Nach Ansicht von Generalanwalt Yves Bot (Schlussanträge vom 6.3.2012) kann ein Unionsbürger, der seit mehr als zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gelebt hat, ausgewiesen werden, wenn sein gesetzwidriges Verhalten dokumentliert, dass er trotz des langjährigen Aufenthalts nicht wirklich in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats integriert war.
Außerdem kann die Tatsache, dass ein strafbares Verhalten, das eine schwerwiegende Störung der öffentlichen Ordnung darstellt, aufgrund von Drohungen oder der Ausübung von Zwang gegenüber dem Opfer unentdeckt blieb, dazu führen, dass dem Täter die Berufung auf den aus einem längeren Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat resultierenden Schutz vor Ausweisung verwehrt ist
Die Richtlinie über das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (RL 2004/38/EG), enthält die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts und dessen Beschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. So darf der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisungsentscheidung gegenüber einem Unionsbürger, der ein Recht auf Daueraufenthalt (nach einem ununterbrochenen Aufenthalt von mindestens fünf Jahren) erworben hat, nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit treffen. Hat sich der Unionsbürger während der letzten zehn Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten, darf eine Ausweisungsentscheidung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden.
Herr I., ein italienischer Staatsangehöriger, lebt seit 1987 in Deutschland. Am 16. Mai 2006 wurde er zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt, weil er in den Jahren 1990 bis 2001 die minderjährige Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin sexuell missbraucht, sexuell genötigt und vergewaltigt hatte. Herr I. befindet sich seit dem 10. Januar 2006 in Haft, die voraussichtlich am 9. Juli 2013 enden wird.
Die deutschen Behörden stellten mit Bescheid vom 6. Mai 2008 den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt von Herrn I. nach den deutschen Rechtsvorschriften fest und begründeten dies u. a. damit, dass Rückfallgefahr bestehe. Sie gaben ihm auf, das deutsche Hoheitsgebiet zu verlassen, und drohten ihm für den Fall der Weigerung die Ausweisung nach Italien an.
Das im Berufungsverfahren mit der Rechtssache befasste Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen möchte vom Gerichtshof wissen, ob der sexuelle Missbrauch eines Kindes, die sexuelle Nötigung und die Vergewaltigung „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit" darstellen, die die Ausweisung eines Unionsbürgers, der sich seit mehr als zehn Jahren im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats (Deutschland) aufhält, rechtfertigen können.
Generalanwalt Yves Bot weist zunächst auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Rechtssache Tsakouridis (C-145/09) hin, nach der Handlungen, die ein Maß an Intensität erreichen, durch das die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung insgesamt oder eines großen Teils derselben unmittelbar bedroht werden, unter den Begriff „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit" fallen können.
Er führt aus, dass der sexuelle Missbrauch eines Kindes, die sexuelle Nötigung und die Vergewaltigung im familiären Bereich zwar unbestreitbar eine besonders schwere Verletzung eines grundlegenden gesellschaftlichen Wertes darstellen, doch fällt eine solche Handlung seines Erachtens nicht unter den Begriff „öffentliche Sicherheit" im Sinne der Richtlinie.
Die Richtlinie unterscheidet klar zwischen den Begriffen der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit, wobei der letztgenannte Begriff gegenüber dem erstgenannten schwerer wiegt, da es darum geht, den einem Unionsbürger gewährten verstärkten Schutz zu versagen. Diese beiden Begriffe entsprechen nämlich unterschiedlichen kriminologischen Realitäten. Die Verletzung der strafrechtlichen Regeln führt zu einer Störung der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats, während die Bezugnahme auf den Begriff der öffentlichen Sicherheit nicht automatisch aus der bloßen Tatsache folgt, dass eine Zuwiderhandlung begangen wurde, sondern aus einem Verhalten, das sowohl dem Grundsatz nach als auch hinsichtlich seiner Folgen, die über den individuellen Schaden für das oder die Opfer hinausgehen, einen besonders schwerwiegenden Verstoß darstellt. Die beiden Begriffe sind somit nicht identisch: Während jedes Verhalten, das eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit schafft, definitionsgemäß die öffentliche Ordnung stört, gilt dies nicht umgekehrt, auch wenn die begangene Tat in der öffentlichen Meinung Empfindungen auslösen kann, in denen sich die durch den Verstoß verursachte Störung widerspiegelt.
