Mit den Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed vom 12. September 2006 in der Rechtssache Tum und Dari C- 16/05 wurde umfassend zu den Auswirkungen der Standstillklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls auf die Einreisevoraussetzungen für selbstständige türkische Staatsangehörige Stellung bezogen. Damit wird zur Lösung einer der wichtigsten Fragen des Assoziationsrechts beigetragen. Der Generalanwalt kam zu folgendem Ergebnis:
"Artikel 41 Absatz 1 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen untersagt es einem Mitgliedstaat nicht, von dem Tag an, an dem das Protokoll in diesem Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, für einen türkischen Staatsangehörigen, der sich in diesem Mitgliedstaat zur Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit niederlassen will, neue Beschränkungen in Bezug auf die Bedingungen und das Verfahren für die Einreise in sein Hoheitsgebiet einzuführen. "
Sachverhalt
Herr Veli Tum und Herr Mehmet Dari, beide türkische Staatsangehörige, kamen am 29. November 2001 bzw. am 1. Oktober 1998 im Vereinigten Königreich an. Beide hatten im Vereinigten Königreich Asyl beantragt. Diese Anträge wurden vom Secretary of State jedoch abgelehnt, woraufhin die Ausweisung der beiden Männer gemäß dem Dubliner Übereinkommen in diejenigen Mitgliedstaaten angeordnet wurde, in denen sie erstmals Asyl beantragt hatten, nämlich nach Deutschland (Tum) und nach Frankreich (Dari). Ihre anschließend gestellten Anträge auf gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidungen blieben ohne Erfolg. Während seines Aufenthalts im Vereinigten Königreich eröffnete Herr Dari einen eigenen Pizzabetrieb in Herne Bay, Kent. Am 30. September 2002 beantragte Dari bei den Einwanderungsbehörden, ihm die Einreiseerlaubnis für das Vereinigte Königreich zu erteilen, damit er seinen Betrieb weiter führen könne. In ähnlicher Weise beantragte Herr Tum eine Einreiseerlaubnis für das Vereinigte Königreich, um in Nordlondon einen Reinigungsbetrieb zu eröffnen. Herr Tum und Herr Dari machen als Hauptargument geltend, die Stillhalteklausel in Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls erstrecke sich nicht allein auf die Voraussetzungen für eine Niederlassung als solche, sondern auch auf die Voraussetzungen für den Aufenthalt und die Einreise. Im Gemeinschaftsrecht würden Letztere als notwendige Nebenrechte zur Niederlassungsfreiheit betrachtet. Zwar verleihe diese Bestimmung türkischen Staatsangehörigen kein unmittelbares Niederlassungsrecht oder Recht auf Einreise in einen Mitgliedstaat, doch sei über ihre Anträge auf Erlaubnis der Einreise in das Vereinigte Königreich zum Zwecke einer Geschäftsgründung anhand der nationalen Rechtsvorschriften zu entscheiden, die zu dem Zeitpunkt gültig gewesen seien, als das Zusatzprotokoll im Vereinigten Königreich in Kraft getreten sei, d. h. am 1. Januar 1973. Im Anschluss an eine mündliche Verhandlung am 27. Oktober 2004 ordnete das Appellate Committee (Rechtsmittelausschuss) des House of Lords an, nach Artikel 234 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofes über folgende Frage einzuholen:
Ist Artikel 41 Absatz 1 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat untersagt, von dem Tag an, an dem das Protokoll in diesem Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, für einen türkischen Staatsangehörigen, der sich in diesem Mitgliedstaat zur Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit niederlassen will, neue Beschränkungen in Bezug auf die Bedingungen und das Verfahren für die Einreise in sein Hoheitsgebiet einzuführen?
Setzt die Berufung auf die Standstillklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls die rechtmäßige Einreise voraus?
Hierzu führt der Generalanwalt aus: Wie oben erwähnt, legen Herr Tum und Herr Dari – unterstützt von der Kommission und der slowakischen Regierung – das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache Savas dahin gehend aus, dass ein türkischer Staatsbürger sich auf Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls berufen kann, um sicherzustellen, dass auf seine Situation unabhängig davon, ob er sich rechtmäßig im Vereinigten Königreich aufhält, die Niederlassungsvorschriften angewandt werden, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls in diesem Mitgliedstaat galten. Sie machen geltend, dass zu den Niederlassungsvorschriften zwangsläufig auch die Voraussetzungen für die Einreise in den Mitgliedstaat gehörten. Im Streit ist daher, ob eine Berufung auf die Schutzwirkung des Artikels 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls nur möglich ist, wenn dem betreffenden türkischen Staatsangehörigen die Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat rechtmäßig gestattet worden ist und er sich dort rechtmäßig aufhält. Mit anderen Worten: Muss er Zugang zum Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats gemäß den nationalen Einwanderungsvorschriften erlangt haben, ehe er Zugang zu den inländischen Märkten des Mitgliedstaats erlangen kann, um dort eine unselbstständige oder selbstständige Erwerbstätigkeit auszuüben?
Der Generalanwalt vertrat die Auffassung, dass sich türkische Staatsangehörige nur dann auf den Schutz des Artikels 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls berufen können, um sicherzustellen, dass ihre Anträge auf Niederlassung in einem Mitgliedstaat nach dem Recht geprüft werden, das zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls im Aufnahmemitgliedstaat galt, wenn ihnen zunächst gemäß dem innerstaatlichen Einwanderungsrecht rechtmäßig die Einreise in den Mitgliedstaat gestattet worden ist und sie sich rechtmäßig dort aufhalten.
