Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige neu erfunden?

Anzeige Werbung Kanzleien Anzeige

Der EuGH hat mit der Entscheidung vom 8. Dezember 2011 in der Rechtssache Ziebell  (icon EuGH Ziebell) eine Entscheidung zum besonderen Ausweisungsschutz türkischer Staatsangehöriger getroffen. Mit dieser Entscheidung wurde der Ausweisungsschutz auf gänzlich neue rechtliche Grundlagen gestellt.

Mit seiner Entscheidung hat der Gerichtshof zunächst – nicht unerwartet – klargestellt, dass der besondere Ausweisungsschutz für Unionsbürger nach Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG nicht auf türkische Staatsangehörige übertragbar ist. Damit hat er die Besonderheit der Unionsbürgerrichtlinie hervorgehoben und von der wirtschaftlichen Zielsetzung des Assoziierungsabkommens abgegrenzt.

„74      Wegen der erheblichen Unterschiede, die nicht nur im Wortlaut, sondern auch hinsichtlich des Gegenstands und des Zwecks zwischen den Bestimmungen über die Assoziation EWG–Türkei und dem die Unionsbürgerschaft betreffenden Unionsrecht bestehen, können die beiden fraglichen rechtlichen Regelungen daher nicht als gleichwertig angesehen werden, so dass die Regelung des Ausweisungsschutzes, die für Unionsbürger nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 gilt, nicht entsprechend angewandt werden kann, um die Bedeutung und die Tragweite von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 zu bestimmen."

Völlig unverhofft hat der Gerichtshof den besonderen Ausweisungsschutz von der Richtlinie 64/221/EWG auf die Daueraufenthaltsrichtlinie verschoben. Diese Kehrtwendung ist deshalb so überraschend, weil sie nicht nur völlig unnötig war, sondern auch neue Unsicherheiten mit sich bringen wird. Da die Richtlinie 64/221/EWG, die bislang die Grundlage für den Ausweisungsschutz für Türken bildete, keine direkte Anwendung fand, sondern nur als rechtlicher Maßstab herangezogen worden war, hatte auch die Aufhebung der Richtlinie keine direkte Konsequenz auf diese rechtliche Konstruktion. Warum der Gerichtshof die rechtliche Grundlage austauschte und zudem mit der „Unerlässlichkeit" der Maßnahme eine neue Kategorie in das Ausweisungsrecht einführte, ist kaum nachvollziehbar.

Der Gerichtshof führt hier aus:

„75      Vor diesem Hintergrund erfordert eine sachdienliche Antwort an das vorlegende Gericht weiter, dass ihm bestimmte Auslegungshinweise bezüglich der konkreten Tragweite von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 im Rahmen eines Rechtsstreits wie des bei ihm anhängigen an die Hand gegeben werden.

76      Wie bereits in den Randnrn. 52, 58 und 59 des vorliegenden Urteils festgestellt, hat der Gerichtshof zur Bestimmung der Bedeutung und der Tragweite dieser Vorschrift des Beschlusses Nr. 1/80 traditionell auf die in der Richtlinie 64/221 festgeschriebenen Grundsätze abgestellt.

77      Diese Richtlinie wurde jedoch durch die Richtlinie 2004/38 aufgehoben, nach deren Art. 38 Abs. 3 Bezugnahmen auf die aufgehobenen Richtlinien als Bezugnahmen auf die Richtlinie 2004/38 gelten.

78      In einem Fall wie demjenigen des Ausgangsverfahrens, in dem die maßgebliche Vorschrift der Richtlinie 2004/38 nicht entsprechend anwendbar ist (siehe Randnr. 74 des vorliegenden Urteils), ist aber für die Anwendung von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ein anderer unionsrechtlicher Bezugsrahmen zu bestimmen.

79      Für einen Ausländer wie Herrn Ziebell, der sich seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, wird dieser Bezugsrahmen mangels günstigerer Vorschriften im Assoziationsrecht EWG–Türkei durch Art. 12 der Richtlinie 2003/109 gebildet, der eine Vorschrift zum Mindestschutz vor Ausweisungen von Drittstaatsangehörigen darstellt, die in einem Mitgliedstaat die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzen.

80      Nach dieser Vorschrift kann ein langfristig Aufenthaltsberechtigter nur ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt. Außerdem darf die Ausweisungsverfügung nicht auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhen. Schließlich haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen."