Nach Ansicht des Generalanwalts hängt es nicht nur von der Schwere der begangenen Straftat – für die die verwirkte oder verhängte Strafe einen Anhaltspunkt darstellt –, sondern vor allem von ihrer Art ab, ob ein Straftäter durch sein Verhalten eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt. Während Herr I. zweifellos eine Gefahr im familiären Bereich darstellt, ist durch die Art der begangenen Straftat nicht erwiesen, dass er – wie ein „Seriensexualstraftäter", d. h. ein besonders gefährlicher Krimineller, für den Verhaltensweisen, wie sie in den Rechtssachen Dutroux und Fourniret ans Licht gekommen sind, charakteristisch sind – eine Bedrohung für die Sicherheit der Unionsbürger darstellt. Würde man anders entscheiden, so würde dies darauf hinauslaufen, dass allein die objektive Schwere einer Straftat, die sich nach ihrer Strafe bemisst, eine potenzielle Rechtfertigung einer Ausweisungsmaßnahme aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit darstellt, was mit der Philosophie der Richtlinie nicht zu vereinbaren wäre.
Gleichwohl ist Herr I. im vorliegenden Fall nicht vor einer Ausweisungsmaßnahme geschützt.
Der Generalanwalt führt nämlich weiter aus, dass Herr I. nicht in den Genuss des von der Richtlinie vorgesehenen verstärkten Schutzes vor Ausweisung kommen kann, da er nicht wirklich in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats integriert war. Die „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit" stellen die einzige Ausnahme von dem Schutz vor Ausweisung dar, der den Unionsbürgern zugute kommt, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisungsmaßnahme im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats hatten. Die Richtlinie enthält eine einfache Vermutung der Integration, die im vorliegenden Fall durch die Taten von Herrn I., die zeigen, dass er nicht wirklich integriert war und deshalb nicht in den Genuss dieses verstärkten Schutzes kommen kann, widerlegt wird.
Es ist unbestreitbar, dass Herr I., wenn seine Taten, berücksichtigt man ihren Zeitpunkt, schon von Anfang ihrer Begehung an bekannt gewesen wären, strafrechtlich verfolgt, verurteilt und gegebenenfalls ausgewiesen worden wäre, ohne dass er sich auf den Schutz der Richtlinie hätte berufen können. Die Integration eines Unionsbürgers beruht nämlich auch auf qualitativen Faktoren, und es erscheint dem Generalanwalt evident, dass das Verhalten von Herrn I. vom völligen Fehlen eines Willens zeugt, sich in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats zu integrieren. Er kann sich daher nicht auf den nach einer Aufenthaltsdauer von zehn Jahren gewährten Schutz berufen, denn diese Zeitspanne wurde nur deshalb nicht unterbrochen, weil sein Verhalten unentdeckt blieb.
Nach Ansicht von Herrn Bot kann eine derartige strafbare Situation nicht mit der Scheinbegründung, dass sie lange Zeit angedauert habe, ein Recht entstehen lassen. Im Übrigen sieht die Richtlinie selbst vor, dass die Mitgliedstaaten die Maßnahmen erlassen können, die notwendig sind, um die durch sie verliehenen Rechte im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen. Der Gerichtshof hat die Konsequenzen aus einem solchen Betrug zu ziehen.
Der Generalanwalt kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass
ein Unionsbürger sich nicht auf das Recht auf einen verstärkten Ausweisungsschutz nach der Richtlinie berufen kann, wenn erwiesen ist, dass er dieses Recht aus einem gesetzwidrigen Verhalten herleitet, das eine schwerwiegende Störung der öffentlichen Ordnung des Aufnahmemitgliedstaats darstellt.