Umfasst die Niederlassungsfreiheit im Rahmen des Artikels 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls ein Recht auf Einreise in einen Mitgliedstaat?
Hierzu führte der Generalanwalt aus: Ich halte es jedoch für fraglich, ob die für die Niederlassungsfreiheit innerhalb der Gemeinschaft geltenden Grundsätze ohne weiteres auf die Inanspruchnahme dieser Freiheit durch Drittstaatsangehörige im Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und Drittländern übertragen werden können. Die Regeln und Grundsätze zur Niederlassungsfreiheit innerhalb der Gemeinschaft beruhen auf dem fundamentalen Ziel der Gemeinschaft, einen Binnenmarkt zu schaffen, der – wie man sich erinnern wird – in Artikel 14 EG beschrieben wird als ein „Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen [des EG]Vertrags gewährleistet ist“. Angesichts dieser Zielsetzung ist das Recht auf Einreise in die Mitgliedstaaten zur Wahrnehmung der durch den EG-Vertrag garantierten Freiheiten unverzichtbar. Könnten die Mitgliedstaaten die Einreise von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten an Bedingungen knüpfen, würde der Binnenmarkt illusorisch.
Mit der Assoziation mit der Türkei wird hingegen ein ganz anderes Ziel verfolgt. Gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Assoziierungsabkommens besteht dieses Ziel darin, „eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden“. Letztendlich soll durch das Abkommen zur Besserung der Lebenshaltung des türkischen Volkes beigetragen werden, was den späteren Beitritt der Türkei zur Gemeinschaft erleichtern wird.
Da türkische Staatsangehörige im Unterschied zu den Angehörigen der Mitgliedstaaten nicht unmittelbar und ohne weiteres das Recht haben, sich in einem Mitgliedstaat niederzulassen, folgt daraus zwangsläufig, dass sie weder ein implizites noch ein abgeleitetes Recht haben, in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen, um dort eine selbstständige Erwerbstätigkeit auszuüben. Außerhalb des Kontextes des innergemeinschaftlichen Verkehrs ist zu unterscheiden zwischen der Frage des Zugangs zu dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Frage des Zugangs zu den Märkten dieses Mitgliedstaats. Das Recht auf Einreise in einen Mitgliedstaat kann nicht als notwendiges Nebenrecht zur Niederlassungsfreiheit im Rahmen des Assoziierungsabkommens mit der Türkei betrachtet werden. Das bedeutet, dass die Vorschriften für die Einreise türkischer Staatsangehöriger in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des Artikels 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls fallen und daher von den Mitgliedstaaten entsprechend ihren sozioökonomischen und demografischen Interessen angepasst oder verschärft werden können.
Ich gelange daher zu dem Ergebnis, dass der Begriff „Niederlassungsfreiheit“ in Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls nicht die Bedingungen für die Einreise türkischer Staatsangehöriger in die Mitgliedstaaten umfasst. Das bedeutet, dass diese Vorschrift nicht herangezogen werden kann, um die Anwendung von Einreisevoraussetzungen für türkische Staatsangehörige zu verhindern, die strenger sind als die, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls in dem betreffenden Mitgliedstaat galten.
Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze ist festzustellen, dass sich ein türkischer Staatsangehöriger nicht auf Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls berufen kann, um sicherzustellen, dass sein Antrag auf Zulassung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zum Zwecke der Gründung eines Unternehmens anhand der Kriterien geprüft wird, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls in dem betreffenden Mitgliedstaat galten. Die Anerkennung eines solchen Rechts würde die – vom Gerichtshof im Urteil Savas bestätigte – ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Regelung der ersten Zulassung der Einreise türkischer Staatsangehöriger untergraben. Diese Zuständigkeit erstreckt sich nicht nur auf die Befugnis zur Prüfung eines Einreiseantrags, sondern sie umfasst auch die Befugnis zur Änderung der entsprechenden Prüfungskriterien. In einem Bereich wie der Einwanderungspolitik sollte das Gemeinschaftsrecht so ausgelegt und angewendet werden, dass die Mitgliedstaaten die ihnen verbleibenden Befugnisse wirksam ausüben können.
Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass diese Lösung de facto dazu führt, dass türkische Staatsangehörige bei der Gründung eines Unternehmens in einem Mitgliedstaat strengere Voraussetzungen zu erfüllen haben, als es bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls im Aufnahmemitgliedstaat der Fall war. Dies ist jedoch die zwangsläufige Folge der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft im Bereich der Einwanderung. Nachdem einem türkischen Staatsangehörigen die Einreise in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats gestattet worden ist, kann er sich unter Berufung auf die Schutzwirkung des Artikels 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls gegen die Anwendung anderer, im Laufe der Zeit verschärfter Niederlassungsvoraussetzungen wehren. Dieses Recht ist insbesondere für türkische Staatsangehörige von Bedeutung, denen als Arbeitnehmer die Einreise in einen Mitgliedstaat erlaubt worden ist, die sich nach einiger Zeit zur Gründung eines eigenen Unternehmens entschließen und die dann weniger restriktiven Niederlassungsbedingungen unterliegen. Dies scheint mir der Hauptzweck von Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls zu sein.