Der EuGH hat mit Urteil vom 5. September 2012 klargestellt, dass bestimmte Formen schwerer Eingriffe in die Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit eine Verfolgung wegen der Religion darstellen können. Ist diese Verfolgung hinreichend schwerwiegend, muss die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden.
Nach der Richtlinie über die Flüchtlingseigenschaft (Qualifikationsrichtlinie - RL 2004/83/EG) müssen die Mitgliedstaaten Angehörigen von Staaten, die nicht Mitglieder der Union sind, grundsätzlich diese Eigenschaft zuerkennen, wenn diese befürchten, wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in ihrem Herkunftsland verfolgt zu werden. Eine Handlung gilt als Verfolgung, wenn sie aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt.
Die muslimische Ahmadiyya-Gemeinschaft ist eine islamische Erneuerungsbewegung. In Pakistan sieht das Strafgesetzbuch vor, dass Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft werden, wenn sie den Anspruch erheben, Muslime zu sein, ihren Glauben als Islam bezeichnen, ihn predigen oder propagieren oder andere auffordern, sich ihrer Glaubensgemeinschaft anzuschließen. Wer den Namen des Propheten Mohammed verunglimpft, kann nach dem Strafgesetzbuch mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden.
Y und Z, die aus Pakistan stammen, leben derzeit in Deutschland, wo sie Asyl und Schutz als Flüchtlinge beantragten. Sie gehören der Ahmadiyya-Gemeinschaft an und geben an, dass sie wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft gezwungen gewesen seien, Pakistan zu verlassen. Im Einzelnen trug Y vor, er sei in seinem Heimatdorf von einer Gruppe von Leuten mehrmals auf dem Gebetsplatz geschlagen und mit Steinen beworfen worden. Sie hätten ihn mit dem Tode bedroht und bei der Polizei wegen Beleidigung des Propheten Mohammed angezeigt. Z führte aus, er sei wegen seiner religiösen Überzeugung misshandelt und inhaftiert worden.
Die deutschen Behörden lehnten die Asylanträge von Y und Z ab, da die Beschränkungen der öffentlichen Betätigung des Glaubens für Ahmadis in Pakistan ihrer Auffassung nach keine asylrechtlich relevante Verfolgung darstellen.
Das mit den Rechtsstreitigkeiten befasste Bundesverwaltungsgericht ersucht den Gerichtshof um Klarstellung, welche Beschränkungen der Glaubensbetätigung eine Verfolgung darstellen, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigt.
In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass nur bestimmte Formen schwerer Eingriffe in das Recht auf Religionsfreiheit und nicht jeder Eingriff in dieses Recht eine Verfolgungshandlung ist, die die zuständigen Behörden verpflichten würde, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. So können zum einen gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Ausübung dieses Rechts nicht als Verfolgung angesehen werden, solange sie dessen Wesensgehalt beachten. Zum anderen stellt selbst eine Verletzung dieses Rechts nur dann eine Verfolgung dar, wenn sie hinreichend schwerwiegend ist und den Betroffenen erheblich beeinträchtigt.
Sodann führt der Gerichtshof aus, dass zu den Handlungen, die eine schwerwiegende Verletzung darstellen können, nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Betroffenen gehören, seinen Glauben im privaten Kreis zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Ob eine Verletzung des Rechts auf Glaubensfreiheit als Verfolgung anzusehen ist, richtet sich deshalb nicht danach, ob der Glaube öffentlich oder privat, gemeinsam oder allein bekundet und gelebt wird, sondern danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können.
In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung handeln kann, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u. a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen Akteur, von dem eine Verfolgung ausgehen kann, verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Kann die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, dazu führen, dass solche Nachteile eintreten, kann die Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit hinreichend schwerwiegend sein.
Der Gerichtshof stellt außerdem fest, dass bei der Prüfung, ob tatsächlich die Gefahr besteht, dass diese Nachteile eintreten, die zuständige Behörde eine Reihe objektiver wie auch subjektiver Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben wird. Hierzu führt er aus, dass der subjektive Umstand, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit, die Gegenstand der beanstandeten Einschränkungen ist, zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, ein relevanter Gesichtspunkt ist bei der Beurteilung der Größe der Gefahr, der der Antragsteller in seinem Herkunftsland wegen seiner Religion ausgesetzt wäre. Das gilt selbst dann, wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis keinen zentralen Bestandteil für die betreffende Glaubensgemeinschaft darstellt.
Der Schutz gegen die Verfolgung wegen der Religion umfasst nämlich sowohl Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die die Person für sich selbst als unverzichtbar empfindet, d. h. diejenigen Verhaltensweisen, „die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen", als auch solche Verhaltensweisen, die von der Glaubenslehre angeordnet werden, d. h. diejenigen, die „nach dieser [Überzeugung] vorgeschrieben sind".
Schließlich hebt der Gerichtshof hervor, dass dem Betroffenen, sobald feststeht, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden müsste. Hierzu führt er aus, dass bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling die nationalen Behörden dem Antragsteller nicht zumuten können, auf bestimmte Glaubensbekundungen oder -betätigungen zu verzichten, um eine Gefahr der Verfolgung zu vermeiden.
Quelle: Presseerklärung des EuGH