Für die wichtige Frage, ob das Vier-Augen-Prinzip weiterhin auf türkische Staatsangehörige, die Rechte aus dem ARB 1/80 ableiten können, gibt die Entscheidung nur ansatzweise etwas her. Offensichtlich geht der EuGH davon aus, dass die Richtlinie 64/221/EWG auch auf türkische Staatsangehörige nicht mehr angewendet werden kann. Denn dies ist wohl der Grund für die Suche nach einer neuen rechtlichen Basis für den Ausweisungsschutz außerhalb der Unionsbürgerrichtlinie. Da die Verfahrensregelungen der RL 64/221/EWG, die im nationalen Recht in Verbindung mit der Rechtsanwendungspraxis verankert waren, über die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 auch für die Zukunft perpetuiert werden, sind sie wohl weiterhin zu berücksichtigen. Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen gewesen, wenn der EuGH türkische Staatsangehörige den Verfahrensregelungen der Unionsbürgerrichtlinie unterworfen hätte. Denn diese sehen das Vier-Augen-Prinzip nicht mehr vor; hier hätte man von einer Gleichwertigkeit des Verfahrensschutzes ausgehen können.

Die Entscheidung bringt unerwartet noch eine Klärung des Umfangs des besonderen Ausweisungsschutzes für langfristig Aufenthaltsberechtigte nach § 9a AufenthG. Nach Art. 12 Abs. 1 RL 2003/109/EG können die Mitgliedstaaten nur dann gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine Ausweisung verfügen, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt. Die Ausweisung darf nach Art. 12 Abs. 2 RL 2003/109/EG nicht auf wirtschaftlichen Überlegung beruhen und die Mitgliedstaaten werden nach Art. 12 III RL 2003/109/EG verpflichtet, vor der Ausweisung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten Folgendes zu berücksichtigen:

  • Dauer des Aufenthalt in dem Hoheitsgebiet,
  • Alter der betreffenden Person,
  • Folgen für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen und
  • Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat.

Mit diesen Vorgaben, die weitgehend dem Vorschlag der Kommission vom 13.3.2001 (Art 13 des Entwurfs, siehe KOM (2001) 127 endgültig, S. 41icon Vorschlag der Kommission_com_(2001)_127endg) entspricht, setzt die Richtlinie die in der 16. Begründungserwägung enthaltene Zielsetzung um. Danach sollten langfristig Aufenthaltsberechtigte verstärkten Ausweisungsschutz genießen. Dieser Schutz soll sich an den Kriterien des Ausweisungsschutzes für Unionsbürger und den Kriterien, die der EGMR in seiner Rechtsprechung entwickelt hat, orientieren. Diese Regelung über den Ausweisungsschutz sollte nach der Begründung der Kommission dazu dienen, langfristig Aufenthaltsberechtigte gegen Ausweisungsverfügungen zu schützen. Der Richtlinienvorschlag orientiere sich in diesem Punkt an den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft über die Freizügigkeit der Unionsbürger.

Durch die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Ziebell ist nun auch klargestellt, dass der Ausweisungsschutz für langfristige Aufenthaltsberechtigte dem einfachen Ausweisungsschutz für EU-Bürger entspricht. Diese Frage war bislang nicht eindeutig zu beantworten, da sich aus dem Materialien der Daueraufenthaltsrichtlinie ergibt, dass der Ausweisungsschutz für Daueraufenthaltsberechtigte etwas niedriger angelegt sein sollte.

Denn das EU-Parlament führte zur Änderung der 11. Begründungserwägung (icon Bericht des Europa Parlaments), die den Ausweisungsschutz konkretisiert, Folgendes aus: „Den Mitgliedstaaten sollte im Sinne einer aktiven Verbrechensbekämpfungspolitik die Möglichkeit der Aufenthaltsbeendigung eingeräumt bleiben, insbesondere nach der Verhängung von langjährigen Freiheitsstrafen wegen der Verletzung bzw. Gefährdung von Leib, Leben und Freiheit anderer sowie zur Generalprävention von Straftaten im Betäubungsmittelbereich und im Bereich der organisierten Kriminalität. Ein „maximaler“ Schutz analog der Regelungen für EU-Angehörige scheint nicht geboten.“

Mit der nun vorliegenden Entscheidung hat der EuGH möglichen Einschränkungen des Ausweisungsschutzes für Drittstaatsangehörige eine Absage erteilt; der Ausweisungsschutz für langfristig Aufenthaltsberechtigte im Aufenthaltsgesetz muss – worauf ich im Rahmen der Vorbemerkung zum Ausweisungsschutz in der Kommentierung des Renner bereits hingewiesen hatte – dringend den unionsrechtlichen Vorgaben angepasst werden.