EuGH: Deutschlands Visumspraxis zum Teil europarechtswidrig
LUXEMBURG ? Am 19. Januar 2006 hat der EuGH entschieden, dass Deutschland gegen europäisches Gemeinschaftsrecht verstoßen hat, indem es sich nicht darauf beschränkt, die Entsendung von Arbeitnehmern, die Angehörige von Drittstaaten sind und in ihrem Hoheitsgebiet Dienstleistungen erbringen sollen, von der vorherigen Abgabe einer einfachen Erklärung durch das in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Unternehmen, das die Entsendung dieser Arbeitnehmer plant, abhängig zu machen, und indem sie verlangt, dass diese Arbeitnehmer seit mindestens einem Jahr bei diesem Unternehmen beschäftigt sind.
Zunächst nimmt es der Praxis der deutschen Behörden im Bereich der Entsendung von Arbeitnehmern aus Drittstaaten nicht ihren den Dienstleistungsverkehr beschränkenden Charakter, dass sie nur einen beschränkten Personenkreis betrifft, dass das Verfahren der Erteilung eines ?Vander-Elst-Visums? höchstens sieben Tage dauert und dass der zuständigen Behörde hinsichtlich der Erteilung dieses Visums kein Ermessen eingeräumt ist.
Der Gerichtshof hat nämlich zur Entsendung von Arbeitnehmern, die Angehörige eines Drittstaats sind, durch ein in der Gemeinschaft ansässiges Dienstleistungsunternehmen bereits entschieden, dass eine nationale Regelung, die die Erbringung von Dienstleistungen durch ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenes Unternehmen im Inland von der Erteilung einer behördlichen Erlaubnis abhängig macht, eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit im Sinne von Artikel 49 EG darstellt.
Keine Rechtfertigung durch Verhinderung der Umgehung
Als Rechtfertigung werden von der deutschen Regierung Gründe angeführt, die sich auf die Verhinderung von Umgehungen des freien Dienstleistungsverkehrs, auf den Schutz der Arbeitnehmer und auf die Rechtssicherheit beziehen.
Erstens beruft sich die deutsche Regierung auf die Notwendigkeit, zu überprüfen, ob ein Dienstleistungserbringer, der in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland ansässig sei, die Dienstleistungsfreiheit nicht zu einem anderen Zweck als dem nutze, zu dem sie eingeführt worden sei, etwa dazu, sein Personal kommen zu lassen, um es auf dem nationalen Arbeitsmarkt zu vermitteln. Dabei geht sie davon aus, dass die Kontrollen insoweit gerechtfertigt seien, als mit ihnen die Umsetzung eines gemeinschaftsrechtlichen Erfordernisses bezweckt werde, nämlich zu prüfen, ob die betreffenden Arbeitnehmer vor ihrer Entsendung nach Deutschland im Sinne des Urteils Vander Elst ?ordnungsgemäß und dauerhaft? in dem Mitgliedstaat beschäftigt gewesen seien, in dem der Leistungserbringer ansässig sei.
Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass ein Mitgliedstaat kontrollieren darf, ob ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen, das Arbeitnehmer, die Angehörige eines Drittstaats sind, in ihn entsendet, den freien Dienstleistungsverkehr nicht zu einem anderen Zweck als dem der Erbringung der betreffenden Leistung nutzt.
Wie jedoch der Generalanwalt in Nummer 27 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, böte eine Verpflichtung des Dienstleistungsunternehmens, eine einfache vorherige Erklärung dahin gehend abzugeben, dass der Aufenthalt, die Arbeitserlaubnis und die soziale Absicherung der betreffenden Arbeitnehmer in dem Mitgliedstaat, in dem sie von diesem Unternehmen beschäftigt werden, ordnungsgemäß sind, den nationalen Behörden auf weniger einschneidende Art und Weise als die Kontrolle vor der Entsendung, aber genauso wirksam die Garantie, dass diese Arbeitnehmer legal beschäftigt werden und ihre Haupttätigkeit in dem Mitgliedstaat ausüben, in dem das Dienstleistungsunternehmen ansässig ist. Eine solche Verpflichtung würde es den nationalen Behörden ermöglichen, diese Angaben nachträglich zu überprüfen und die im Fall einer rechtswidrigen Beschäftigung dieser Arbeitnehmer gebotenen Maßnahmen zu ergreifen. Zur Erfüllung dieser Verpflichtung könnte auch die einfache Übersendung der erforderlichen Schriftstücke verlangt werden, insbesondere wenn die Dauer der Entsendung keine wirksame Vornahme einer solchen Kontrolle zulässt.
Mithin geht die der Entsendung vorausgehende Kontrolle, die sich aus der Praxis der deutschen Behörden ergibt, über das hinaus, was zur Verhinderung der Missbräuche erforderlich ist, zu denen es bei der Durchführung des freien Dienstleistungsverkehrs kommen kann.
Zum Schutz der Arbeitnehmer nicht erforderlich
Zweitens macht die deutsche Regierung zur Rechtfertigung der Praxis einer der Entsendung vorausgehenden Kontrolle Gründe des Schutzes der Arbeitnehmer geltend.
