Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich beim informellen Gipfel in Lissabon über den EU-Reformvertrag geeinigt. Als "Vertrag von Lissabon" soll er am 13. Dezember feierlich unterzeichnet werden. Bundeskanzlerin Merkel sagte, die Einigung sei ein "großer politischer Erfolg". Bundesaußenminister Steinmeier meinte, die "geduldige Arbeit" der deutschen EU-Ratspräsidentschaft habe sich ausgezahlt. Nach der "tiefsten europäischen Depression" werde Europa nunmehr auf eine neue vertragliche Grundlage gestellt. Der Reformvertrag übernimmt wesentliche Elemente des alten Verfassungsvertragsentwurfs. Er sieht tief greifende Reformen der EU vor – sowohl bei den Institutionen und Verfahren als auch bei den Sachpolitiken wie etwa der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der Justiz- und Innenpolitik oder der Klimaschutzpolitik. Wesentliche Inhalte des Vertrags sind die Einführung einer zweieinhalbjährigen Amtszeit des Ratspräsidenten, die Einführung eines «Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik» sowie die Einführung von Mehrheitsentscheidungen mit «doppelter Mehrheit». Der Streit mit der polnischen Regierung um die «Ioannina-Klausel» wurde beigelegt. Die EU-Grundrechte-Charta wird - außer in Großbritannien und Polen - in den Mitgliedsländern rechtsverbindlich. Der Vertrag muss nach der Unterzeichnung noch in allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Ziel ist sein Inkrafttreten vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2009.
Den Staats- und Regierungschefs sowie den Außenministern gelang es auf dem informellen Gipfeltreffen in Lissabon, die letzten offenen Fragen zu klären. Sowohl über die Sitzverteilung im Europäischen Parlament als auch über die Frage der genauen Ausgestaltung der Beratungen bei Mehrheitsentscheidungen konnte eine abschließende Verständigung unter den 27 Mitgliedstaaten erzielt werden.
Die Außenminister hatten die Regierungskonferenz zur Ausarbeitung eines EU-Reformvertrages am 23. Juli offiziell eröffnet. Genau einen Monat vorher hatten sich die Staats- und Regierungschefs unter deutscher EU-Präsidentschaft über die Fortsetzung des EU-Reformprozesses geeinigt. Der erste Vertragsentwurf vom 23. Juli war von Ende August bis Anfang Oktober von Rechtsexperten aus allen 27 Mitgliedstaaten im Detail überprüft und verhandelt worden.
Für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewappnet sein
Durch den neuen Reformvertrag soll die EU demokratischer, transparenter und effizienter werden. Er soll der EU die Fähigkeit verleihen, sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu stellen – im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und auf der Grundlage des europäischen Wertefundaments: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte.
Durch Neuerungen im Bereich der Außenpolitik soll die EU in die Lage versetzt werden, europäische Interessen auf internationaler Ebene sichtbarer und mit größerem Nachdruck einbringen zu können. Auch für die Zukunft gilt dabei das Motto der deutschen EU-Präsidentschaft: Europa gelingt gemeinsam!
Der Reformvertrag übernimmt die wesentlichen inhaltlichen Fortschritte des Verfassungsvertrags, baut aber auf der Struktur der bestehenden Verträge auf. Dementsprechend wird der Reformvertrag – in zwei Artikeln – die Änderung des Vertrages über die Europäische Union (EU-Vertrag) und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) vorsehen. Der Name des EG-Vertrages wird dabei in "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" geändert. Gegenüber dem ursprünglichen Verfassungsvertrag enthält der Reformvertrag eine Reihe von Änderungen und Ergänzungen, die im Einzelnen im Mandat für die Regierungskonferenz festgelegt wurden.
Wesentliche Änderungen
Sie betreffen etwa die Klarstellung der Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, den Zeitpunkt der Einführung der doppelten Mehrheit, die Grundrechte-Charta, den Subsidiaritätskontrollmechanismus, die vereinfachte Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit sowie Fragen des Klimaschutzes und der Energiesolidarität.
