Stillhalteklauseln zugunsten türkischer Staatsangehöriger werden durch Entscheidung des BVerwG weitgehend bedeutungslos

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Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in den Rechtssachen Demir und Dogan kann eine Beschränkung der Rechte aus den Stillhalteklauseln der Art. 41 des Zusatzprotokolls oder Art. 13 ARB 1/80 durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, wenn diese geeignet sind, die Erreichung des angestrebten legitimen Ziels zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgehen (EuGH, U. v. 07.11.2013 – C-225/12 – Demir, NVwZ-RR 2014, 115, Rn. 40 und U. v. 10.7.2014 – C-138/13 – Dogan, Rn. 37).

In Bezug auf diese „neue" Schranke, die der Gerichtshof der Europäischen Union neben die Schranke der öffentlichen Ordnung aus Art. 14 ARB 1/80 stellt, stellen sich eine Vielzahl von Fragestellungen:

  • Wie ist das Verhältnis der beiden Schranken zueinander?
  • Was sind zwingende Gründe des Allgemeininteresses?
  • Können nationale Gründe ein Allgemeininteresse begründen oder sind nur unionsrechtliche Gründe heranzuziehen?
  • Welchen Einfluss hat das auf Beitritt gerichtete Assoziierungsabkommen auf die Auslegung des Begriffs der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses?

In Anbetracht der erheblichen Auslegungsschwierigkeiten, die die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union aufwirft, ist es erstaunlich, mit welcher Unbefangenheit der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts die neue Schranke mit „Leben" erfüllt. Dass keine Vorlage an den Gerichthof der Europäischen Union erfolgt ist, kann nur bedeuten, dass der Senat die oben genannten Fragen für unproblematisch erachtet oder als europarechtlich geklärt ansieht.

Mit seiner Entscheidung vom 06.11.2014 (BVerwG 1 C 4.14) führt der Senat zu der Schranke der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses Folgendes aus:

„Neben den geschriebenen Rechtfertigungsgründen (Art. 14 ARB 1/80) prüft der Gerichtshof der Europäischen Union auch ungeschriebene Gemeinwohlgründe, die, wie bei den Grundfreiheiten des Unionsrechts, eine Vielzahl von Gemeinwohlbelangen umfassen können (vgl. z.B. Urteil vom 12. Juli 2012 - Rs. C-176/11, HIT und HIT LARIX - ZfWG 2012, 334 - juris Rn. 20 f.), sich aber als zwingend erweisen müssen. Diese Übertragung einer unionsrechtlichen Rechtsfigur auf das Assoziationsrecht beruht darauf, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union diejenigen Grundsätze, die nach Unionsrecht für die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen gelten, „soweit wie möglich" als Leitlinien für die Behandlung türkischer Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, herangezogen werden sollen (...)."

Der Senat sieht ein hochrangiges Gemeinwohlziel in einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme. Dies sei ein unionsrechtlich legitimes Ziel (vgl. Art. 79 Abs. 1 AEUV). Dass diese Auslegung erhebliche Auswirkungen auf bereits geklärte Rechtsfragen haben wird, liegt auf der Hand. Stellt die Steuerung der Migrationsströme ein legitimes Ziel dar, so stellt sich die Frage nach der Visumfreiheit türkischer Fernfahrer oder sonstiger Dienstleistungserbringer neu. Denn in dem vorliegenden Fall geht es um die Zuwanderung türkischer Kindern unter 16 Jahren zu einem Elternteil, das einen ordnungsgemäßen Aufenthalt im Bundesgebiet aufweisen kann. Wirft der unkontrollierte Zustrom weniger Kinder bereits die Frage einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme auf, so gilt dies wohl erst recht, wenn türkische Künstler, Handwerker, Fernfahrer ins Bundesgebiet ohne Visum gelangen wollen.

In Anbetracht der Tragweite der Entscheidung hätte der Senat gut daran getan, zu prüfen, ob Migrationssteuerung ein legitimes Ziel ist, dass man einer Stillhalteklausel in einem auf Beitritt gerichteten Assoziierungsabkommen entgegenhalten kann. Dies erscheint doch sehr zweifelhaft. Denn der auf Beitritt gerichtete völkerrechtliche Vertrag mit der Türkei soll gerade im wirtschaftlichen Bereich die Bewegungsfreiheit der Arbeitnehmer, Selbstständigen und Dienstleistungserbringer regeln und hier gegenüber sonstigen Drittstaatsangehörigen Privilegierungen begründen. Die Regelung des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls hat ersichtlich auch das Ziel, ein Verschlechterungsverbot in Bezug auf Migrationsbewegungen von Dienstleistungserbringern und Selbstständigen zu begründen. Dies hat der Gerichtshof in der Soysal-Entscheidung in Bezug auf türkische Fernfahrer ausdrücklich anerkannt. Denn nicht einmal die Migrationssteuerung durch die VisumVO konnte der Visumfreiheit der Einreise entgegengehalten werden.