In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof zwar entschieden, dass zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen können, auch der Schutz der Arbeitnehmer gehört, doch verwehrt das Gemeinschaftsrecht den Mitgliedstaaten weder, ihre Rechtsvorschriften oder die von den Sozialpartnern geschlossenen Tarifverträge auf alle Personen zu erstrecken, die in ihrem Staatsgebiet, und sei es auch nur vorübergehend, eine unselbstständige Tätigkeit ausüben ? unabhängig davon, in welchem Land der Arbeitgeber ansässig ist ?, noch verbietet es ihnen, die Einhaltung dieser Regeln mit den geeigneten Mitteln durchzusetzen, wenn sich herausstellt, dass der durch sie gewährte Schutz nicht durch entsprechende oder im Wesentlichen vergleichbare Verpflichtungen gewährleistet wird, denen das Unternehmen bereits im Mitgliedstaat seiner Niederlassung unterliegt.
Würde jedoch ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiges Dienstleistungsunternehmen parallel zu der Verpflichtung nach Randnummer 41 des vorliegenden Urteils verpflichtet, den örtlichen Behörden im Voraus die Anwesenheit eines oder mehrerer entsandter Arbeitnehmer, die vorgesehene Dauer dieser Anwesenheit und die die Entsendung rechtfertigende(n) Dienstleistung(en) anzuzeigen, so wäre dies ein angemesseneres, weil weniger einschneidendes, aber genauso wirksames Mittel als die der fraglichen Entsendung vorausgehende Kontrolle. Dadurch würde es den örtlichen Behörden ermöglicht, die Einhaltung der deutschen Vorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit während der Dauer der Entsendung zu kontrollieren und dabei die Verpflichtungen zu berücksichtigen, denen das Unternehmen bereits nach den im Herkunftsmitgliedstaat geltenden Vorschriften auf diesem Gebiet unterliegt.
Es ist somit festzustellen, dass die der Entsendung vorausgehende Kontrolle über das zur Verfolgung des Zieles des Schutzes der Arbeitnehmer Erforderliche hinausgeht.
Drittens macht die deutsche Regierung geltend, dass eine der Entsendung vorausgehende Kontrolle den in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistungsunternehmen die Garantie gebe, dass die Entsendung rechtmäßig erfolge, und ihnen die Gewissheit verschaffe, dass sie für die gesamte Dauer der Dienstleistung über ihr gesamtes Personal verfügen könnten.
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Mitgliedstaaten den freien Dienstleistungsverkehr beeinträchtigende Kontrollmaßnahmen mit zwingenden Gründen des Allgemeininteresses rechtfertigen können, sofern dieses Interesse nicht bereits durch Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist.
Daher lässt sich die vorherige Kontrollmaßnahme, wie sie sich aus der Praxis der deutschen Behörden bei der Entsendung von Arbeitnehmern, die Drittstaatsangehörige sind, ergibt, nicht mit der Notwendigkeit rechtfertigen, Gewissheit darüber zu erlangen, dass diese Entsendung rechtmäßig erfolgt, und stellt daher im Hinblick auf die von der Bundesrepublik Deutschland verfolgten Ziele ein unverhältnismäßiges Mittel dar.
Das Erfordernis einer mindestens einjährigen Vorbeschäftigungszeit bei dem entsendenden Unternehmen
Die deutsche Regierung trägt vor, dieses Erfordernis stelle ein geeignetes und effizientes Mittel dar, um die Wirksamkeit der nationalen und der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des Schutzes der Arbeitnehmer zu überwachen, um die Rechte der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Kontrolle des Zugangs zum inländischen Arbeitsmarkt zu wahren und um Fällen von Sozialdumping vorzubeugen.
Dazu ist festzustellen, dass entgegen der Auffassung der deutschen Regierung der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass Rechtsvorschriften, die die Voraussetzung einer Vorbeschäftigungszeit von nur sechs Monaten aufstellen, über das hinausgehen, was im Namen des Zieles der sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer, die Angehörige eines Drittstaats sind, verlangt werden kann.
Des Weiteren ist hinsichtlich der Wahrung der Rechte der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Zugangs zu ihrem Arbeitsmarkt daran zu erinnern, dass die entsandten Arbeitnehmer keinen Zutritt zum Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats verlangen.
Außerdem ist bereits entschieden worden, dass eine solche Voraussetzung im Hinblick auf das Ziel, sicherzustellen, dass die Arbeitnehmer nach der Entsendung in den Herkunftsmitgliedstaat zurückkehren, unverhältnismäßig ist.
Was schließlich den Rechtfertigungsgrund der Verhinderung von Sozialdumping betrifft, so hat der Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten ihre Rechtsvorschriften oder die Tarifverträge über Mindestlöhne auf alle Personen erstrecken können, die, sei es auch nur vorübergehend, in ihrem Hoheitsgebiet beschäftigt werden (Urteil Arblade, Randnr. 41). Diese Befugnis wird auch in Artikel 3 der Richtlinie 96/71 anerkannt.
Insoweit würde die in den Randnummern 41 und 45 des vorliegenden Urteils genannte vorherige Erklärung, ergänzt durch die maßgeblichen Angaben zum Arbeitsentgelt und zu den Beschäftigungsbedingungen, eine den freien Dienstleistungsverkehr weniger beschränkende Maßnahme darstellen, zugleich aber den örtlichen Behörden ermöglichen, sich zu vergewissern, dass die entsandten Arbeitnehmer keiner weniger günstigen Regelung als der im Entsendemitgliedstaat geltenden unterliegen.
Folglich ist das Erfordernis einer mindestens einjährigen Vorbeschäftigungszeit bei dem entsendenden Unternehmen als im Hinblick auf die Erreichung der von der Bundesrepublik Deutschland angeführten Ziele unverhältnismäßig anzusehen.
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