EuGH: Keine Privilegierung türkischer Staatsangehöriger gegenüber Unionsbürgern

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Der Europäische Gerichtshof hat in der Rechtssache Derin (Az. C-325/05) die in der Praxis bedeutsame Frage entschieden, ob es mit Art. 59 des Zusatzprotokolls vereinbar ist, wenn ein türkischer Staatsangehöriger, der als Kind im Wege der Familienzusammenführung zu seinen in der Bundesrepublik Deutschland als Arbeitnehmer beschäftigten Eltern gezogen ist, sein aus dem Recht nach Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, abgeleitetes Aufenthaltsrecht – außer in den Fällen des Art. 14 dieses Beschlusses und bei Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe – auch dann nicht verliert, wenn er nach Vollendung des 21. Lebensjahres nicht mehr mit seinen Eltern zusammenlebt und von ihnen keinen Unterhalt erhält.

Dem Vorabentscheidungsersuchen lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Aus dem Vorlagebeschluss ergibt sich, dass Herr Derin, der am 30. September 1973 geboren wurde, die Erlaubnis erhielt, am 1. Juli 1982 zum Zweck der Familienzusammenführung zu seinen Eltern in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen. Die Eltern von Herrn Derin waren in diesem Mitgliedstaat für 6 bzw. 24 Jahre rechtmäßig als Arbeitnehmer beschäftigt. Nach seiner Einreise nach Deutschland besuchte Herr Derin von August 1982 bis Juli 1988 die Grundschule und von August 1988 bis Juli 1990 eine Berufsschule. Er schloss seine Schulausbildung im Laufe des Jahres 1991 mit der Mittlere-Reife-Prüfung ab. Nach Abschluss seiner Schulausbildung war Herr Derin nacheinander bei mehreren Arbeitgebern beschäftigt, doch dauerten seine Beschäftigungen bei demselben Arbeitgeber stets weniger als ein Jahr. Von 1992 bis 1996 war Herr Derin rechtmäßig als Selbständiger tätig. Im Herbst 1994 verließ er die elterliche Wohnung und gründete seinen eigenen Hausstand. Seiner türkischen Ehefrau wurde die Erlaubnis erteilt, am 24. Februar 2002 zu ihm nach Deutschland zu ziehen. Herr Derin wurde seit August 1994 mehrmals zu Geldstrafen wegen verschiedener Straftaten und mit Urteil vom 13. Dezember 2002 zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zweieinhalb Jahren wegen Einschleusens von Ausländern nach Deutschland verurteilt. Mit Verfügung vom 24. November 2003 wurde er für unbefristete Dauer aus Deutschland ausgewiesen. Ihm wurde die Abschiebung aus der Haft angekündigt.
Nachdem sein Widerspruch gegen diese Ausweisungsverfügung am 15. September 2004 zurückgewiesen worden war, erhob Herr Derin am 5. Oktober 2004 Klage beim Verwaltungsgericht Darmstadt und machte geltend, er gehöre zu dem durch Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 begünstigten Personenkreis. Daher falle er unter Art. 14 dieses Beschlusses, der die Ausweisung vom Vorliegen einer konkreten Gefahr neuer erheblicher Störungen der öffentlichen Ordnung abhängig mache; diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall jedoch nicht erfüllt.
Das Verwaltungsgericht Darmstadt hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1.      Ist es mit Art. 59 des Zusatzprotokolls vereinbar, wenn ein türkischer Staatsangehöriger, der als Kind im Wege der Familienzusammenführung zu seinen in der Bundesrepublik Deutschland als Arbeitnehmer beschäftigten Eltern gezogen ist, sein aus dem Recht nach Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, abgeleitetes Aufenthaltsrecht – außer in den Fällen des Art. 14 dieses Beschlusses und bei Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe – auch dann nicht verliert, wenn er nach Vollendung des 21. Lebensjahres nicht mehr mit seinen Eltern zusammenlebt und von ihnen keinen Unterhalt erhält?
2.      Genießt dieser türkische Staatsangehörige trotz des Verlusts der Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 14 dieses Beschlusses, wenn er nach Auflösung der familiären Lebensgemeinschaft mit seinen Eltern unregelmäßig unselbständig beschäftigt gewesen ist, ohne durch seine Arbeitnehmereigenschaft eine eigenständige Rechtsposition aus Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 zu erlangen, und über einen Zeitraum von mehreren Jahren ausschließlich eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübte?

