Anmerkungen zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache Dogan von Prof. em. Dr. Kees Groenendijk

Anzeige Werbung Kanzleien Anzeige

Die nachfolgende Anmerkung von Prof. em. Dr. Kees Groenendijk zur Dogan-Entscheidung (C-138/13) des Europäischen Gerichtshofs, zeigt deutlich die europarechtlichen Grenzen auf, die bei der Einführung von Sprachvoraussetzungen beim Familiennachzug zu türkischen Staatsangehörigen zu beachten sind.

Anmerkung:

Das Urteil befasst sich mit der Familienzusammenführung einer vierzigjährigen türkischen Frau zu ihrem türkischen Ehemann, der seit 1998 in Deutschland wohnhaft ist, dort über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügt und einen eigenen Betrieb hat. Die Frau fügte ihrem Visumantrag Anfang 2011 ein Sprachenzertifikat Deutsch des Goethe-Instituts bei. Ihr Antrag wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass sie Analphabetin sei und die Antworten für den Test auswendig gelernt habe. Sie verfüge deshalb nicht über die erforderlichen Sprachkenntnisse. Das Verwaltungsgericht Berlin, welches über die Klage gegen die Ablehnung der Erteilung des Visums entscheiden musste, hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist diese Ablehnung mit der Stillhalteklausel in Art. 41 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG-Türkei sowie mit dem Art. 7 (2) der Familienzusammenführungsrichtlinie zu vereinbaren? Der Gerichtshof verneint die erste Frage und lässt daraufhin die zweite Frage offen.

2. Die Urteilsbegründung des oben genannten Urteils ist klar: Die Stillhalteklausel des Artikels 41 des Zusatzprotokolls wendet sich gegen die Einführung einer nationalen Bestimmung, die von den Familienangehörigen des in einem Mitgliedstaat wohnhaften türkischen Bürgers verlangt, für die Zulassung den Beweis liefern zu müssen, dass sie über einfache Sprachkenntnisse in der jeweiligen Landessprache des betreffenden Mitgliedstaates verfügen. In den Niederlanden sind türkische Staatsangehörige im Jahr 2011 nach einem Urteil des höchsten niederländischen Sozialgerichts (Centrale Raad van Beroep, CRvB) vom Integrationstest im Ausland freigestellt worden. Das Gericht CRvB war zu dem Urteil gelangt, dass die Integrationspflicht in den Niederlanden auf der Grundlage des niederländischen Integrationsgesetzes (Wet Inburgering) gegen die Stillhalteklauseln sowie gegen das Diskriminierungsverbot im Assoziierungsabkommen EWG-Türkei verstoße (CRvB vom 16. August 2011, JV 2011/416; ECLI:NL:CRVB:2011:BR4959). In Folge der Verbindung der Integrationsverpflichtung im Ausland gemäß Artikel 16 Abs. 1 Buchstabe h des niederländischen Ausländergesetzes (Vreemdelingenwet, Vw) mit der Verpflichtung laut niederländischem Integrationsgesetz (Wet Inburgering, WI) konnte die erstgenannte Bestimmung nicht mehr auf türkische Staatsangehörige angewendet werden, siehe Dokumente der Zweiten Kammer (Tweede Kamer) 31143, Nr. 89. Dennoch ist das Urteil Dogan an drei Punkten auch für die niederländische Rechtspraxis relevant. Der Gerichtshof definiert, wer als türkischer Selbständiger unter den Schutz des Artikels 41 des Zusatzprotokolls fällt. Darüber hinaus erläutert der Gerichtshof klar, dass das Recht auf Familienzusammenführung im EU-Recht vor allem ein Recht ist, das der Hauptperson zusteht, die sich bereits im Mitgliedstaat aufhält. Außerdem bringt diese Rechtssache etwas mehr Klarheit hinsichtlich einer möglichen Antwort des Gerichtshofs auf die zweite, zur Zeit noch unbeantwortete Frage nach der Vereinbarkeit des niederländischen Integrationstests im Ausland mit der Familienzusammenführungsrichtlinie mit sich. Vor kurzem hat auch die Abteilung Verwaltungsrecht des niederländischen Staatsrats (Raad van State) diese Frage dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt, siehe Publikation der Abteilung Verwaltungsrecht des niederländischen Staatsrats (Afdeling Bestuursrechtspraak Raad van State, ABRvS) vom 1. April 2014, ECLI:NL:RVS:2014:1196.

