Den Schwerpunkt dieser Abhandlung bildet der ordre public-Vorbehalt des Art. 6 der Familienzusammenführungsrichtlinie. Die Familienzusammenführungsrichtlinie enthält in Art. 6 Abs. 1 eine Regelung, nach der die Mitgliedsstaaten einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt eines Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder öffentlichen Gesundheit ablehnen können. Absatz 2 der Bestimmung sieht unter den gleichen Voraussetzungen die Möglichkeit der Mitgliedsstaaten vor, den Aufenthaltstitel eines Familienangehörigen zu entziehen oder dessen Verlängerung abzulehnen.
Bei dieser Bestimmung handelt es sich selbst nicht um eine Rechtsgrundlage, auf die eine Ablehnungsentscheidung gestützt werden kann, sondern um die Konkretisierung der Eingriffsvoraussetzungen für eine im nationalen Recht des jeweiligen Mitgliedsstaates enthaltene Ermächtigungsnorm. Insoweit ist aufgrund des Gesetzesvorbehaltes das nationale Recht bei der Entscheidung über die Ablehnung, die Entziehung oder Ablehnung der Verlängerung eines Aufenthaltstitels heranzuziehen und zu beachten.
Für Familienangehörige, die sich auf die Familiennachzugsrichtlinie berufen können, werden durch Art. 6 die Eingriffsvoraussetzungen näher konkretisiert. Diese sind im Rahmen der nationalen Entscheidungen zu beachten und gehen, sofern sie unmittelbar anwendbar sind, im Wege des Anwendungsvorrangs auch die einschlägigen Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes vor.
In Anbetracht des Wortlauts der Regelung des Art. 6 Abs. 1 und 2 drängt sich die Frage auf, ob die Tatbestandsmerkmale in gleicher Weise ausgelegt werden müssen wie die Konkretisierung des ordre public-Vorbehaltes durch Art. 3 RL 64/221/EWG. Diese Bestimmung enthält zwei wichtige Grundsätze:
- Bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit darf ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein (Absatz 1).
- Strafrechtliche Verurteilung allein können ohne weiteres Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht begründen (Absatz 2).
Weder im EG-Vertrag noch in der abgeleiteten Gesetzgebung werden die Begriffe öffentliche Ordnung, öffentliche Sicherheit und öffentliche Gesundheit definiert, so dass es den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, ihren Geltungsbereich nach Maßgabe der nationalen Gesetzgebung und Rechtsprechung festzulegen. Das heißt jedoch nicht, dass ein Mitgliedstaat, der Maßnahmen hiermit begründet, diese Begriffe seiner eigenen Rechtspraxis entsprechend und in der eigenen Tradition frei definieren und interpretieren kann.
In seinem Urteil in der Rechtssache Van Duyn hat Europäische Gerichtshof hervorgehoben, dass der Begriff der öffentlichen Ordnung im Gemeinschaftsrecht eng zu verstehen ist. Dies gelte insbesondere in Fällen, in denen er eine Ausnahme vom Grundsatz der Feizügigkeit der Arbeitnehmer rechtfertige. Aus diesem Grund kann die Tragweite des Vorbehalts nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Nachprüfung durch die Organe der Gemeinschaft bestimmt werden. In der vorgenannten Entscheidung wird aber auch festgestellt, dass die besonderen Umstände, die möglicherweise die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung rechtfertigen, von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden sein können, so dass den zuständigen innerstaatlichen Behörden ein Beurteilungsspielraum innerhalb der durch den EG-Vertrag und die zu seiner Anwendung erlassenen Vorschriften gesetzten Grenzen zuzubilligen ist.
von Dr. Klaus Dienelt, Richter am Verwaltungsgericht Darmstadt
Die gesamte Abhandlung (11 Seiten steht Mitgliedern) kostenfrei im Downloadbereich zur Verfügung ? ab Ende September gibt es das gesamte E-Book zur Familienzusammenführungsrichtlinie für Mitglieder wie immer kostenfrei, für Nichtmitglieder für voraussichtlich 15 ?