EuGH entscheidet zum Vorliegen einer Ausweisungspflicht bei illegalem Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen

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Ein Mitgliedstaat kann – muss aber nicht – einen Drittstaatsangehörigen ausweisen, der die in diesem Staat geltenden Voraussetzungen hinsichtlich der Aufenthaltsdauer nach dem Schengener Durchführungsübereinkommen nicht erfüllt.

Der Mitgliedstaat kann dem Betroffenen eine Geldstrafe auferlegen, verbunden mit der Aufforderung, das Hoheitsgebiet innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, so dass der Betroffene, sollte er dieser Aufforderung nicht nachkommen, mit sofortiger Wirkung abgeschoben werden kann.

Besitzt ein Drittstaatsangehöriger kein gültiges Dokument für die Einreise nach oder den Aufenthalt in Spanien und sind in seinem Verhalten keine erschwerenden Umstände begründet, so beschränkt sich nach spanischem Recht und dessen Auslegung die Sanktion auf eine Geldstrafe, sofern nichts anderes vorliegt, was die Ersetzung der Geldstrafe durch eine Ausweisung rechtfertigt.

Die beiden bolivianischen Staatsangehörigen Zurita García und Choque Cabrera hielten sich illegal in Spanien auf. Die nationalen Behörden erließen zwei Entscheidungen, mit denen sie ihre Ausweisung aus dem spanischen Hoheitsgebiet anordneten, verbunden mit einem fünfjährigen Verbot der Einreise in den Schengen-Raum. Frau Zurita García und Herr Choque Cabrera fochten diese Entscheidungen an und rügten die Ersetzung der Geldstrafe durch eine Ausweisung.
Unter diesen Umständen möchte das Tribunal Superior de Justicia de Murcia, bei dem diese Rechtsstreitigkeiten in der Berufungsinstanz anhängig sind, wissen, ob das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen (SDÜ)  und der Schengener Grenzkodex  dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat, wenn ein Drittstaatsangehöriger nicht oder nicht mehr die in diesem Staat geltenden Voraussetzungen hinsichtlich der Aufenthaltsdauer erfüllt, verpflichtet ist, gegen diesen Drittstaatsangehörigen eine Ausweisungsentscheidung zu erlassen.
Der Gerichtshof weist in seinem heutigen Urteil darauf hin, dass der Schengener Grenzkodex (und vorher bis zum 13. Oktober 2006 das SDÜ) eine Vermutung vorsieht, wonach die zuständigen nationalen Behörden, wenn das Reisedokument eines Drittausländers nicht mit dem Einreisestempel versehen ist, annehmen können, dass der Inhaber des Reisedokuments die im betreffenden Mitgliedstaat geltenden Voraussetzungen hinsichtlich der Aufenthaltsdauer nicht oder nicht mehr erfüllt. Wird die Vermutung von dem Drittausländer nicht widerlegt, können ihn die zuständigen Behörden nach diesen beiden Regelungen aus dem Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ausweisen.

Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die spanische Fassung des Schengener Grenzkodex von den anderen Sprachfassungen desselben abweicht. In der spanischen Fassung enthält der Schengener Grenzkodex nämlich eine Verpflichtung, da er bestimmt, dass die zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats, wenn die Vermutung nicht widerlegt wird, den Drittausländer aus dem Hoheitsgebiet dieses Staates „ausweisen“. In allen anderen Sprachfassungen erscheint dagegen die Ausweisung als eine Entscheidung, die den genannten Behörden freigestellt ist. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass der wirkliche Wille des Gesetzgebers nicht darauf gerichtet war, den betreffenden Mitgliedstaaten die Verpflichtung aufzuerlegen, einen Drittstaatsangehörigen, dem es nicht gelingt, die Vermutung zu widerlegen, aus ihrem Hoheitsgebiet auszuweisen, sondern vielmehr darauf, ihnen diese Entscheidung freizustellen.

Anschließend hat der Gerichtshof geprüft, ob sich aus dem SDÜ ergibt, dass die Mitgliedstaaten jeden Drittstaatsangehörigen aus ihrem Hoheitsgebiet ausweisen müssen, der sich dort illegal aufhält, sofern es nicht einen Grund gibt, ihm Asylrecht oder internationalen Schutz zu gewähren. Dazu stellt der Gerichtshof fest, dass sich dem SDÜ angesichts der darin enthaltenen Ausnahmen eine Ausweisungspflicht in so strenger Form nicht entnehmen lässt.

Zum einen behandelt das SDÜ nämlich vorrangig die freiwillige Ausreise des Drittausländers.

Zum anderen – soweit das SDÜ vorsieht, dass unter bestimmten Umständen ein Drittausländer aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats auszuweisen ist, in dem er aufgegriffen wurde – hängt diese Folge von den Voraussetzungen ab, die das nationale Recht des betreffenden Mitgliedstaats aufgestellt hat. Ist nach diesem Recht eine Ausweisung nicht zulässig, kann der genannte Mitgliedstaat dem Drittausländer den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet gestatten. Es ist somit Sache des nationalen Rechts eines jeden Mitgliedstaats, die Einzelheiten insbesondere hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Ausweisung zur Durchführung der im SDÜ enthaltenen Grundregeln für Drittausländer festzulegen, die die Voraussetzungen für einen kurzen Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet nicht oder nicht mehr erfüllen. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass in den Ausgangsverfahren die Entscheidung über die Verhängung einer Geldstrafe nach spanischem Recht kein Titel ist, der einen Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im spanischen Hoheitsgebiet aufhält, zum rechtmäßigen Verbleib dort berechtigt. Unabhängig davon, ob diese Geldstrafe bezahlt wurde oder nicht, wird diese Entscheidung dem Betroffenen nämlich mit der Aufforderung zugestellt, das Hoheitsgebiet binnen 15 Tagen zu verlassen. Sollte der Betroffene dieser Aufforderung nicht nachkommen, kann er mit sofortiger Wirkung abgeschoben werden.

Demzufolge stellt der Gerichtshof fest, dass das SDÜ und der Schengener Grenzkodex dahin gehend auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich ein Drittstaatsangehöriger illegal aufhält, weil er nicht oder nicht mehr die in diesem Staat geltenden Voraussetzungen hinsichtlich der Aufenthaltsdauer erfüllt, nicht verpflichtet ist, gegen diesen Drittstaatsangehörigen eine Ausweisungsentscheidung zu erlassen.