EuGH: Sprachanforderungen beim Familiennachzug sind ohne umfassende Einzelfallprüfung mit Unionsrecht unvereinbar

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Der EuGH hat mit Urteil in der Rechtssache C-153/14 vom 9. Juli 2015 entschieden, dass Die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung nicht unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden darf. Die Entscheidung lässt keinen Zweifel aufkommen, dass die gegenwärtige Rechtslage, die beim Ehegattennachzug einfache deutsche Sprachkenntnisse verlangt, mit der Familienzusammenführungsrichtlinie unvereinbar ist. Die nationale Regelung darf daher aufgrund des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts nicht zur Anwendung kommen. Eine richtlinienkonforme Auslegung scheidet aus, da der Wort des § 30 AufenthG nicht auslegungsfähig ist. Der Gerichthof zeigt mit seiner Entscheidung zugleich auf, dass auch eine an Voraussetzungen gebundene Härtefallregelung nicht ausreicht, um die europarechtlich erforderliche individuelle Einzelfallentscheidung zu gewährleisten.

In einer EU-Richtlinie sind die Bedingungen festgelegt für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten . In den Niederlanden setzt nach den dort geltenden Rechtsvorschriften das Recht auf Familienzusammenführung das Bestehen einer Integrationsprüfung voraus. Diese Prüfung umfasst den Bereich Gesprochenes Niederländisch, den Bereich Kenntnisse der niederländischen Gesellschaft und den Bereich Lese- und Schreibkundigkeit sowie Leseverstehen. Die Prüfung wird in einer Botschaft oder einem Generalkonsulat im Land der Herkunft oder des ständigen Aufenthalts des Familienangehörigen des Zusammenführenden abgelegt und wird über ein Telefon abgenommen, das direkt mit einem sprechenden Computer verbunden ist. Ausnahmen sind vorgesehen für Antragsteller, die aufgrund einer geistigen oder körperlichen Behinderung dauerhaft nicht in der Lage sind, die Prüfung abzulegen, oder in Fällen, in denen die Ablehnung zu einer schwerwiegenden Unbilligkeit führen könnte.
K, eine aserbaidschanische Staatsangehörige, und A, eine nigerianische Staatsangehörige, machten Gesundheitsprobleme bzw. psychische Probleme geltend, derentwegen sie die Integrationsprüfung nicht ablegen könnten. Ihre Anträge auf vorläufige Aufenthaltserlaubnis wurden jedoch von den niederländischen Behörden abgelehnt.

Der Raad van State (Staatsrat, Niederlande), bei dem die Rechtsstreitigkeiten über diese Ablehnung anhängig sind, hat dem Gerichtshof Fragen über die Vereinbarkeit der Integrationsprüfung mit der Richtlinie vorgelegt.

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass die Mitgliedstaaten bei Familienzusammenführungen, die nicht Flüchtlinge und Familienangehörige von Flüchtlingen betreffen, durch die Richtlinie nicht daran gehindert sind, die Erteilung einer Einreiseerlaubnis davon abhängig zu machen, dass vorher bestimmten Integrationsmaßnahmen nachgekommen wird. Jedoch sind, da die Richtlinie nur „Integrationsmaßnahmen“ erfasst, solche Maßnahmen nur dann legitim, wenn sie die Integration der Familienangehörigen des Zusammenführenden erleichtern. Der Gerichtshof hebt in diesem Zusammenhang die Bedeutung hervor, die dem Erwerb von Kenntnissen sowohl der Sprache als auch der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats insbesondere für eine Erleichterung der Verständigung, der Interaktion und der Entwicklung sozialer Beziehungen sowie des Zugangs zu Arbeitsmarkt und Berufsausbildung zukommt. Zudem sieht der Gerichtshof im Hinblick darauf, dass Grundkenntnisse verlangt werden, in diesem Erfordernis für sich allein betrachtet keine Beeinträchtigung des mit der Richtlinie verfolgten Ziels der Familienzusammenführung.

Allerdings darf mit den Integrationsmaßnahmen nicht der Zweck verfolgt werden, die Personen zu ermitteln, die das Recht auf Familienzusammenführung ausüben können, sondern sie haben dem Zweck zu dienen, die Integration dieser Personen in den Mitgliedstaaten zu erleichtern. Das Kriterium der Verhältnismäßigkeit verlange, dass die Anwendungsvoraussetzungen für ein solches Erfordernis nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung des genannten Ziels erforderlich ist. Dies wäre u. a. der Fall, wenn durch die Anwendung des genannten Erfordernisses der Nachzug von Familienangehörigen des Zusammenführenden automatisch ausgeschlossen wäre, und zwar auch dann, wenn diese Familienangehörigen zwar die Integrationsprüfung nicht bestanden, aber ihre Bereitschaft zur erfolgreichen Ablegung der Prüfung und ihre dafür unternommenen Anstrengungen nachgewiesen hätten.

Weiterhin stellt der Gerichtshof klar, dass auch die niederländische Härteklausel es nicht ermöglicht, Familienangehörige unter Berücksichtigung der besonderen individuellen Umstände ihrer jeweiligen Situation von dem Spracherfordernis zu befreien. Denn die Härtefallregelung kommt nur beim Vorliegen besonderer individueller Umstände zur Anwendung. Damit ist erkennbar, dass nur eine allgemeine Härtefallklausel, die keine einengenden Voraussetzungen enthält, mit EU-Recht vereinbar wäre. Diese Anforderungen erfüllt die deutsche Härtefallregelung, die in das Gesetz aufgenommen werden soll, nicht!

Es muss sichergestellt werden, dann die besonderen individuellen Umstände, wie Alter, Bildungsniveau, finanzielle Lage oder Gesundheitszustand zu berücksichtigen sind, um die Familienangehörigen von dem Erfordernis der erfolgreichen Ablegung einer Basis-Integrationsprüfung zu befreien, falls sie aufgrund dieser Umstände nicht in der Lage sind, diese Prüfung abzulegen oder zu bestehen. Andernfalls könnte dieses Erfordernis bei Vorliegen solcher Umstände ein kaum überwindbares Hindernis für die effektive Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung darstellen.

Der Gerichtshof stellt anhand der Angaben in der Vorlageentscheidung fest, dass die niederländischen Rechtsvorschriften es nicht ermöglichen, Familienangehörige des Zusammenführenden von dem Erfordernis, die Integrationsprüfung erfolgreich abzulegen, in allen Fällen zu befreien, in denen dieses Erfordernis die Familienzusammenführung unmöglich macht oder übermäßig erschwert. Ferner weist der Gerichtshof darauf hin, dass sich die einmalig anfallenden Kosten des Pakets zur Vorbereitung auf die Prüfung auf 110 Euro und das Prüfungsgeld auf 350 Euro belaufen. Diese Beträge könnten nach Auffassung des Gerichtshofs die Familienzusammenführung unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Dies gilt umso mehr, als das Prüfungsgeld bei jedem weiteren Prüfungsversuch und für jeden Familienangehörigen des Zusammenführenden, der zu diesem in den Aufnahmemitgliedstaat nachziehen will, erneut anfällt und zu diesen Kosten die Kosten für die Reise zum Sitz der nächsten niederländischen Vertretung hinzukommen, die die Familienangehörigen des betreffenden Zusammenführenden aufbringen müssen, um die Prüfung abzulegen.

Mainz, 10. Juli 2015