Nach einer Entscheidung des EuGH vom 21.12.2011 in den verbundenen Rechtssachen C-424/10 (Ziolkowski) und C-425/10 (Szeja) sind Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen vor dem Beitritt des betreffenden Drittstaats zur Union bei der Berechnung der Mindestaufenthaltsdauer von fünf Jahren zu berücksichtigen, soweit sie im Einklang mit den Voraussetzungen nach dem Unionsrecht zurückgelegt wurden. Der Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt wird aber nur durch einen Aufenthalt ermöglicht, der die Voraussetzungen nach dem Unionsrecht erfüllt.
Herr Ziolkowski und Frau Szeja, beide polnische Staatsangehörige, reisten vor dem Beitritt Polens zur Union – in den Jahren 1988 bzw. 1989 – nach Deutschland ein und erhielten eine regelmäßig verlängerte Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach deutschem Recht. Im Jahr 2005, nach dem Beitritt Polens zur Union, beantragten sie die Erteilung eines Rechts auf Daueraufenthalt gemäß der Richtlinie über die Freizügigkeit der Personen1, die ihnen mit der Begründung versagt wurde, dass sie keine Arbeit hätten und auch nicht nachweisen könnten, dass sie über ausreichende Existenzmittel verfügten. Sie fochten diese Versagung durch die deutschen Behörden vor den zuständigen nationalen Gerichten an.
Das deutsche Bundesverwaltungsgericht, bei dem die Rechtsstreitigkeiten anhängig sind, möchte vom Gerichtshof wissen, ob im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats nur aufgrund des nationalen Rechts zurückgelegte Aufenthaltszeiten als rechtmäßige Aufenthaltszeiten im Sinne des Unionsrechts angesehen werden können. Der Gerichtshof wird ferner gefragt, ob Aufenthaltszeiten von Drittstaatsangehörigen vor dem Beitritt des betreffenden Drittstaats zur Union bei der Berechnung der Aufenthaltsdauer von fünf Jahren für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt zu berücksichtigen sind.
Der Gerichtshof legt erstens den Begriff des „rechtmäßigen Aufenthalts" in der Richtlinie aus. Er stellt fest, dass diese keine Erläuterung darüber enthält, wie die Wendung „sich rechtmäßig" im Aufnahmemitgliedstaat „aufgehalten hat" zu verstehen ist. Die Richtlinie verweist auch nicht auf die nationalen Rechtsvorschriften. Diese Wendung ist daher als autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen, der in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen ist.
Der Gerichtshof verweist insoweit darauf, dass Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Recht der Union nicht definiert, insbesondere unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der Ziele der Regelung, zu der sie gehören, zu bestimmen sind.
Er erinnert daran, dass die Richtlinie, vorbehaltlich der im Unionsrecht vorgesehenen Beschränkungen, insbesondere die Ausübung des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts der europäischen Bürger begünstigen soll. Hierfür legt die Richtlinie fest, unter welchen Bedingungen sich die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei bewegen und aufhalten können und welche Voraussetzungen sie erfüllen müssen, um ein Recht auf Daueraufenthalt zu erwerben. Außerdem sollen mit ihr die bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze dieses Aufenthaltsrechts überwunden werden.
Was ihren Gesamtzusammenhang angeht, führt die Richtlinie ein System mit drei Ebenen ein, wobei jede Ebene mit der Dauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zusammenhängt und die letzte, mit der Richtlinie erstmals eingeführte, dem Recht auf Daueraufenthalt entspricht. Dieses System übernimmt im Wesentlichen die Stufen und Bedingungen, die in den vor dem Erlass der Richtlinie bestehenden Instrumenten des Unionsrechts und der zuvor ergangenen Rechtsprechung vorgesehen waren. So sieht die Richtlinie zunächst vor, dass ein Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufenthaltsmitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten hat, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen braucht. Sodann ist der Erwerb eines Aufenthaltsrechts von mehr als drei Monaten Dauer von der Einhaltung bestimmter Voraussetzungen abhängig. Der Unionsbürger kann dieses Recht nur in Anspruch nehmen, wenn er u. a. Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie keine Sozialhilfeleistungen dieses Staates in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz in diesem Staat verfügen2. Schließlich führt die Richtlinie für Unionsbürger, die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben, das Recht ein, sich dort auf Dauer aufzuhalten3.
In Bezug auf den besonderen Kontext der Richtlinie unterwerfen mehrere Richtlinienbestimmungen den vor dem Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt liegenden Aufenthalt Bedingungen gemäß den Anforderungen der Richtlinie.
In Anbetracht dieser Ziele sowie des Gesamtzusammenhangs und des besonderen Kontextes der Richtlinie vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass der Begriff des „rechtmäßigen Aufenthalts", der den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt ermöglicht, als ein Aufenthalt zu verstehen ist, der mit den in dieser Richtlinie aufgeführten Voraussetzungen (d. h., dass der Unionsbürger Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen Krankenversicherungsschutz verfügt) im Einklang steht. Daher kann ein Aufenthalt, der mit dem Recht eines Mitgliedstaats im Einklang steht, aber nicht diese Voraussetzungen erfüllt, nicht als ein „rechtmäßiger" Aufenthalt im Sinne der Richtlinie über das Recht auf Daueraufenthalt angesehen werden.
Der Gerichtshof gelangt daher zu dem Ergebnis, dass Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 so auszulegen ist, dass ein Unionsbürger, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eine Aufenthaltszeit von über fünf Jahren nur aufgrund des nationalen Rechts dieses Staates zurückgelegt hat, nicht so betrachtet werden kann, als habe er das Recht auf Daueraufenthalt erworben, wenn er während dieses Aufenthalts die in der Richtlinie aufgeführten Voraussetzungen nicht erfüllt hat.
Der Gerichtshof prüft zweitens die Frage, ob Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat vor dem Beitritt des betreffenden Drittstaats zur Union bei der Berechnung für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt zu berücksichtigen sind.
Er betont, dass die Akte über den Beitritt eines neuen Mitgliedstaats im Wesentlichen auf dem allgemeinen Grundsatz der sofortigen und vollständigen Anwendung der Bestimmungen des Unionsrechts auf diesen Staat beruht, es sei denn, in Übergangsbestimmungen sind Abweichungen ausdrücklich vorgesehen.
Was ganz konkret die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft angeht, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass diese seit ihrem Inkrafttreten anwendbar und auf die gegenwärtigen Wirkungen von zuvor entstandenen Sachverhalten anzuwenden sind.
Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass es in der Beitrittsakte keine Übergangsbestimmung hinsichtlich der Geltung der Bestimmungen über Freizügigkeit für Polen gibt, abgesehen von einigen Vorschriften betreffend die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und den freien Dienstleistungsverkehr.
Daher können Unionsbürger sich auf die Bestimmungen über das Recht auf Daueraufenthalt berufen und können diese auf die gegenwärtigen und künftigen Wirkungen von Sachverhalten angewandt werden, die vor dem Beitritt Polens zur Union entstanden sind.
Der Gerichtshof gelangt zu dem Ergebnis, dass für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat vor dem Beitritt des betreffenden Drittstaats zur Union in Ermangelung spezifischer Bestimmungen in der Beitrittsakte zu berücksichtigen sind, soweit sie im Einklang mit den Vorschriften der Richtlinie zurückgelegt wurden.
Quelle: Pressemitteilung des EuGH