Der Europäische Gerichtshof hat in der Rechtssache Gattoussi, (C-97/05) am 14. Dezember 2006 über die aufenthaltsrechtliche Bedeutung des Artikel 64 Absatz 1 des Europa–MittelmeerAbkommens vom 26. Januar 1998 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen Republik andererseits (ABl. L 97, S. 1, im Folgenden: Europa–MittelmeerAbkommen) entschieden. Artikel 64 des Europa–MittelmeerAbkommens in Kapitel I („Bestimmungen über die Arbeitskräfte“) des Titels VI („Zusammenarbeit im sozialen und kulturellen Bereich“) lautet:
„(1) Jeder Mitgliedstaat gewährt den Arbeitnehmern tunesischer Staatsangehörigkeit, die in seinem Hoheitsgebiet beschäftigt sind, eine Behandlung, die hinsichtlich der Arbeits-, Entlohnungs- und Kündigungsbedingungen keine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Benachteiligung gegenüber seinen eigenen Staatsangehörigen bewirkt.
(2) Absatz 1 gilt hinsichtlich der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen für alle tunesischen Arbeitnehmer, die dazu berechtigt sind, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eine befristete nichtselbständige Erwerbstätigkeit auszuüben.
(3) Tunesien gewährt den in seinem Hoheitsgebiet beschäftigten Arbeitnehmern, die Staatsangehörige der Mitgliedstaaten sind, die gleiche Behandlung.“
Der Europäische Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass das Diskriminierungsverbot in Bezug auf die Arbeits-, Entlohnungs- und Kündigungsbedingungen in Art. 64 des Europaabkommens einer Befristung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis entgegensteht, wenn der Ausländer eine ordnungsgemäße Genehmigung erhalten hat, eine Berufstätigkeit für eine die Dauer seiner Aufenthaltserlaubnis übersteigende Zeit auszuüben, und keine Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit eine Aufenthaltsbeendigung erfordern.
Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und die Vorlagefragen
Herr Gattoussi heiratete am 30. August 2002 eine deutsche Staatsangehörige. Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Tunis stellte ihm für seine Einreise nach Deutschland ein Visum zur Familienzusammenführung aus. Am 24. September 2002 wurde Herrn Gattoussi vom Oberbürgermeister der Stadt Rüsselsheim, wo sich das Ehepaar niederlassen wollte, eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre erteilt. Am 22. Oktober 2002 erteilte das Arbeitsamt Darmstadt Herrn Gattoussi eine unbefristete Arbeitsgenehmigung, in der auf die Anwendbarkeit von § 284 SGB III hingewiesen wurde. Am 11. März 2003 schloss Herr Gattoussi einen auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag, der später bis zum 31. März 2005 verlängert wurde.
Nachdem der Oberbürgermeister der Stadt Rüsselsheim von der Ehefrau von Herrn Gattoussi davon unterrichtet worden war, dass sie seit dem 1. April 2004 von ihrem Mann getrennt lebe, befristete er die Aufenthaltserlaubnis von Herrn Gattoussi mit Bescheid vom 23. Juni 2004 auf den Tag der Zustellung dieser Verfügung und forderte ihn auf, Deutschland bei Meidung der Abschiebung nach Tunesien unverzüglich zu verlassen. Im Rahmen des Verfahrens über diese Klage gegen die Befristung hat das Verwaltungsgericht dem Gerichtshof folgende vier Fragen vorgelegt:
(1) Entfaltet Artikel 64 des Europa–Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien aufenthaltsrechtliche Wirkung?
Für den Fall, dass die Frage unter Ziffer 1 bejaht wird:
(2) Kann aus dem Diskriminierungsverbot des Artikels 64 des Europa–Mittelmeer-Abkommens eine aufenthaltsrechtliche Position abgeleitet werden, die einer Befristung des Aufenthaltsrechts entgegensteht, wenn ein tunesischer Staatsangehöriger im Besitz einer unbefristeten Arbeitsgenehmigung ist, tatsächlich einer Beschäftigung nachgeht und im Zeitpunkt der ausländerrechtlichen Entscheidung über ein befristetes Aufenthaltsrecht verfügt?
Für den Fall, dass die Frage unter Ziffer 2 bejaht wird:
(3) Kann zur Bestimmung der sich aus dem Diskriminierungsverbot des Artikels 64 des Europa–Mittelmeer-Abkommens ergebenden aufenthaltsrechtlichen Position auf einen Zeitpunkt nach Erlass der ausländerrechtlichen Befristungsverfügung abgestellt werden
(4) Für den Fall, dass die Frage unter Ziffer 3 bejaht wird:
Ist zur Konkretisierung des Vorbehalts der Gründe des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates auf die zu Artikel 39 Absatz 3 EG entwickelten Grundsätze zurückzugreifen?
Zur unmittelbaren Wirkung von Artikel 64 Absatz 1 des Europa–MittelmeerAbkommens
Der Europäische Gerichtshof bejahte die unmittelbare Wirkung des Diskriminierungsverbots mit folgender Begründung: „Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Bestimmung eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens unmittelbar anwendbar, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Zweck und die Natur des Abkommens eine klare und präzise Verpflichtung enthält, deren Erfüllung und deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. September 2001 in der Rechtssache C63/99, Gloszczuk, Slg. 2001, I6369, Randnr. 30, vom 8. Mai 2003 in der Rechtssache C171/01, Wählergruppe Gemeinsam, Slg. 2003, I4301, Randnr. 54, und Simutenkov, Randnr. 21). Was erstens den Wortlaut von Artikel 64 Absatz 1 des Europa–MittelmeerAbkommens angeht, so entspricht er nahezu dem des Artikels 40 Absatz 1 des Abkommens EWG–Marokko, gegenüber dem er lediglich das Diskriminierungsverbot auf die Kündigungsbedingungen erstreckt. Wie der Gerichtshof entschieden hat, erfüllte dieser Artikel 40 Absatz 1 die Anforderungen für die Zuerkennung unmittelbarer Wirkung (Urteil ElYassini, Randnr. 27).