3. Der Gerichtshof formuliert im Art. 41 des Zusatzprotokolls zum ersten Mal eine Definition des Begriffs Niederlassung, indem er den personenbezogenen Geltungsbereich dieser Bestimmung umschreibt. In diesem Zusammenhang verweist der Gerichtshof auf seine Rechtsprechung hinsichtlich der Niederlassungsfreiheit von Unionsbürgern, im Besonderen wird auf das Urteil Asscher aus dem Jahre 1996 verwiesen. Der Artikel 41 gilt für türkische Staatsbürger, die drei Bedingungen erfüllen:

  1. Sie halten sich im jeweiligen Mitgliedstaat auf.
  2. Sie gehen einer Tätigkeit als Selbständige nach oder üben die Funktion des Geschäftsführers einer Gesellschaft aus, deren Mehrheitsgesellschafter sie sind.
  3. Sie verfügen über Einkünfte aus selbständiger Erwerbstätigkeit.

Für die Zulassung türkischer Selbständiger darf ein Mitgliedstaat keine anderen materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen verlangen als die, welche bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls für die Zulassung von Selbständigen im jeweiligen Mitgliedstaat galten (vergleiche Rdnr. 27). Dies gilt natürlich ebenso für die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für den fortgesetzten Aufenthalt des jeweiligen Selbständigen. Für die damaligen Mitgliedstaaten der EWG ist der Stichtag der 1. Januar 1973. Was eine aktuelle Zusammenfassung der Rechtsprechung über den Artikel 41 des Zusatzprotokolls angeht, wird auf M. van Riel, Zulassung türkischer Selbständiger und Dienstleister, A&MR (Asyl- und Migrantenrecht) 2014, S. 293-298 verwiesen. Die analoge Anwendung der Kriterien, welche für Unionsbürger gelten, ist insofern wichtig, da die Urteile Ziebell (ECLI:EU:C:2011:809) und Demirkan (ECLI:EU:C:2013:583) Zweifel erweckt hatten, ob der Gerichtshof seine analoge Auslegung der Regeln hinsichtlich des Assoziierungsabkommens EWG-Türkei fortsetzen würde. In Demirkan entschied der Gerichtshof, dass die freie Dienstleistung unter Art. 41 des Zusatzprotokolls, abweichend von der bei Unionsbürgern, jedenfalls hinsichtlich der Voraussetzungen für die Einreise nur die aktive Dienstleistung und nicht das passive in Empfang nehmen von Dienstleistung umfasse. Das oben genannte Urteil Dogan, der Verweis in diesem Urteil auf das Urteil Dülger (ECLI:EU:C:2012:504) und das Urteil Demir (ECLI:EU:C:2014:725) verdeutlichen, dass der Gerichtshof den Ausgangspunkt der analogen Auslegung des Assoziierungsabkommens beibehält. In den Urteilen Ziebell und Demirkan hat der Gerichtshof die Grenzen dieser analogen Auslegung aufgezeigt.

