WIEN - In einem Interview mit der Zeitung DIE WELT gab der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel an, ?es wird von unserer Seite eine Derogation, eine permanente Schutzklausel für unseren Arbeitsmarkt geben. Wir werden ganz sicher nicht den österreichischen Arbeitsmarkt für - theoretisch - Millionen türkischer Arbeitskräfte öffnen können oder wollen.?
Das bedeutet, dass türkische Staatsbürger in Österreich nie in den Genuss der vollständigen Personenfreizügigkeit kommen würden.
Als im Mai 2004 die EU um zehn neue Staaten im Osten und Süden Europas erweitert wurde, konnten die alten EU-Staaten die Personenfreizügigkeit bis zu sieben Jahren einschränken. Einige Länder, u.a. auch Deutschland und Österreich haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, so dass erst ab dem Jahre 2011 Personen aus diesen Ländern uneingeschränkt in der EU arbeiten und leben können.
Auch in den Ländern, die ihre heimischen Arbeitsmärkte nicht vor der befürchteten Massenwanderung aus dem Osten abgeschirmt haben, ist jedoch ein derartiger Ansturm ausgeblieben. Welche Möglichkeiten die einzelnen Länder zur Beschränkung der Grundfreiheiten haben werden, müssen die Beitrittsverhandlungen ergeben, die mit der Türkei am 3. Oktober 2005 nach anfänglicher Blockade Österreichs aufgenommen wurden.
Allerdings ist die Ankündigung des österreichischen Regierungschefs höchst bedenklich. Zum einen wird damit ein Verhandlungsergebnis vorweggenommen, was dem Charakter von Verhandlungen zuwiderläuft. Zum zweiten kann eine so unbedingte Aussage die Entwicklungen in der Türkei nicht berücksichtigen. Denn tatsächlich hat die Türkei das Potential, selber wirtschaftlich stark zu werden, so dass die auch aus mehreren anderen Gründen fragwürdige Annahme von ?Millionen türkischer Arbeitskräfte? auf dem österreichischen Arbeitsmarkt insbesondere langfristig nicht überzeugt. Wenn man wirklich derartige Befürchtungen hegt, sind auch andere Modelle vorstellbar. Wie Migrationsrecht.Net berichtete (interner Link), hat die Schweiz nach dem Freizügigkeitsabkommen von 1999 bis zum Jahr 2014 eine spezielle Schutzklausel vereinbart, nach der die Schweiz die Aufenthaltsbewilligungen erneut durch Kontingente beschränken kann, wenn die Zuwanderung zu stark ist. Eine solche Regelung wäre zumindest flexibel und träfe nicht eine derart rigorose Aussage wie diejenige von Bundeskanzler Schüssel.
Zum dritten hat diese Ankündigung negative innenpolitische Auswirkungen hinsichtlich der türkischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU, v.a. in Österreich und Deutschland. Denn diese Menschen erhalten zunehmend das Gefühl, sie (und ihr Herkunftsland) seien nicht willkommen. Und das ist nicht gut.
Zum vierten und letzten wirft die Aussage Schüssels grundlegende Fragen der Konzeption der EU auf. Ist es möglich, dass Vollmitglieder in der EU langfristig nicht die vollen Grundfreiheiten für sich und ihre Staatsangehörigen beanspruchen können? Würde dies nicht der grundsätzlichen, europäischen Idee widersprechen?
Nach Ansicht des Autors kann Europa nur einheitlich als Raum ohne Grenzen und Beschränkungen bestehen. Die Aufnahmekapazität und die Integrationsfähigkeit mögen bedacht werden. Sollten die Völker der EU und ihre politischen Führer der Meinung sein, die Integrationsgrenzen würden überschritten, soll eine Erweiterung ausscheiden und eine andersartige Zusammenarbeit gefunden werden. Wird ein Staat jedoch Vollmitglied verbietet sich -bis auf Übergangsregelungen- jede dauerhafte Diskriminierung.
Allerdings besteht auch Hoffnung. Die Regierenden wechseln in regelmäßigen Abständen und auch die Ansichten von Politikern sind Änderungen unterworfen. Es bleibt daher zu hoffen, dass die starre Haltung Österreichs durch den ein oder anderen Wechsel aufgeweicht wird.
von Daniel Naujoks
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