Der Familiennachzug zu Drittstaatsangehörigen darf auch im EU-Recht von einer Prognose der zukünftigen Lebensunterhaltssicherung abhängig gemacht werden

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Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 21. April 2016 in der Rechtssache C‑558/14 (Mimoun Khachab) im Rahmen eines spanischen Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV die Anforderungen an die Lebensunterhaltsdeckung beim Familiennachzug aufgrund der Familienzusammenführungsrichtlinie weiter konkretisiert.

Der Gerichtshof prüft, ob Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass er der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats eine Prognoseentscheidung erlaubt, ob die Voraussetzung fester, regelmäßiger und ausreichender Einkünfte des Zusammenführenden über den Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung hinaus fortbestehen wird. Diese Vorschrift sieht zwar eine solche Befugnis nicht ausdrücklich vor. Aber aus ihrem Wortlaut und namentlich der Verwendung der Begriffe „fest“ und „regelmäßig“ folgt, dass diese Einkünfte eine gewisse Beständigkeit und Dauer aufweisen müssen. Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. c Satz 2 der Richtlinie 2003/86 beurteilen die Mitgliedstaaten diese Einkünfte u. a. anhand ihrer „Regelmäßigkeit“, was eine periodische Prüfung ihrer Entwicklung einschließt. Infolgedessen kann der Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 nicht dahin ausgelegt werden, dass er der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, die mit einem Antrag auf Familienzusammenführung befasst ist, die Möglichkeit versagt, in ihre Prüfung, ob die Voraussetzung bestimmter Einkünfte des Zusammenführenden erfüllt ist, auch eine Beurteilung der Frage einzubeziehen, ob diese Einkünfte über den Zeitpunkt der Antragstellung hinaus vorhanden sein werden.

Weiterhin prüft der Gerichtshof, ob die Genehmigung der Familienzusammenführung von der Wahrscheinlichkeit abhängig gemacht werden darf, dass die Einkünfte während des Jahres nach dem Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung weiterhin vorhanden sein werden, und hierfür die Einkünfte des Zusammenführenden in den sechs Monaten vor diesem Zeitpunkt herangezogen werden dürfen.

Hierzu führt der Gerichtshof aus:

„45 Insoweit ist festzustellen, dass der Zeitraum von einem Jahr, während dessen der Zusammenführende wahrscheinlich über ausreichende Einkünfte verfügen muss, angemessen erscheint und nicht über das hinausgeht, was erforderlich, um im Einzelfall das potenzielle Risiko zu bewerten, dass der Zusammenführende nach der Familienzusammenführung die Sozialhilfe dieses Staates in Anspruch nehmen muss. Dieser Zeitraum von einem Jahr entspricht nämlich der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels, über den der Zusammenführende nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 zumindest verfügen muss, um die Familienzusammenführung beantragen zu können. Zudem haben die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie die Befugnis, den Aufenthaltstitel des Familienangehörigen des Zusammenführenden zu entziehen, wenn der Zusammenführende für die Dauer des Aufenthalts dieses Familienmitglieds nicht mehr über feste, regelmäßige und ausreichende Einkünfte verfügt, solange das betreffende Familienmitglied keinen eigenen Aufenthaltstitel erhält, was gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 spätestens nach fünfjährigem Aufenthalt der Fall ist.

46 Was die Anwendung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses auf nationaler Ebene betrifft, muss außerdem berücksichtigt werden, dass die zuständige nationale Behörde nach dem Wortlaut von Art. 54 Abs. 2 Satz 1 des Real Decreto 557/2011 einen Aufenthaltstitel zwecks Familienzusammenführung nur verweigern darf, wenn „zweifelsfrei“ festgestellt wird, dass der Zusammenführende nicht in der Lage sein wird, die ausreichenden Einkünfte während des ersten Jahres nach dem Tag der Antragstellung weiterhin zu erzielen. Diese Bestimmung verlangt von dem Zusammenführenden also für den Erhalt eines solchen Aufenthaltstitels lediglich, dass seine Einkünfte voraussichtlich fortbestehen werden.

47 Was den Umstand anbelangt, dass der der Antragstellung vorangegangene Zeitraum, auf den die einkommensbezogene Prognose gestützt werden darf, auf sechs Monate festgelegt worden ist, so enthält die Richtlinie insoweit keinerlei nähere Regelung. Jedenfalls ist ein solcher Zeitraum nicht geeignet, das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu beeinträchtigen.“

Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis:

„Nach alledem ist Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen, dass er es den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats erlaubt, die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung auf eine Prognose darüber zu stützen, ob es wahrscheinlich ist, dass die festen, regelmäßigen und ausreichenden Einkünfte, über die der Zusammenführende verfügen muss, um ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen zu decken, während des Jahres nach dem Zeitpunkt der Einreichung des Antrags weiterhin vorhanden sein werden, und dabei dieser Prognose die Entwicklung der Einkünfte des Zusammenführenden während der sechs Monate vor der Antragstellung zugrunde zu legen.“