4. Frau Dogan wollte selbst keine Tätigkeit als Selbständige oder Dienstleisterin aufnehmen, sondern in erster Linie bei ihrem Mann wohnen und mit ihm ein Familienleben führen. Der Gerichtshof kommt zu dem Urteil, dass sie ein Recht auf Familienzusammenführung hat, welches sich aus dem Status ableitet, den ihr in Deutschland arbeitender Mann erlangt hat. Die Einführung einer neuen Regelung, welche die Bedingungen für die erste Zulassung von Ehegatten eines in einem Mitgliedstaat wohnhaften türkischen Staatsbürgers verschärfen, muss als eine "neue Beschränkung" aufgefasst werden und verstößt somit gegen die Stillhalteklausel des Art. 41 des Zusatzprotokolls (Rdnr. 36). Der Gerichtshof führt dafür zwei Argumente an. Zunächst verweist der Gerichtshof ebenso wie im Urteil Dülger darauf, dass "Familienzusammenführung ein unerlässliches Mittel zur Ermöglichung des Familienlebens türkischer Erwerbstätiger ist, die dem Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten angehören, und sowohl zur Verbesserung der Qualität ihres Aufenthalts als auch zu ihrer Integration in diesen Staaten beiträgt" (Rdnr. 34). Hier betont der Gerichtshof erneut die Bedeutung der Familienzusammenführung für die Integration der Hauptperson im jeweiligen Mitgliedstaat. Das zweite Argument lautet, dass eine nationale Regelung eines Mitgliedstaates, welche die Familienzusammenführung erschwert oder unmöglich macht, die Entscheidung eines türkischen Staatsbürgers, sich in einem Mitgliedstaat niederzulassen, um dort dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, negativ auswirken kann (Rdnr. 35). Die Notwendigkeit, "zwischen seiner Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat und seinem Familienleben in der Türkei zu entscheiden", kann die Niederlassungsfreiheit beeinträchtigen. Diese Argumentation verdeutlicht, dass das Recht auf Familienzusammenführung im EU-Recht viel weiter geht als der Schutz des Artikels 8 EMRK. Diese vertragliche Bestimmung gewährt schließlich selten oder nie einen Anspruch auf Erstzulassung für die Familienzusammenführung in einem bestimmten Staat, wenn die Familienangehörigen auch irgendwo anders auf der Welt zusammenleben können. Implizit folgt der Gerichtshof im obenstehenden Urteil derselben Argumentation, die auch in den Urteilen Singh (ECLI:EU:C:1992:296), Carpenter (ECLI:EU:C:2002:434) und Eind (ECLI:EU:C:2007:771) hinsichtlich des Aufenthaltsrechts von Familienangehörigen aus Drittstaaten von migrierenden Unionsbürger zum Tragen kam: Nichtzulassung der Familienangehörigen könnte ein Hindernis für die Freizügigkeit von Arbeitnehmern bzw. für die Niederlassungsfreiheit bedeuten. In der Rechtsprechung und im Artikel 7 der Richtlinie 2004/38 bezieht sich das Recht auf Familienzusammenführung in erster Linie auf den eingewanderten Unionsbürger. Familienzusammenführung als Recht des eingewanderten EWG-Arbeitnehmers, ohne Berücksichtigung der Staatsangehörigkeit seiner Familienangehörigen, datiert bereits aus der ersten EWG-Verordnung Nr. 15 aus dem Jahre 1961. Auch in der Richtlinie 2003/86 ist das Recht auf Familienzusammenführung ein Recht der bereits im Mitgliedstaat anwesenden Hauptperson und nicht nur ein Recht der Familienangehörigen, die nachziehen möchten. Der "Familienzusammenführende" kann den Antrag einreichen und er muss auch die Zulassungsvoraussetzungen erfüllen, siehe die Artikel 5 und 7 der Richtlinie 2003/86.

5. Oben genanntes Urteil bezieht sich auf den Artikel 41 des Zusatzprotokolls. Die Argumentation des Gerichtshofs gilt jedoch auch für die Familienzusammenführung zu türkischen Arbeitnehmern auf der Grundlage der Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschlusses 1/80. Es ist eine feste Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass beide Stillhalteklauseln gleichbedeutend sind, auch wenn sie für verschiedene Personenkreise greifen, siehe H. Oosterom-Staples und A. Woltjer, Zijn beleid en regelgeving standstill-proof? (Entsprechen Politik und Gesetzgebung den Stillhalteklauseln?) A&MR (Asyl- und Migrantenrecht) 2014, S. 274-285. Im Urteil Toprak & Oguz hat der Gerichtshof die Ausführungen der niederländischen Regierung verworfen, dass Artikel 13 des Beschlusses 1/80 sich nicht auf das Recht ausländischer Ehegatten im Bereich der Familienzusammenführung beziehe (ECLI:EU:C:2010:756, Rdnr. 46). Der Art. 13 schützt türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, "deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind". Aus oben genanntem Urteil folgt, dass ein sich rechtmäßig aufhaltender türkischer Arbeitnehmer, der seine Familienangehörigen nachholen möchte, sich auf Art. 13 berufen kann, auch wenn die Familienangehörigen noch in der Türkei leben und daher noch keinen rechtmäßigen Aufenthaltsort in einem Mitgliedstaat haben. Die Stillhalteklausel schützt in einer solchen Situation den Arbeitnehmer und damit lediglich indirekt auch seine Familienangehörigen. In der niederländischen Rechtsprechung wurde zu diesem Punkt bisher sehr unterschiedlich geurteilt. Hinsichtlich der Zulassung von Familienangehörigen eines türkischen Selbständigen nahm die Kammer für Ausländerrecht des Gerichts in Amsterdam (Vreemdelingenkamer, VK Amsterdam) bereits zu einem früheren Zeitpunkt denselben Standpunkt ein wie der Gerichtshof im oben genannten Urteil (Vreemdelingenkamer, VK Amsterdam, 16. Juli 2013, Rechtsprechung zum Ausländerrecht, JV 2013/393). Hinsichtlich der Zulassung von Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers wurde kurz vor dem obenstehenden Urteil noch entschieden, dass sich der Familienangehörige in der Türkei nicht auf den Art. 13 berufen könne, da die betreffende Person noch keinen ordnungsgemäßen Aufenthaltsort in den Niederlanden habe (Vreemdelingenkamer, VK Utrecht, 11. Mai 2014, ve14001134; ECLI: NL:RBDHA:2014:8442). Diese Argumentation kann nach dem obenstehenden Urteil nicht länger aufrechterhalten werden.

