Mit den Schlussanträgen des Generalanwaltes beim Europäischen Gerichtshof Mazák vom 15. September 2009 wurden die Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG) für den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft näher konkretisiert. Der Generalanwalt folgt mit seinen Schlussanträgen nicht den Anregungen des UNHCR, insbesondere stellt er klar, dass das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nicht voraussetzt, dass ein Flüchtling vor der Gefahr geschützt sein muss, in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Allgemeine Gefahren und Lebensbedingungen sollen lediglich bei der Schutzgewährung Berücksichtigung finden.
Vorlagefragen zu den Anforderungen an einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft nach der Qualifikationsrichtlinie
Das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts betreffen die Auslegung bestimmter Vorschriften der Richtlinie 2004/83/EG. Die Ersuchen betreffen die Voraussetzungen, unter denen die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 erlischt. Das Bundesverwaltungsgericht möchte insbesondere wissen, ob ein Flüchtling die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 verliert, wenn die begründete Furcht vor Verfolgung, aufgrund deren die Anerkennung erfolgte, entfallen ist und der Flüchtling auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie haben muss. Für den Fall, dass der Gerichtshof feststellen sollte, dass die Flüchtlingseigenschaft unter den genannten Umständen nicht erlischt, bittet das vorlegende Gericht um eine Entscheidung des Gerichtshofs darüber, ob und in welchem Umfang bestimmte zusätzliche Voraussetzungen vorliegen müssen, damit die Flüchtlingseigenschaft erlischt. Das vorlegende Gericht bittet ferner um Klärung der Frage, wie neue, andersartige verfolgungsbegründende Umstände im Rahmen der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft beurteilt werden müssen, wenn die bisherigen Umstände, aufgrund deren der Betreffende als Flüchtling anerkannt worden ist, entfallen sind.
Auffassung des Generalanwalts zu den Voraussetzungen eines Widerrufs nach der Qualifikationsrichtlinie
Der Generalanwalt geht davon aus, dass Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft von zwei Voraussetzungen abhängig macht, zwischen denen ein innerer Zusammenhang besteht und die zusammen geprüft werden müssen. Es muss zum einen festgestellt werden,
dass die Umstände, aufgrund deren der Flüchtling als solcher anerkannt wurde, weggefallen sind
und zum anderen
dass das Land, dessen Staatsangehörigkeit der Flüchtling besitzt, sowohl in der Lage als auch willens ist, den Betreffenden zu schützen.
Der Generalanwalt trifft eine wichtige Entscheidung. Er stellt klar, dass das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 offenkundig nicht voraussetzt, dass ein Flüchtling vor der Gefahr geschützt wird, in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, einen ernsthaften Schaden zu erleiden.
Die in gestellten Fragen wurden vom Generalanwalt wie folgt beantwortet:
1. Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist unter Berücksichtigung u. a. der Definition des Begriffs „Flüchtling“ in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie auszulegen. Demzufolge muss gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 festgestellt werden, dass die Umstände, aufgrund deren der Flüchtling als solcher anerkannt wurde, weggefallen sind und dass das Land, dessen Staatsangehörigkeit der Flüchtling besitzt, sowohl in der Lage als auch willens ist, den Betreffenden zu schützen. Die Flüchtlingseigenschaft kann erlöschen, wenn für den Flüchtling in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, eine dauerhafte Lösung verfügbar ist, in deren Rahmen Freiheit von Verfolgung gegeben ist. Der Schutz, den das Land, dessen Staatsangehörigkeit der Flüchtling besitzt, bietet, entspricht Art. 7 der Richtlinie 2004/83, wenn ein Schutz bietender Akteur vorhanden ist, der geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen. Kann der Schutz vor Verfolgung nur mit Hilfe multinationaler Truppen gewährleistet werden, kann eine solche Unterstützung als geeigneter Schritt zur Verhinderung der Verfolgung nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 angesehen werden, sofern diese Truppen mit einem Mandat der internationalen Gemeinschaft ausgestattet sind.
2. Der Anspruch einer Person auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach Kapitel V der Richtlinie 2004/83 gehört nicht zu den rechtlichen Kriterien, die für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gelten. Wenn die nationalen Behörden aber feststellen, dass die Flüchtlingseigenschaft einer Person nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 erlischt, sind alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass der Betreffende eine effektive Gelegenheit hat, subsidiären Schutz zu beantragen, und dass seine Verfahrensrechte in vollem Umfang gewährleistet sind.
3. Die Sicherheitslage in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Flüchtling besitzt, muss so beschaffen sein, dass der Flüchtling nicht in absehbarer Zukunft einen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling sollte erlangen können. Die Stabilität der Sicherheitslage in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Flüchtling besitzt, muss vom nationalen Gericht als Bestandteil der in den Art. 7 Abs. 2 und 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 verlangten Verfügbarkeit von Schutz vor Verfolgung geprüft werden.
4. Die Verfügbarkeit des Existenzminimums in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Flüchtling besitzt, ist kein unabhängiges relevantes Kriterium, das im Rahmen der Prüfung des Erlöschens nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 anzuwenden ist, muss aber gleichwohl als Teil der Prüfung der Frage berücksichtigt werden, ob die Veränderung der Umstände in dem betreffenden Land als erheblich und nicht nur vorübergehend gemäß Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie angesehen werden kann und ob der Flüchtling den Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, in Anspruch nehmen kann.
5. In einer Situation, in der die bisherigen Umstände, aufgrund deren der Betreffende als Flüchtling anerkannt wurde, weggefallen sind, sind völlig neue, andersartige verfolgungsbegründende Umstände im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 2004/83 an dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu messen, der für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 13 der Richtlinie gilt. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ist auf eine solche Prüfung nicht anwendbar.