Türkische Staatsangehörige sind nicht nur „einfache" Drittstaatsangehörige im Sinne des Art. 79 Abs. 1 AEUV, sondern genießen aufgrund des Beitrittsprozesses erhebliche Privilegien. Dieser besondere Status wird vom 1. Senat vollständig negiert, indem er türkische Staatsangehörige sonstigen Drittstaatsangehörigen gleichgestellt.

Es spricht einiges dafür, dass das Assoziierungsabkommen den Mitgliedstaaten – aber auch der EU – im Bereich der Migrationssteuerung türkischer Arbeitnehmer, Selbstständiger und Dienstleistungserbringer enge Grenzen setzt. Denn das Ziel des Assoziierungsabkommens, eine Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse, ist nur schwer erreichbar, wenn der wirtschaftliche Austausch der EU mit der Türkei durch Behinderung der Wanderungsbewegungen Selbstständiger, Dienstleistungserbringer oder Arbeitnehmer und ihrer Familienangehöriger unterbunden oder erschwert wird. Dass Zuzugsbeschränkungen in Bezug auf den Nachzug von Familienangehörigen erhebliche Auswirkungen auf die im Bundesgebiet wirtschaftlich aktiven türkischen Staatsangehörigen haben, hat der Gerichtshof in der Rechtssache Dogan hinreichend deutlich gemacht.

Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts setzt sich mit der Bedeutung des Assoziierungsabkommens und den sich hieraus ergebenden schwierigen europarechtlichen Auslegungsfragen nicht einmal ansatzweise auseinander und versäumt so die Gelegenheit eines Vorabentscheidungsverfahrens. Dass eine Klärung herbeigeführt werden muss, liegt auf der Hand; ein acte claire liegt auf jeden Fall nicht vor.

Weiterhin ist auch nicht erkennbar, in welchen Fällen die Schranke der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses zur Anwendung gelangen soll. Weder der Gerichtshof noch das Bundesverwaltungsgericht haben die Schranke und ihren Anwendungsbereich näher konkretisiert. Allein der Hinweis, dass neben den geschriebenen Rechtfertigungsgründen (Art. 14 ARB 1/80) auch ungeschriebene Gemeinwohlgründe, die, wie bei den Grundfreiheiten des Unionsrechts, eine Vielzahl von Gemeinwohlbelangen umfassen können, zur Anwendung gelangen, macht die dogmatische Struktur der neuen Schranke nicht klarer. Was heißt „neben" den geschriebenen Rechtfertigungsgründen zur Anwendung kommen? Gründe der öffentlichen Ordnung sind sicherlich nicht ohne weiteres geeignet, um als Allgemeininteresse neben Art. 14 ARB 1/80 als Beschränkungsmöglichkeit zur Anwendung zu gelangen. Es besteht sonst die Möglichkeit, dass die ausdrückliche Schranke der öffentlichen Ordnung nach Art. 14 ARB 1/80 unterlaufen wird. Ein Ausgleich der Schranken nach den Grundsätzen praktischer Konkordanz erscheint denkbar - europarechtlich geklärt ist diese Frage indes nicht. Die Frage nach der Schrankensystematik stellt sich auch hier, wenn man unterstellt, dass die Steuerung der Migration auch dem Bereich der öffentlichen Sicherheit zuzurechnen ist.

Die unionsrechtlichen Fragen müssen einer Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union zugeführt werden, da andernfalls zu befürchten ist, dass sämtliche Rechtspositionen, die sich aus der Stillhalteklausel im Zusammenhang mit dem nationalen Recht ergeben, inhaltlich ausgehöhlt werden. Diese Gelegenheit hat das Bundesverwaltungsgericht verpasst, sodass nur andere Gerichte gehalten sind, die unionsrechtlichen Zweifelsfragen dem Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren vorzulegen.

Mainz, 2.1.2015
Dr. Dienelt