6. Dieses Urteil illustriert die Entwicklung, welche die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes hinsichtlich des Assoziierungsabkommens EWG-Türkei in den letzten vier Jahrzehnten durchlaufen hat. Im Urteil Demirel aus dem Jahre 1987, dem ersten Urteil in Bezug auf dieses Assoziierungsabkommen, hat der Gerichtshof in Erwägung gezogen, dass der Beschluss 1/80 neue beschränkende Maßnahmen für den Zugang zum Arbeitsmarkt für türkische Arbeitnehmer verbietet, die bereits auf ordnungsgemäße Weise in den Arbeitsmarkt des jeweiligen Mitgliedstaates integriert sind. Der Gerichtshof fügte dem hinzu: "Hinsichtlich der Familienzusammenführung wurde jedoch kein solcher Entschluss gefasst." (Urteil vom 30. September 1987, RV 1987, 84; ECLI:EU:C:1987:400, Punkt 22). Die eigene Rechtsprechung in den letzten Jahren bezüglich der Bedeutung der Stillhalteklauseln im Assoziierungsabkommen und die Rechtsprechung über das Recht auf Familienzusammenführung für migrierende Unionsbürger haben den Gerichtshof zu dieser impliziten Abweichung von seinem Standpunkt im alten Urteil Demirel gebracht. Das Urteil Demirel wurde seinerzeit auf Fragen des Verwaltungsgerichts Stuttgart hinsichtlich der Verlängerung der Wartefrist von drei auf acht Jahre für die Familienzusammenführung von Personen gefällt, die selbst im Rahmen einer Familienzusammenführung nach Deutschland gekommen waren. Laut obenstehendem Urteil verstößt eine solche nationale Maßnahme unverkennbar gegen die Stillhalteklauseln. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde diese deutsche Maßnahme rückgängig gemacht. Heutzutage würde eine so lange Wartefrist auch gegen Art. 8 der Richtlinie 2003/86 verstoßen.

7. Am Ende dieses Urteils weist der Gerichtshof, ebenso wie im erst kürzlich ergangenen Urteil Demir, darauf hin, dass ein Mitgliedstaat eine Ausnahme hinsichtlich der Stillhalteklausel machen kann, wenn diese durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Aus Rdnr. 38 geht hervor, dass der Gerichtshof strenge Anforderungen an die Begründung einer solchen nationalen Maßnahme stellt. Auf die strengen Anforderungen habe ich bereits in meinen Ausführungen zum Urteil Demir (Rechtsprechung zum Ausländerrecht, JV 2014/3) hingewiesen. Dort habe ich dargelegt, dass eine solche Ausnahme bis jetzt im Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern keine Rolle gespielt hat. Im Urteil Bosman wurden die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses zwar als mögliche Begründung für das Diskriminierungsverbot auf der Grundlage der Staatsangehörigkeit genannt hinsichtlich der Transferregelung für Profi-Fußballspieler (EuGH, 15. Dezember 1995, Jurispr. 1995 I-04921, ECLI:EU:C:1995:463, Punkt 104), jedoch nicht in Bezug auf das Aufenthaltsrecht dieser Fußballspieler.

