Ein Asylbewerber darf nicht an einen Mitgliedstaat überstellt werden, in dem er Gefahr läuft, unmenschlich behandelt zu werden

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Der EuGH hat in den Rechtssachen C-411/10 (N. S. / Secretary of State for the Home Department) und C-493/10 (M. E. u. a. / Refugee Applications Commissioner und Minister for Justice, Equality and Law Reform) entschieden, dass ein Asylbewerber nicht an einen Mitgliedstaat überstellt werden darf, in dem er Gefahr läuft, unmenschlich behandelt zu werden. Das Unionsrecht lässt keine unwiderlegbare Vermutung zu, dass die Mitgliedstaaten die Grundrechte der Asylbewerber beachten.

Die gemeinsame Asylpolitik ist ein wesentlicher Bestandteil des Ziels der Europäischen Union, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offen steht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Union um Schutz nachsuchen. Die Dublin-II-Verordnung1 nennt die Kriterien zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Entscheidung über einen in der Union gestellten Asylantrag zuständig ist – dabei gibt es grundsätzlich nur einen zuständigen Mitgliedstaat. Hat ein Drittstaatsangehöriger Asyl in einem Mitgliedstaat beantragt, der nicht der nach der Verordnung als zuständig bestimmte Staat ist, kommt nach der Verordnung ein Verfahren zur Überstellung des Asylbewerbers an den zuständigen Mitgliedstaat zur Anwendung.
In der Rechtssache C-411/10 geht es um N. S., einen afghanischen Staatsangehörigen, der in das Vereinigte Königreich kam, wobei ihn sein Weg u. a. über Griechenland führte, wo er im Jahr 2008 in Haft genommen wurde. Nach vier Tagen entließen ihn die griechischen Behörden mit der Aufforderung, das griechische Staatsgebiet innerhalb von 30 Tagen zu verlassen, aus der Haft. N. S. stellte keinen Asylantrag. Nach seinen Angaben wurde er bei dem Versuch, Griechenland zu verlassen, von der Polizei verhaftet und in die Türkei abgeschoben, wo er zwei Monate lang unter schrecklichen Bedingungen inhaftiert gewesen sei. Er sei aus der Haft in der Türkei entkommen und in das Vereinigte Königreich gereist; dort kam er im Januar 2009 an und stellte einen Asylantrag. Im Juli 2009 wurde ihm angekündigt, dass er im August jenes Jahres gemäß der Dublin-II-Verordnung an Griechenland überstellt werde. Daraufhin legte er einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung ein, mit dem er sich auf die Gefahr berief, dass im Fall seiner Rückführung nach Griechenland seine Grundrechte verletzt würden. In der Tat weist das nationale Gericht darauf hin, dass in Griechenland die Asylverfahren schwere Mängel aufwiesen und die Asylgewährungsquote äußerst niedrig, der Rechtsweg unzureichend und schwer zugänglich und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber unzureichend seien.

Die Rechtssache C-493/10 betrifft fünf Personen aus Afghanistan, dem Iran und Algerien, die in keiner Beziehung zueinander stehen. Sie reisten durch das griechische Staatsgebiet, wo sie wegen illegaler Einreise festgenommen wurden, ohne dabei Asyl zu beantragen. Danach begaben sie sich nach Irland, wo sie Asyl beantragten. Sie widersetzen sich ihrer Rückkehr nach Griechenland und haben geltend gemacht, dass die Verfahren und Bedingungen für Asylbewerber in diesem Land unangemessen seien.

In diesem Zusammenhang möchten sowohl der Court of Appeal of England and Wales (Vereinigtes Königreich) als auch der High Court (Irland) vom Gerichtshof wissen, ob – angesichts der Überlastung des griechischen Asylsystems und der daraus resultierenden Folgen für die Behandlung von Asylbewerbern und die Prüfung ihrer Anträge – die Behörden eines

Mitgliedstaats, die die Überstellung von Asylbewerbern an Griechenland (als Staat, der nach der Dublin-II-Verordnung für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist) durchführen müssen, zu der vorherigen Überprüfung verpflichtet sind, ob dieser Staat die Grundrechte tatsächlich beachtet. Sie möchten auch wissen, ob die genannten Behörden für den Fall, dass dieser Staat die Grundrechte nicht beachtet, selbst in die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags eintreten müssen.

An den Verfahren beim Gerichtshof über diese Rechtssachen haben sich 13 Mitgliedstaaten, die Schweizerische Eidgenossenschaft, das UN-Flüchtlingskommissariat und Amnesty International and the AIRE Centre beteiligt. Zwischen den Beteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, ist unstreitig, dass im Jahr 2010 fast 90 % der illegalen Einwanderer über Griechenland in die Union gelangten, so dass die auf diesem Staat liegende Last außer Verhältnis zu der Belastung der anderen Mitgliedstaaten steht und es den griechischen Behörden tatsächlich unmöglich ist, diesen Zustrom zu bewältigen.

In seinem Urteil vom heutigen Tag weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem in einem Kontext entworfen wurde, der die Annahme zulässt, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, und dass die Mitgliedstaaten insoweit ein gegenseitiges Vertrauen ineinander haben dürfen. Gerade aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens hat der Unionsgesetzgeber die Dublin-II-Verordnung erlassen, deren Hauptzweck darin besteht, die Bearbeitung der Asylanträge im Interesse sowohl der Antragsteller als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen.

Gestützt auf dieses Prinzip prüft der Gerichtshof, ob die nationalen Behörden, die die Überstellung an den nach der Verordnung als für den Asylantrag zuständig bestimmten Mitgliedstaat durchführen müssen, zu der vorherigen Überprüfung verpflichtet sind, ob die Grundrechte der Betroffenen in diesem Staat beachtet werden.
Er stellt fest, dass nicht schon der geringste Verstoß gegen die asylrechtlichen Normen ausreicht, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln, da sonst die Verpflichtungen der Staaten im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem ausgehöhlt würden und das Ziel, den zuständigen Mitgliedstaat rasch zu bestimmen, gefährdet wäre.

Allerdings steht das Unionsrecht einer unwiderlegbaren Vermutung entgegen, wonach der gemäß der Dublin–II–Verordnung als zuständig bestimmte Mitgliedstaat die Unionsgrundrechte beachtet.

Es obliegt nämlich den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, wenn ihnen nicht verborgen geblieben sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber ernstlich und erwiesenermaßen Grund zu der Annahme geben, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten über einige geeignete Instrumente verfügen, um die Beachtung der Grundrechte und damit die tatsächlichen Risiken für einen Asylbewerber im Fall seiner Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat zu beurteilen.

Der Gerichtshof führt weiter aus, dass der Mitgliedstaat, der den Asylbewerber an den nach der Verordnung zuständigen Staat überstellen muss, dies aber nicht kann, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag selbst zu prüfen, die weiteren Kriterien der Verordnung zu prüfen hat, um festzustellen, ob anhand eines der nachrangigen Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.

Quelle: Presseerklärung des EuGH