im Rahmen der Assoziation EWG–Türkei – wie Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 – berufen, um zu verlangen, dass der Aufnahmemitgliedstaat sie von der Zahlung jeder Gebühr vor der Behandlung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung der Gültigkeit einer Aufenthaltserlaubnis befreit, auch wenn dieser Mitgliedstaat sie zu dem Zeitpunkt, als dieser Beschluss für ihn in Kraft trat, keiner derartigen Verpflichtung unterworfen hatte. Denn eine andere Auslegung wäre mit Art. 59 des Zusatzprotokolls nicht vereinbar, der den Mitgliedstaaten untersagt, türkischen Staatsangehörigen eine günstigere Behandlung zukommen zu lassen als Gemeinschaftsangehörigen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden.
70      Die in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 enthaltene Stillhalteklausel behindert somit als solche nicht die Einführung einer derartigen Regelung, die die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder die Verlängerung ihrer Gültigkeit von der Entrichtung von Gebühren abhängig macht, die den Ausländern auferlegt werden, die sich im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhalten.“

Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass die Einführung einer neuen belastenden Regelung aber nicht dazu führen darf, dass einem türkischen Staatsangehörigen neuen Pflichten auferlegt werden, die im Vergleich zu denen der Gemeinschaftsangehörigen unverhältnismäßig sind.

D die niederländische Regierung weder in ihren beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen noch in Beantwortung der Fragen, die ihr in der mündlichen Verhandlung gestellt wurden, stichhaltige Argumente vorgetragen konnten, warum von türkischen Staatsangehörigen viel höhere Gebühren verlangt werden als von Gemeinschaftsangehörigen, wurde ein Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip festgestellt.

„74      Es ist daher festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige eine nach Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 verbotene Beschränkung darstellt, soweit sie für die Behandlung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung der Gültigkeit einer Aufenthaltserlaubnis türkische Staatsangehörige, für die Art. 13 dieses Beschlusses gilt, zur Entrichtung von Gebühren verpflichtet, deren Höhe im Vergleich zu den von Gemeinschaftsangehörigen unter gleichartigen Umständen verlangten unverhältnismäßig ist.
75      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 in dem Sinn auszulegen ist, dass er ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Beschlusses für den betreffenden Mitgliedstaat der Einführung einer innerstaatlichen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die die Erteilung oder die Verlängerung der Gültigkeit einer Aufenthaltserlaubnis von der Entrichtung von Gebühren abhängig macht, wenn die Höhe dieser Gebühren, die türkischen Staatsangehörigen auferlegt werden, im Vergleich zu den von Gemeinschaftsangehörigen verlangten unverhältnismäßig ist.“

Die Entscheidung kann hier heruntergeladen werden.