Die Richtlinie des Rates vom 29. April 2004 über die Flüchtlingsanerkennung1 führt die Voraussetzungen auf, die Drittstaatsangehörige erfüllen müssen, um in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling zu haben. Die Richtlinie sieht außerdem vor, dass die Flüchtlingseigenschaft erlischt, wenn die Umstände, auf denen ihre Zuerkennung beruhte, weggefallen sind.
Herr Salahadin Abdulla, Herr Hasan, Herr Adem und seine Ehefrau Mosa Rashi sowie Herr Jamal, die alle die irakische Staatsangehörigkeit besitzen, wurden in den Jahren 2001 und 2002 in Deutschland als Flüchtlinge anerkannt. Zur Begründung ihrer entsprechenden Anträge hatten sie vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verschiedene Gründe geltend gemacht, aus denen sie befürchteten, im Irak durch die Regierung der Baath-Partei Saddam Husseins verfolgt zu werden. Im Jahr 2005 widerrief das Bundesamt angesichts der Entwicklung der Lage im Irak ihre Flüchtlingsanerkennung.
Die zuständigen Oberverwaltungsgerichte in Deutschland entschieden unter Verweis auf die grundlegende Änderung der Lage im Irak, dass die Betreffenden gegenwärtig vor der unter dem früheren Regime erlittene Verfolgung sicher seien und ihnen auch nicht aus anderen Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut eine Verfolgung drohe. Das Bundesverwaltungsgericht, das mit der gegen diese Urteile eingelegten Revision befasst ist, hat dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Auslegung der genannten Richtlinie von 2004 vorgelegt, die das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft betreffen.
Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass ein Drittstaatsangehöriger, um als Flüchtling anerkannt zu werden, aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände begründete Furcht vor einer Verfolgung haben muss, die sich wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gegen ihn richtet. Diese Umstände sind die Ursache dafür, dass es dem Betreffenden unmöglich ist oder er sich in begründeter Weise weigert, den Schutz seines Herkunftslands im Sinne der Fähigkeit dieses Landes zur Verhinderung oder Ahndung von Verfolgungshandlungen in Anspruch zu nehmen.
Hinsichtlich des Widerrufs der Flüchtlingsanerkennung stellt der Gerichtshof fest, dass die Flüchtlingseigenschaft erlischt, wenn in Anbetracht einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Umstände in dem Drittland diejenigen Umstände, aufgrund deren der Betreffende begründete Furcht vor Verfolgung hatte, weggefallen sind und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor Verfolgung haben muss.
Der Gerichtshof führt aus, dass sich die zuständigen Behörden, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht mehr begründet ist, vergewissern müssen, dass der oder die Akteure des Drittlands, die Schutz bieten können, geeignete Schritte eingeleitet haben, um die Verfolgung zu verhindern. So müssen diese Akteure insbesondere über wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, verfügen. Die zuständigen Behörden müssen sich auch vergewissern, dass der betreffende Staatsangehörige im Fall des Erlöschens seiner Flüchtlingseigenschaft Zugang zu diesem Schutz haben wird.
Eine Veränderung von Umständen ist „erheblich und nicht nur vorübergehend“, wenn die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können. Das setzt das Fehlen begründeter Befürchtungen voraus, Verfolgungshandlungen ausgesetzt zu sein, die „schwerwiegende Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte“ darstellen. Der oder die Schutz bietenden Akteure, im Hinblick auf die zu beurteilen ist, ob tatsächlich eine Veränderung der Umstände im Herkunftsland eingetreten ist, sind entweder der fragliche Staat selbst oder Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die diesen Staat oder einen wesentlichen Teil seines Staatsgebiets beherrschen. Hinsichtlich der letzteren Alternative lässt es die Richtlinie zu, dass der Schutz durch internationale Organisationen mittels der Präsenz multinationaler Truppen im Staatsgebiet des fraglichen Drittlands sichergestellt wird.
Im Hinblick auf Fälle, in denen bereits festgestellt worden ist, dass die der Flüchtlingsanerkennung ursprünglich zugrunde liegenden Umstände weggefallen sind, untersucht der Gerichtshof weiter, unter welchen Voraussetzungen die zuständigen Behörden sodann erforderlichenfalls zu prüfen haben, ob nicht andere Umstände vorliegen, aufgrund deren der Betreffende begründete Furcht vor Verfolgung haben muss.
Im Rahmen dieser Prüfung hebt der Gerichtshof hervor, dass sowohl im Stadium der Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling als auch im Stadium der Prüfung der Aufrechterhaltung des Flüchtlingsstatus die gleiche Frage zur Beurteilung steht, ob die festgestellten Umstände eine Bedrohung mit Verfolgung darstellen oder nicht, aufgrund deren der Betroffene in Anbetracht seiner individuellen Lage begründete Furcht haben muss, tatsächlich Verfolgungshandlungen zu erleiden. Der Gerichtshof kommt demgemäß zu dem Ergebnis, dass der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der der Beurteilung einer aus anderen Umständen resultierenden Gefahr zugrunde zu legen ist, der gleiche ist wie der bei der Anerkennung als Flüchtling angewandte.
Quelle: Presserklärung des EuGH