8. Der Gerichtshof ließ die Frage nach der Vereinbarkeit des deutschen Sprachtests im Ausland mit Art. 7 (2) der Richtlinie 2003/86 offen, nachdem der Gerichtshof bereits früher in der Rechtsache Imran ähnliche Fragen unentschieden ließ, die die Kammer für Ausländerrecht des Gerichts Zwolle (Vreemdelingenkamer, VK Zwolle) dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung über den Art. 7 (2) vorgelegt hatte, siehe der Beschluss des EuGH vom 10. Juni 2011, Jurispr. I-5095, ECLI:EU:C:2011:387. Nach den oben genannten jüngsten Vorlagefragen der Abteilung Verwaltungsrecht des niederländischen Staatsrats wird der Gerichtshof nur schwerlich um eine Antwort herumkommen. Rdnr. 38 des oben genannten Urteils verdeutlicht jedoch, dass – wenn der Gerichtshof die Forderung eines mit Erfolg absolvierten Sprach- bzw. Einbürgerungstests als Bedingung für die Familienzusammenführung als im Einklang mit der Richtlinie erachten würde – auf jeden Fall die automatische Ablehnung auf Grund des nicht erfolgreich Absolvierens des Sprachtests, ohne dabei die besonderen Umstände eines jeden konkreten Falles zu berücksichtigen, nicht zulässig wäre. Im Urteil Noorzia, welches eine Woche später gefällt wurde wie das Urteil Dogan, führt der Gerichtshof bei der Interpretation des Erfordernisses eines Mindestalters laut Art. 4 (5) der Richtlinie 2003/86 an, dass die jeweilige nationale Maßnahme, wonach der Zusammenführende und der Ehegatte bereits zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung das 21. Lebensjahr vollendet haben müssen, "die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung nicht verhindert oder unverhältnismäßig erschwert", EuGH, 17. Juli 2014, C-338/13 Noorzia, Rdnr. 16. Möglicherweise wendet der Gerichtshof das letztgenannte Kriterium auch bei Art. 7 (2) der Richtlinie an. Der Generalanwalt Mengozzi zog in der Rechtssache Dogan die Schlussfolgerung, dass die Forderung des Spracherfordernisses lediglich mit Art. 7 (2) vereinbar ist, wenn eine Einzelfallprüfung stattfindet, welche die Interessen der betroffenen minderjährigen Kinder und die in Art. 17 der Richtlinie genannten Umstände berücksichtigt und des Weiteren berücksichtigt wird, wenn unter anderem einerseits "im Wohnstaat des betroffenen Ehegatten zur Erzielung des erforderlichen Sprachniveaus keinerlei unterstützendes Material oder Unterricht gleich welcher Form bereitgestellt wird oder wenn das Material nicht verfügbar oder, insbesondere wegen des Preises, unzugänglich ist", und andererseits "eventuelle Schwierigkeiten – selbst vorübergehender Art – berücksichtigt werden, die mit dem Gesundheitszustand des betroffenen Familienangehörigen oder mit seinen individuellen Voraussetzungen, wie etwa Alter, Analphabetismus, Behinderung und Bildungsgrad zusammenhängen". Die Europäische Kommission hat einige Wochen zuvor eine ähnliche Aufzählung relevanter Faktoren in ihren Leitlinien für die Anwendung der Familienzusammenführungsrichtlinie gegeben, COM(2014) vom 3. April 2014, ve14000619, Par. 4.5; siehe auch R. van Oers, Kroniek inburgering 2012-2013 (Chronik der Einbürgerung), A&MR 2014 (Asyl- und Migrationsrecht 2014), S. 236-245. Ich kann nicht erkennen, wie die heutigen niederländischen Regelungen und die Durchführungspraxis, in der viele dieser Faktoren ausdrücklich als nicht relevant gelten (siehe INDwerkinstructie 2013/9 (Arbeitsanweisung der niederländischen Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde IND), Par. 3.2, ve13001511), mit diesen Anforderungen in Einklang gebracht werden können.

Prof. em. Dr. Kees Groenendijk, Radboud Universiteit Nijmegen

Anm.: Der Text wurde vom Niederländischen ins Deutsche übersetzt, die Übersetzung wurde von Kees Groenendijk durchgesehen und auf inhaltliche Richtigkeit hin überprüft.

15.09.2014