In den tragenden Gründen stellt der Gerichtshof dar, dass bei einer Gesamtbetrachtung keine Privilegierung türkischer Staatsangehöriger gegenüber Unionsbürgern, die mit Art. 59 des Zusatzprotokolls unvereinbar wäre, vorliege. Hierzu wird Folgendes ausgeführt:

"62      Hierzu ist zunächst festzustellen, dass nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1612/68 die Kinder eines Arbeitnehmers, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, wenn sie noch nicht 21 Jahre alt sind oder ihnen Unterhalt gewährt wird, das uneingeschränkte Recht haben, bei diesem Wanderarbeitnehmer der Gemeinschaft Wohnung zu nehmen.
63      Art. 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 macht hingegen die Familienzusammenführung ausdrücklich von einer gemäß den Anforderungen der Regelung des Aufnahmemitgliedstaats erteilten Genehmigung für den Nachzug zum türkischen Wanderarbeitnehmer abhängig (vgl. Urteil vom 30. September 2004, Ayaz, C275/02, Slg. 2004, I8765, Randnrn. 34 und 35).
64      Im Rahmen der Assoziierung EWG–Türkei ist daher die Familienzusammenführung – abgesehen von dem besonderen Fall, dass der türkische Staatsangehörige im Aufnahmenmitgliedstaat geboren ist und stets dort gelebt hat – kein Recht der Familienangehörigen des türkischen Wanderarbeitnehmers, sondern sie hängt im Gegenteil von einer Entscheidung der nationalen Behörden ab, die allein in Anwendung des Rechts des betreffenden Mitgliedstaats getroffen wird, vorbehaltlich der Einhaltung der Menschenrechte, wie sie u. a. in Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert sind (vgl. entsprechend Urteil vom 17. September 2002, Baumbast und R, C413/99, Slg. 2002, I7091, Randnr. 72).
65      Sodann haben nach Art. 11 der Verordnung Nr. 1612/68 die Kinder, die bei dem Arbeitnehmer Wohnung nehmen dürfen, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, allein aus diesem Grund das Recht, im Aufnahmemitgliedstaat irgendeine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben, während das Recht der Kinder eines türkischen Wanderarbeitnehmers auf Ausübung einer Beschäftigung in Art. 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 präzise geregelt ist, der dafür unterschiedliche Voraussetzungen aufstellt, je nachdem, wie lange sie bei dem türkischen Arbeitnehmer, von dem sie Rechte ableiten, ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. So wird den türkischen Staatsangehörigen während der ersten drei Aufenthaltsjahre kein solches Recht gewährt, während sie nach drei Jahren mit einem ordnungsgemäßen Wohnsitz bei ihrer Familie vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten einzuräumenden Vorrangs das Recht haben, sich auf ein Stellenangebot zu bewerben. Erst nach fünf Jahren mit ordnungsgemäßem Wohnsitz haben sie freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.
66      Schließlich hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass türkische Staatsangehörige im Gegensatz zu den Arbeitnehmern der Mitgliedstaaten keine Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft genießen, sondern nur im Aufnahmemitgliedstaat bestimmte Rechte besitzen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 23. Januar 1997, Tetik, C171/95, Slg. 1997, I329, Randnr. 29, vom 11. Mai 2000, Savas, C37/98, Slg. 2000, I2927, Randnr. 59, und Wählergruppe Gemeinsam, Randnr. 89).
67      Außerdem gibt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Voraussetzungen, unter denen die aus Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 abgeleiteten Rechte beschränkt werden können, zusätzlich zu der Ausnahme wegen der Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die gleichermaßen auf türkische Staatsangehörige wie auf Gemeinschaftsangehörige anwendbar ist (vgl. u. a. Urteil vom 10. Februar 2000, Nazli, C340/97, Slg. 2000, I957, Randnrn. 55, 56 und 63), einen zweiten Erlöschensgrund für diese Rechte, der nur die türkischen Migranten betrifft, nämlich den, dass sie den Aufnahmemitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. Randnrn. 54 und 57 des vorliegenden Urteils). Will sich der Betroffene in einem solchen Fall später erneut in dem fraglichen Mitgliedstaat niederlassen, können die Behörden dieses Staates verlangen, dass er erneut eine Aufenthaltserlaubnis beantragt, um zu dem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen, wenn er noch von ihm abhängt, oder um auf der Grundlage von Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 dort eine Arbeit aufnehmen zu können (vgl. Urteil Ergat, Randnr. 49).
68      Angesichts der erheblichen Unterschiede in der jeweiligen Rechtsstellung ist unter diesen Umständen die Situation eines Kindes eines türkischen Wanderarbeitnehmers nicht mit der eines Kindes eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats zu vergleichen, zumal sich die günstigere Stellung des Letzteren unmittelbar aus dem Wortlaut der anwendbaren Regelung ergibt.