Die Handlungsfähigkeit der Union wird durch tief greifende Reformen im institutionellen Bereich gestärkt. Ein hauptamtlicher Präsident des Europäischen Rates wird die Kontinuität des Unionshandelns stärken. Der Anwendungsbereich der qualifizierten Mehrheit wird ausgeweitet. Für Entscheidungen des Rates wird ab 1. November 2014 grundsätzlich die "doppelte Mehrheit" gelten, die sowohl die Gleichheit der Mitgliedstaaten als auch die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt, bis zum 31. März 2017 können Mitgliedstaaten bei Annahme eines Beschlusses mit qualifizierter Mehrheit Abstimmung nach dem derzeit geltenden Stimmsystem beantragen. Der rotierende Vorsitz in den Ministerräten bleibt in Form einer 18-monatigen Teampräsidentschaft aus drei Mitgliedstaaten grundsätzlich erhalten. Die Zahl der Kommissare wird ab 2014 auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten reduziert.
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) wird ausgebaut. Das neue Amt des "Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik" wird eine stärkere Kohärenz des Außenhandelns sicherstellen. Dieser führt den Vorsitz im Rat für Auswärtige Angelegenheiten und ist gleichzeitig als Vizepräsident der Kommission zuständig für den Bereich Außenbeziehungen. Unterstützt wird er durch den Europäischen Auswärtigen Dienst, der aus Mitarbeitern der Kommission, des Ratssekretariats und entsandten Diplomaten der Mitgliestaaten bestehen wird. Die Beschlussfassung in der GASP wird auch weiterhin im Wesentlichen einstimmig erfolgen.
Die Fortschritte in den Sachpolitiken betreffen insbesondere die Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität, die Energiepolitik sowie den Bereich Soziales. Zusätzlich werden neue Bestimmungen für Klimaschutz und Energiesolidarität aufgenommen. In der Justiz- und Innenpolitik wurden die bemerkenswerten Integrationsfortschritte des Verfassungsvertrages weitestgehend erhalten und die Möglichkeiten für eine verstärkte Zusammenarbeit einer Gruppe von Mitgliedstaaten, die vorangehen möchten, erleichtert.
Der Reformvertrag stärkt auch Demokratie und Grundrechtsschutz durch den Ausbau der Rolle des Europäischen Parlaments, die direkte Einbindung der nationalen Parlamente am europäischen Gesetzgebungsprozess, die Europäische Bürgerinitiative und die Grundrechte-Charta, die durch einen verweisenden Artikel rechtsverbindlich wird (für Großbritannien und Polen gelten Ausnahmeregeln). Das Europäische Parlament wird neben dem Rat gleichberechtigter Mitgesetzgeber und gleichberechtigter Teil der Haushaltsbehörde. Der Kommissionspräsident wird nach dem Reformvertrag durch das Europäische Parlament gewählt und dadurch demokratisch legitimiert.
Schließlich erhöht der Reformvertrag die Transparenz und Verständlichkeit der Union durch die einheitliche Rechtspersönlichkeit der Union, die – gerade von Deutschland seit Langem geforderte – klarere Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten und durch die Vereinfachung der Verfahren. Der Rat wird künftig öffentlich tagen, wenn er über Rechtsetzungsentwürfe berät oder abstimmt. Das Subsidiaritätsprinzip wird politisch durch die direkte Stellungnahmen der nationalen Parlamente im europäischen Gesetzgebungsverfahren und erweiterte Klagemöglichkeiten überwacht.
Die Grundrechte-Charta wird durch einen verweisenden Artikel in den Mitgliedsländern rechtsverbindlich. Ausnahmeregelungen gelten für Großbritannien und Polen.
Die von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Ende Juni auf den Weg gebrachte Vertragsreform, die anschließend von Rechtsfachleuten aus allen 27 Mitgliedstaaten in einen konkreten Vertragstext «übersetzt» worden war, soll nun im Dezember 2007 unterzeichnet und anschließend von den Mitgliedstaaten ratifiziert wird. In Deutschland müssen Bundestag und Bundesrat zustimmen
Quelle: Mitteilung des Auswärtigen Amtes
Text des Reformvertrages
http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Europa/Verfassung/ReformvertragVertrag.pdf