Bundessozialgericht schafft unter der Missachtung seiner Vorlagepflicht eine neue Fallgruppe der fiktiven Arbeitnehmereigenschaft bei Erziehungsurlaub

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Das Bundessozialgericht hat am (Az.: B 7/14 AS 91/20 R) entschieden, dass eine Unionbürgerin als Arbeitnehmerin während der Elternzeit freizügigkeitsberechtigt ist.

Der Begriff des Arbeitnehmers im EU-Freizügigkeitsrecht ist als autonomer Begriff des Gemeinschaftsrechts unionsrechtlich zu bestimmen. Ein wesentliches Merkmal besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung jedoch auch Sachverhaltskonstellationen ausgemacht, in denen - bei einem fortbestehenden Arbeitsverhältnis - das Erfordernis der tatsächlichen Tätigkeit für die Erfüllung der Arbeitnehmereigenschaft ausnahmsweise entfallen kann.

Das Bundessozialgericht geht davon aus, dass eine derartige Konstellation bei Erziehenden in Elternzeit/Elternurlaub, deren Arbeitsverhältnis nach nationalem Recht ruht, eröffnet ist. Sie sollen in dieser Zeit Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts bleiben.

Dies entspreche auch der Rechtslage nach der RL 2019/1158/EU vom 20.06.2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige und zur Aufhebung der RL 2010/18/EU des Rates, der Deutschland am 06.02.2019 zugestimmt hat und deren Umsetzung in nationales Recht bis Anfang August 2022 zu erfolgen hat. Denn in dem Erwägungsgrund 39 dieser Richtlinie wird ausdrücklich hervorgehoben, dass das Beschäftigungsverhältnis zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber während des Elternurlaubs aufrechterhalten bleibt, weshalb die bzw. der Begünstigte eines Erziehungsurlaubs für die Zwecke des Unionsrechts während dieser Zeit Arbeitnehmer bleibt.

Auch wenn diese Entscheidung auf den ersten Blick nachvollziehbar scheint, so fehlt es doch an einer gesetzlichen Regelung, aus der eine Gleichstellung des ruhenden Arbeitsverhältnisses während eines Erziehungsurlaubs mit einem aktiven Arbeitsverhältnis abgeleitet werden kann. Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG (Unionbürgerrichtlinie) ist zwar nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht abschließend, sodass auch weitere Fallgruppen der Fortgeltung der Arbeitnehmereigenschaft möglich sind. Das Bundessozialgericht überschreitet seine Auslegungskompetenz, wenn es eine neue Fallgruppe bildet, ohne den Gerichtshof der Europäischen Union mit der Auslegung des Unionsrechts im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens zu befassen.

Das Bundessozialgericht ist nicht zur Auslegung des Unionsrechts berufen, sondern zur Auslegung des nationalen Rechts. Maßstab seiner Entscheidung muss daher der eindeutige Wortlaut des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU bilden. Dieser ist aufgrund seines klaren und eindeutigen Wortlauts einer erweiternden Auslegung durch Unionsrecht nicht zugänglich. Das Bundessozialgericht müsst daher den Weg über die unmittelbare Anwendung des Unionsrechts gehen, um die entgegenstehende nationale Regelung des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU zu überwinden.

Aus dem Wortlaut der Regelung des Art. 7 Abs. 3 der Unionbürgerrichtlinie ergibt sich aber gerade keine weitere Fallgruppe, die eine Einbeziehung von Erziehungsurlaub ermöglichen würde. Das Bundessozialgericht müsste daher behaupten, dass ein acte-clair vorliegt. Danach ist eine Rechtsfrage dem Europäischen Gerichtshof dann nicht im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vorzulegen, wenn über die Auslegung oder Gültigkeit von Unionsrecht vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können. Diese Annahme, dass während eines mehrjährigen Erziehungsurlaubs die Arbeitnehmereigenschaft fort gilt, ist aber angesichts der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen zur Einstufung von Erziehungsurlaub nahezu unvertretbar. Die Entscheidung lässt daher nur den Schluss zu, dass das Bundessozialgericht als „Ersatzgesetzgeber“ seine Grenzen überschritten hat!

Gerade die vom Bundessozialgericht zitierte Entscheidung “Saint Prix“ (EuGH vom 19.06.2014 - C 507/12) hätte Anlass für Zurückhaltung geben müssen.

Mit der Entscheidung des Bundessozialgerichts wird nämlich die Arbeitnehmereigenschaft nicht nur für Wochen oder einige Monate kraft Gesetzes fingiert, sondern für Jahre. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Anforderungen für ein unionsrechtliches Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU. Denn anders als bei der Fallgruppe der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit gibt es bei Erziehungsurlaub kein Korrektiv dahingehend, dass zu erwarten ist, dass der Unionbürger innerhalb eines angemessenen Zeitraums wieder in den Arbeitsmarkt zurückkehren wird. Das Ruhen des Arbeitsverhältnisses steht einer Begrenzung der Fortgeltungsdauer entgegen.

Die erfolgte Grenzüberschreitung wird im Migrationsrecht noch viele Fragen aufwerfen. Letztlich hat die Entscheidung des Bundessozialgerichts zur Folge, dass ein Gericht die fehlende Legitimation der erfolgten Auslegung des Art. 7 Abs. 3 Unionsbürgerrichtlinie durch ein Vorabentscheidungsersuchen nachholen muss.