69      Daher kann entgegen der vom vorlegenden Gericht befürworteten Auslegung nicht angenommen werden, dass sich ein Familienmitglied eines türkischen Wanderarbeitnehmers, das die Genehmigung erhalten hat, zu diesem in einen Mitgliedstaat zu ziehen, aufgrund der Beschränkung der Verlusttatbestände für sein Aufenthaltsrecht, wie sie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt (vgl. Randnrn. 54 und 57 des vorliegenden Urteils), in einer günstigeren Situation befindet als ein Familienmitglied eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, so dass gegen die Regel des Art. 59 des Zusatzprotokolls verstoßen würde.
70      Die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene Auslegung berücksichtigt außerdem nicht, dass Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 und Art. 10 der Verordnung Nr. 1612/68 unterschiedlich formuliert sind.
71      Ferner hätte eine solche Auslegung unweigerlich zur Folge, dass die Rechtsstellung der Kinder türkischer Wanderarbeitnehmer mit zunehmender Integration im Aufnahmemitgliedstaat ungesicherter würde, obwohl mit Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 im Gegenteil eine fortschreitende Verbesserung der Situation der Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer im betreffenden Mitgliedstaat angestrebt wird, indem ihnen erlaubt wird, dort nach einiger Zeit ein unabhängiges Leben zu führen.
72      Wie sich zudem aus den Gründen der Vorlageentscheidung ergibt, stützt sich die Auslegung des vorlegenden Gerichts, wie sie in Randnr. 60 des vorliegenden Urteils wiedergegeben ist, im Wesentlichen auf die Erwägungen in Nr. 52 der Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed in der Rechtssache, in der das Urteil Ayaz ergangen ist, obwohl Erwägungen dieser Art keinen Eingang in die Begründung jenes Urteils gefunden haben.
73      Da das vorlegende Gericht seine erste Frage nach Verkündung des Urteils Aydinli ausdrücklich mit dem Ziel umformuliert hat, den Gerichtshof zur Überprüfung der Richtigkeit dieses Urteils zu bewegen, ist noch darauf hinzuweisen, dass, zum einen, die in dem Urteil vorgenommene Auslegung des Geltungsumfangs des Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 nur die Auslegung dieser Bestimmung in der vorherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt (Urteile Ergat und Cetinkaya). Zum anderen wurde diese Auslegung vom Gerichtshof aus denselben Gründen auf Art. 7 Satz 2 dieses Beschlusses erstreckt (Urteil Torun). Im Übrigen wird nichts vorgetragen, was geeignet wäre, die Sach- und Rechtslage des Ausgangsverfahrens deutlich von derjenigen in den Rechtssachen zu unterscheiden, in der die Urteile Ergat, Cetinkaya, Aydinli und Torun ergangen sind, so dass für den Gerichtshof im vorliegenden Fall kein hinreichender Anlass besteht, seine Rechtsprechung hierzu zu überdenken.
74      Schließlich ist für eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens, in der von den zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats gegen einen türkischen Staatsangehörigen eine Ausweisungsverfügung erlassen wurde, nachdem er dort wegen verschiedener Verstöße gegen das nationale Recht verurteilt worden war, zu präzisieren, dass für die Ermächtigung der Mitgliedstaaten zum Ergreifen der erforderlichen Maßnahmen Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 einschlägig ist, allerdings unter dem Vorbehalt, dass diese Behörden das persönliche Verhalten des Straftäters sowie die gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt, prüfen und außerdem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile Nazli, Randnrn. 57 bis 61, und entsprechend vom 26. November 2002, Oteiza Olazabal, C100/01, Slg. 2002, I10981, Randnrn. 39, 43 und 44). Insbesondere kann eine auf Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 gestützte Ausweisung nur dann beschlossen werden, wenn das individuelle Verhalten des Betroffenen auf die konkrete Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet. Eine Ausweisung kann daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zweck der Generalprävention angeordnet werden (vgl. Urteil vom 7. Juli 2005, Dogan, C383/03, Slg. 2005, I6237, Randnr. 24)."

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Ein türkischer Staatsangehöriger, der als Kind im Wege der Familienzusammenführung in einen Mitgliedstaat einreisen durfte und das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nach Art. 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, erworben hat, verliert das von diesem Recht auf freien Zugang abgeleitete Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat nur in zwei Fallgruppen, nämlich
–in den Fällen des Art. 14 Abs. 1 dieses Beschlusses oder
–bei Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe,
und zwar auch dann, wenn er älter als 21 Jahre ist, von seinen Eltern keinen Unterhalt mehr erhält, sondern im betreffenden Mitgliedstaat ein selbständiges Leben führt, und dem Arbeitsmarkt mehrere Jahre lang wegen der Verbüßung einer gegen ihn verhängten und nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von solcher Dauer nicht zur Verfügung gestanden hat. Eine solche Auslegung ist nicht mit den Anforderungen des Art. 59 des Zusatzprotokolls unvereinbar, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.