Sind geringfügig beschäftigte türkische Staatsangehörige durch Europarecht begünstigte Arbeitnehmer?

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Der EuGH hat mit dem Urteil vom 4. Februar 2010 in der Rechtssache Genc (C-14/09) im Falle einer türkischen Staatsangehörigen der deutschen Praxis Grenzen aufgezeigt. Er hat  klargestellt, dass allein ein geringes Einkommen und eine geringe Wochenstundenarbeitszeit nicht ausreichen, um die Arbeitnehmerstellung ablehnen zu können. Erforderlich ist eine Gesamtbetrachtung.
Das VG Berlin fragte den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens, ob jemand als Arbeitnehmer angesehen werden kann, wenn lediglich eine Arbeitszeit von 5,5 Wochenstunden und ein monatlicher Lohn von 175 Euro vorliegen. Bei Bejahung dieser Frage wäre sie europarechtlich geschützt, da der Artikel 6 ARB 1/80 Arbeitnehmern ermöglicht ihrer Arbeit nachzugehen und somit einen rechtmäßigen Aufenthalt zu beanspruchen. Zudem fragte das Gericht, ob der Wechsel des Aufenthaltszwecks schädlich sei (Ehegattennachzug) und ob man als Arbeitnehmer ernsthafte Bemühungen zeigen müsse, unabhängig von Sozialleistungen leben zu wollen. Der Sachverhalt: Frau Genc, die 1966 geboren ist, reiste am 7. Juli 2000 mit einem Visum zum Zweck der Familienzusammenführung nach Deutschland zu ihrem dort lebenden türkischen Ehemann ein. Die Eheleute, die bis zum 12. Januar 2004 eine gemeinsame Meldeanschrift hatten, trennten sich zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt. Am 1. August 2005 wurde Frau Genc zuletzt eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Geltungsdauer von zwei Jahren auf der Grundlage des § 30 (Ehegattennachzug) des Aufenthaltsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I 1950) erteilt. Frau Genc ist seit dem 18. Juni 2004 als Raumpflegerin bei der L. Glas- und Gebäudereinigungsservice GmbH beschäftigt. Nach dem am 9. November 2007 schriftlich gefassten Arbeitsvertrag betrug die wöchentliche Arbeitszeit 5,5 Stunden zu einem Stundenlohn von 7,87 Euro. Der Vertrag sieht einen Urlaubsanspruch von 28 Tagen und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vor. Ferner ist die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung vereinbart worden. Aus diesem Beschäftigungsverhältnis bezieht Frau Genc einen monatlichen Durchschnittslohn von etwa 175 Euro. Der EuGH betont in seiner Entscheidung, dass der Begriff des Arbeitnehmers autonom nach dem Unionsrecht und nicht zu eng zu beurteilen ist. Dem ist voll zuzustimmen, da es nicht im Belieben der Mitgliedstaaten stehen kann, ob jemand in Frankreich oder Österreich als Arbeitnehmer gilt und in Deutschland nicht. Europa ist ein einheitlicher Rechtsraum. Demnach ist als  „Arbeitnehmer“  jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Das VG Berlin meinte allerdings, dass diese Tätigkeit als geringfügig zu betrachten sei und wies auf die Arbeitzeit und ihren Lohn hin. Der EuGH stellt klar, dass eine Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses vorzunehmen ist.  Es sind nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub von 28 Tagen, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie der Umstand, dass ihr Arbeitsverhältnis mit demselben Unternehmen beinahe vier Jahre bestanden hat. Der EuGH beantwortet die Frage indirekt und erklärt, dass es nicht seine Aufgabe ist, diese Kriterien zu bewerten, sondern das VG Berlin müsse die Sache unter den engen Grenzen, die der EuGH aufzeigt, selbst entscheiden. Der EuGH stellt erneut klar, dass der Wechsel des Aufenthaltszwecks unschädlich ist und die europarechtliche Schutzposition nur dann entfällt, wenn gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung verstoßen werde bzw. die Person sich ohne berechtigte Gründe über einen längeren Zeitraum das Bundesgebiet verließe. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten ist das Urteil zu begrüßen. Was für Unionsbürger gilt, gilt auch für türkische Staatsangehörige. Das Bundesministerium des Inneren sollte Ziffer 2.2.2 der Anwendungshinweise zum ARB (aus dem Jahre 2002) endlich der EuGH Rechtssprechung anpassen bzw. durch ein Länderrundschreiben deutlich machen, dass nach dieser Entscheidung es nicht mehr gerechtfertigt ist, nur sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit einer Verdienstgrenze von derzeit 400 Euro zu berücksichtigen. Rechtsanwalt Ünal Zeran
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