In der Rechtssache C-325/05 (Derin) hat der Generalanwalt Yves Bot am 11. Januar 2007 seine Schlussanträge abgegeben. Das Vorlageverfahren betrifft die für die ausländerrechtliche Praxis bedeutsame Frage, ob Art. 59 des Zusatzprotokolls bewirkt, dass die Rechte türkischer Familienangehöriger nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 auch dann Erlöschen, wenn der Familienangehörige das 21. Lebensjahr vollendet hat und von seinen Eltern keinen Unterhalt mehr erhält.
Die Schlussanträge sind aber neben der vorgenannten Frage auch aus einem anderen Grund von Bedeutung: Die Rechte türkischer Kinder wurden weiter ausgedehnt. Denn der Generalanwalt geht hinsichtlich des Merkmals Berufsausbildung als Voraussetzung der Rechtsposition des Art. 7 Abs. 2 ARB 1/80 davon aus, dass der Begriff „Berufsausbildung“ sehr weit zu fassen ist. Es genügt jede Form der Ausbildung, die auf eine Qualifikation für einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Beschäftigung vorbereitet oder die die besondere Befähigung zur Ausübung eines solchen Berufs oder einer solchen Beschäftigung verleiht, und zwar unabhängig vom Alter und vom Ausbildungsniveau der Schüler und Studenten und selbst dann, wenn der Lehrplan auch allgemeinbildenden Unterricht enthält.
Der Generalanwalt führt zu dieser Frage Folgendes aus:
72. „Diese Regierungen werfen jedoch die Frage auf, ob die Situation von Herrn Derin nicht eher Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 zuzuordnen sei, der die Lage von Kindern türkischer Arbeitnehmer behandelt, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, denn der Betreffende habe nach den Angaben des vorlegenden Gerichts zum einen vom 6. August 1988 bis zum 15. Juli 1990 eine Berufsschule besucht und zum anderen im September 2001 eine Ausbildung als Lastwagenfahrer begonnen.
73. Der in Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 verwendete Begriff der „Berufsausbildung“ wird in diesem Beschluss nicht definiert. Seine Bedeutung ist auch vom Gerichtshof nicht bestimmt worden; allerdings hat er das Ziel der Vorschrift, zu der dieser Begriff gehört, herausgearbeitet. Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 stellt nach Auffassung des Gerichtshofs eine gegenüber Abs. 1 günstigere Bestimmung dar, weil sie die Kinder eines türkischen Arbeitnehmers insoweit besonders behandeln wolle, als sie ihnen den Eintritt in den Arbeitsmarkt nach Abschluss einer Berufsausbildung zu erleichtern suche, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß dem Zweck dieses Beschlusses schrittweise zu verwirklichen.
74. Im Hinblick auf dieses Ziel bin ich der Auffassung, dass der Begriff „Berufsausbildung“ im Sinne des Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 eine vergleichbare Auslegung wie der gleiche Begriff in Art. 150 EG erfahren sollte, weil beide Vorschriften vergleichbare Ziele verfolgen. Art. 150 EG weist nämlich der europäischen Gemeinschaft die Aufgabe zu, die Maßnahmen der Mitgliedstaaten für die berufliche Bildung zu ergänzen, um insbesondere die berufliche Eingliederung und Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu erleichtern.
75. Der Gerichtshof hat den Begriff „Berufsausbildung“ im Sinne des Vertrags weit ausgelegt. So erfasst dieser Begriff nach der Rechtsprechung jede Form der Ausbildung, die auf eine Qualifikation für einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Beschäftigung vorbereitet oder die die besondere Befähigung zur Ausübung eines solchen Berufs oder einer solchen Beschäftigung verleiht, und zwar unabhängig vom Alter und vom Ausbildungsniveau der Schüler und Studenten und selbst dann, wenn der Lehrplan auch allgemeinbildenden Unterricht enthält.
76. Es ist Sache des nationalen Gerichts, das allein für die Tatsachenfeststellung des Ausgangsverfahrens zuständig ist, zu prüfen, ob Herr Derin aufgrund des Besuchs einer Berufsschule vom 6. August 1988 bis zum 15. Juli 1990 und einer Ausbildung als Lastwagenfahrer ab September 2001 eine Berufsausbildung im Aufnahmemitgliedstaat im Sinne von Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 abgeschlossen hat.“
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