Was zweitens Zweck und Natur des Europa–MittelmeerAbkommens angeht, so ist darauf hinzuweisen, dass es gemäß seinem Artikel 96 Absatz 2 das Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Tunesischen Republik, genehmigt im Namen der Gemeinschaft durch die Verordnung (EWG) Nr. 2212/78 des Rates vom 26. September 1978 über den Abschluss des Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Tunesischen Republik (ABl. 265, S. 2, im Folgenden: Abkommen EWGTunesien), ersetzt, mit dem es in einer Linie steht, da es u. a. die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Kultur und Finanzen fördern soll. Dieses Kooperationsabkommen war im Wesentlichen identisch mit dem Abkommen EWG–Marokko, dessen Zweck und Natur insbesondere im Hinblick auf die Zusammenarbeit im Bereich der Arbeitskräfte nach der Feststellung des Gerichtshofes mit der direkten Wirkung seines Artikels 40 Absatz 1 vereinbar sind (Urteil El Yassini, Randnrn. 28 bis 31). Dies gilt umso mehr, als das Europa–MittelmeerAbkommen im Gegensatz zum Abkommen EWG–Marokko in seinem Artikel 1 Absatz 1 eine Assoziation zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Tunesien andererseits vorsieht.“
Zur Tragweite von Artikel 64 Absatz 1 des Europa–MittelmeerAbkommens
Wie die deutsche Regierung ausführt, ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Artikel 64 Absatz 1 des Europa–MittelmeerAbkommens wie aus der Gemeinsamen Erklärung dazu, dass diese Bestimmung als solche nicht der Regelung des Aufenthaltsrechts tunesischer Staatsangehöriger in den Mitgliedstaaten dient.
Daher ist, dem folgend, was der Gerichtshof in der Rechtssache ElYassini in Bezug auf das Abkommen EWG–Marokko entschieden hat, festzustellen, dass das Europa–MittelmeerAbkommen, das nicht die Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zum Gegenstand hat, es einem Mitgliedstaat grundsätzlich nicht untersagt, Maßnahmen in Bezug auf das Aufenthaltsrecht eines tunesischen Staatsangehörigen zu ergreifen, der zunächst die Erlaubnis zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat und zur Aufnahme einer Berufstätigkeit dort erhalten hat (Urteil ElYassini, Randnrn. 58 bis 62).
Dass ein solches Vorgehen den Betroffenen dazu zwingt, sein Arbeitsverhältnis im Aufnahmemitgliedstaat vor dem mit dem Arbeitgeber vertraglich vereinbarten Termin zu beenden, ändert daran grundsätzlich nichts (Urteil ElYassini, Randnr. 63).
Allerdings ergibt sich entgegen der Ansicht der deutschen Regierung aus dieser Auslegung nicht, dass ein tunesischer Staatsangehöriger sich in keinem Fall auf das Diskriminierungsverbot des Artikels 64 Absatz 1 des Europa–MittelmeerAbkommens berufen kann, um eine Maßnahme anzufechten, die ein Mitgliedstaat ergriffen hat, um sein Aufenthaltsrecht zu beschränken.
Denn es kann nicht angenommen werden, dass die Mitgliedstaaten über das Diskriminierungsverbot des Artikels 64 Absatz 1 des Europa–MittelmeerAbkommens verfügen, indem sie dessen praktische Wirksamkeit durch Bestimmungen des nationalen Rechts beschränken. Eine solche Möglichkeit würde zum einen die Bestimmungen eines von der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten geschlossenen Abkommens beeinträchtigen und zum anderen die einheitliche Anwendung dieses Verbots in Frage stellen.
Insbesondere kann, wie der Gerichtshof bereits in der Rechtssache ElYassini entschieden hat, der Aufnahmemitgliedstaat dann, wenn er dem Wanderarbeitnehmer ursprünglich in Bezug auf die Ausübung einer Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf den Aufenthalt verliehen hatte, die Situation dieses Arbeitnehmers nicht aus Gründen in Frage stellen, die nicht dem Schutz eines berechtigten Interesses des Staates, wie der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit dienen (Urteil ElYassini, Randnrn. 64, 65 und 67).
Der Begriff der öffentlichen Ordnung setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteile vom 28. Oktober 1975 in der Rechtssache 36/75, Rutili, Slg. 1975, I1279, Randnr. 28, vom 10. Februar 2000 in der Rechtssache C340/97, Nazli, Slg. 2000, I957, Randnr. 57, und vom 25. Juli 2002 in der Rechtssache C459/99, MRAX, Slg. 2002, I6591, Randnr. 79)."
In Anbetracht der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit gilt das oben Gesagte erst recht, wenn, wie im vorliegenden Fall, der Aufnahmemitgliedstaat die Aufenthaltserlaubnis nachträglich befristet.
"Nach allem ist Artikel 64 Absatz 1 des Europa–MittelmeerAbkommens dahin auszulegen, dass er Wirkungen auf das Recht eines tunesischen Staatsangehörigen entfaltet, sich im Gebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten, wenn dieser Staatsangehörige von diesem Mitgliedstaat eine ordnungsgemäße Genehmigung erhalten hat, eine Berufstätigkeit für eine die Dauer seiner Aufenthaltserlaubnis übersteigende Zeit auszuüben.2
Link zur Entscheidung und zu den Schlussanträgen