Brüssel: Visa-Vergabepraxis gemäß Volmer-Erlass war europarechtswidrig
BRÜSSEL ? Die Visa-Affäre ist aus europarechtlicher Sicht seit Ende letzter Woche geklärt: Die Europäische Kommission stufte die deustche Visa-Vergabepraxis zwischen 1999 und 2002, die maßgeblich durch den Volmer-Erlass geprägt war, als Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht ein.
Der Kommission waren folgende Fragen zur Prüfung vorgelegt worden:
- Ist diese Praxis des Auswärtigen Amtes mit Zif. III. 3. der Gemeinsamen Konsularischen Instruktion vereinbar?
- Wenn nein, welche Maßnahmen sind unternommen worden, um die Bundesrepublik Deutschland zu einer rechtskonformen Praxis zu veranlassen?
Im Namen der Kommission antwortete Kommissionsvizepräsident und Kommissar für Justiz, Freiheit und Sicherheit Franco Frattini unter dem Datum des 4. August 2005 im Wesentlichen wie folgt:
Zunächst ging er auf die Bedeutung der Gemeinsamen Konsularischen Instruktion (GKI) und deren konsequenter und gleichmäßiger Umsetzung im gesamten räumlichen Geltungsbereich des Schengener Abkommens ein. Dabei gehe es nicht zuletzt darum, die negativen Folgen illegaler Immigration abzuwenden.
Sodann teilte Frattini mit, dass die Kommission im Dezember 2004 bei den deutschen Behörden um Informationen über die Erlasse des Auswärtigen Amtes betreffend die Visa-Vergabe angefragt habe. Er merkt an, dass keiner dieser Erlasse der Kommission zuvor zur Kenntnis gegeben worden sei. Im Januar 2005 seien der Kommission seitens der deutschen Behörden schließlich die "Grundsatzerlasse" übermittelt worden, die in Deutschland zwischenzeitlich allgemeinsprachlich die Bezeichnungen Volmer-Erlass und Chrobog-Erlass tragen: der Erlass vom 3. März 2000 ("Volmer-Erlass") und derjenige vom 26. Oktober 2004 ("Chrobog-Erlass"), welcher den erstgenannten ablöste. Neben weiteren Dokumenten stellte die Bundesrepublik der Kommission am Ende ein Memorandum zur Verfügung, das die deutsche Praxis im Bereich der Visaerteilung beinhaltet und bestimmte Punkte der Erlasse erläutert.
Bevor die Kommission durch den Kommissar zum Ergebnis ihrer Prüfung Stellung nimmt, weist sie noch auf ihre vornehmste Aufgabe, die Überwachung der Einhaltung des europäischen Gemeinschaftsrechts durch sämtliche Mitgliedstaaten hin; eine Aufgabe, die sich auf das Schengen-Regime und die GKI bezieht. Daraufhin heißt es in den Ausführungen wörtlich: "Die von den Dienststellen der Kommission durchgeführte Prüfung führt zu der Schlussfolgerung, dass der 'Grundsatzrunderlass' vom 3. März 2000 sowie diverse 'thematische' Teilrunderlasse (betreffend die Reiseschutzversicherung, die Verpflichtungserklärung usw.) die an die Auslandsvertretungen insbesondere im Zeitraum 1999-2002 gerichtet waren, im Gegensatz zur GKI stehen. Die Verstöße betreffen insbesondere die Einschätzung der Rückkehrbereitschaft des Antragstellers in sein Herkunftsland, die Überprüfung des Reisezieles, den Zweck und die Bedingungen des Aufenthaltes des Antragstellers sowie die dafür zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel. Die auf Grundlage dieser Erlasse durchzuführenden Kontrollen entsprechen nicht den hohen Anforderungen, die die GKI den Auslandsvertretungen mit dem Ziel insbesondere die illegale Immigration effizient zu bekämpfen, auferlegen." Der Chrobog-Erlass wurde von der Kommission weitestgehend unbeanstandet gelassen.
Zu den Konsequenzen der Verstöße heißt es: "Die Kommission ist von der zwingenden Notwendigkeit überzeugt, die Lehren aus dieser Angelegenheit zu ziehen. In Bezug auf die Einhaltung des Gemeinschaftsrechtes muss festgehalten werden, dass die GKI einzelne Aspekte der Verfahren und der Bedingungen für die Visaerteilung regelt. Es gibt daher im Prinzip keinen Spielraum mehr für nationale Bestimmungen, die den Auslandsvertretungen Anweisungen für diese Aspekte erteilen könnten. Jede Beeinträchtigung dieses Prinzips, die unweigerlich eine autonome nationale Praxis mit sich bringt, wie deutlich aus den diversen Teilrunderlassen an die deutschen Auslandsvertretungen zu ersehen ist, führt nicht nur zu einem Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht, sondern notwendigerweise auch zu einer Schwächung der gemeinsamen Visapolitik. [...] Die Kommission für ihren Teil wird diese essentielle Anforderung an Klarheit und Lesbarkeit des Gemeinschaftsrechts umso mehr in ihren Vorarbeiten zur Neufassung der GKI berücksichtigen. Es handelt sich hierbei um ein Anliegen von äußerster Wichtigkeit, das diese Arbeiten zur Neufassung der GKI bestimmen wird. Diese Neufassung soll in Übereinstimmung mit dem Haager Programm, das vom Europäischen Rat vom 4./5. November 2004 angenommen wurde, spätestens zu Beginn 2006 vorgelegt werden."
In Deutschland war das politische Echo auf die Nachricht aus Brüssel geteilt: Unionspolitiker sahen sich in ihrer Haltung bestätigt und betonten die Wichtigkeit dessen, dass der Visa-Untersuchungsausschuss seine Arbeit zu Ende bringen konnte. Die Regierung nahm für sich in Anspruch, die Rechtsverstöße bereits durch den Chrobog-Erlass beseitigt zu haben. Wie sich die neuesten Entwicklungen auf den Wahlkampf auswirken werden, kann derzeit noch nicht eingeschätzt werden.