EU-rechtswidrige Regelung des Nachzugsanspruchs sonstiger Familienangehörigen von EU-Bürgern oder ihren drittstaatsangehörigen Familienangehörigen

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Auch mit der aktuell geplanten Änderung des FreizügG/EU wurde erneut die Regelung über den Familiennachzug sonstiger Familienangehöriger nach Art. 3 Abs. 2 RL 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) nicht umgesetzt. Dies erstaunt, da die Fraktion Die LINKE mehrfach mit kleinen Anfragen und einem Änderungsantrag (Drs. 17(4)583 B) eine Umsetzung dieser Regelung nach Vorliegen der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Rahman angemahnt hatte.

Die noch umzusetzende Nachzugsregelung hat folgenden Wortlaut:

„Unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen:

a) jedes nicht unter die Definition in Artikel 2 Nummer 2 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, dem der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt oder der mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, oder wenn schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen;

b) des Lebenspartners, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist.

Der Aufnahmemitgliedstaat führt eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände durch und begründet eine etwaige Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Personen."

Nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Rahmann vom 5. September 2012 (C-83/11) müssen die Mitgliedstaaten eine Regelung vorsehen, die sicherstellt dass die Familienangehörigen, die keinen Nachzugsanspruch haben, eine Entscheidung über ihren Antrag erhalten können, die auf einer eingehenden Untersuchung der persönlichen Umstände des Familienangehörigen beruht und im Fall der Ablehnung begründet wird (EuGH, U. v. 5.9.2012 – C-83/11 – Rahman, Rn. 22).

Der Vergleich des Wortlauts von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 mit dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung verdeutlich, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, eine Regelung zur Ermöglichung des Familiennachzugs für sonstige Familienangehörige einzuführen. Während nach der Richtlinie 2004/38 die Mitgliedstaaten die Einreise und den Aufenthalt der Familienangehörigen des Unionsbürgers, die nicht von der Definition der Kernfamilie erfasst werden, „erleichter[n]", „können" sie nach der Richtlinie 2003/86 die Einreise und den Aufenthalt der Verwandten in aufsteigender Linie, der volljährigen unverheirateten Kinder, die nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können, und des nicht ehelichen Lebenspartners, der Drittstaatsangehöriger ist, „gestatten".

Besteht eine Regelungsverpflichtung, so kann diese nicht durch Verweis auf § 36 Abs. 2 AufenthG als erfüllt angesehen werden. Denn der EuGH hat in seiner Entscheidung klargestellt, dass Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 die Mitgliedstaaten zwar nicht dazu verpflichtet, Familienangehörigen im weiteren Sinne ein Recht auf Einreise und Aufenthalt zuzuerkennen, wohl aber – wie sich aus der Verwendung des Indikativ Präsens „erleichtert" in dieser Bestimmung ergibt – dazu, Anträge auf Einreise und Aufenthalt von Personen, die zu einem Unionsbürger in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen, gegenüber den Anträgen anderer Drittstaatsangehöriger in gewisser Weise bevorzugt zu behandeln (EuGH, U. v. 5.9.2012 – C-83/11 – Rahman, Rn. 21).

Eine Privilegierung findet sich in § 36 Abs. 2 AufenthG für sonstige Familienangehörige von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen aber nicht.

Insoweit muss – was Behörden in der Praxis kaum leisten werden können – die Regelung des § 36 AufenthG richtlinienkonform ausgelegt werden. Da die Richtlinie 2004/38 insofern keine genauere Regelung enthält und in ihrem Art. 3 Abs. 2 die Wendung „nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften" verwendet wird, ist festzustellen, dass die einzelnen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Wahl der zu berücksichtigenden Faktoren einen großen Ermessensspielraum haben. Deutschland hat allerdings dafür Sorge zu tragen, dass seine Rechtsvorschriften Kriterien enthalten, die sich mit der gewöhnlichen Bedeutung des Ausdrucks „erleichtert" und der in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie in Bezug auf die Abhängigkeit verwendeten Begriffe vereinbaren lassen und die dieser Bestimmung nicht ihre praktische Wirksamkeit nehmen (EuGH, U. v. 5.9.2012 – C-83/11 – Rahman, Rn. 24).

Der Begriff „erleichtern" kann mit dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie konkretisiert werden, der folgenden Wortlaut hat:

„Um die Einheit der Familie im weiteren Sinne zu wahren und unbeschadet des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sollte die Lage derjenigen Personen, die nicht als Familienangehörige ... gelten und die daher kein automatisches Einreise- und Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat genießen, von dem Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage seiner eigenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften daraufhin geprüft werden, ob diesen Personen die Einreise und der Aufenthalt gestattet werden könnte, wobei ihrer Beziehung zu dem Unionsbürger sowie anderen Aspekten, wie ihre finanzielle oder physische Abhängigkeit von dem Unionsbürger, Rechnung zu tragen ist."

Weder der am 23. Mai 2001 von der Kommission vorgelegte Vorschlag

(Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (KOM[2001] 257 endg.).

noch der am 15. April 2003 vorgelegte geänderte Vorschlag

(Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (KOM[2003] 199 endg.).

enthielt einen erläuternden Erwägungsgrund. Aus dem Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 6/2004 des Rates der Europäischen Union vom 5. Dezember 2003 (ABl. 2004, C 54 E, S. 12) geht hervor, dass dieser den sechsten Erwägungsgrund hinzugefügt hat, „um den in Artikel 3 enthaltenen Begriff der Erleichterung zu präzisieren".Da die Richtlinie eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände verlangt, kann der Nachzug nicht an das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte gebunden werden. Denn eine derartige nationale Beschränkung wäre weder mit dem Gebot, eine Privilegierung vorzusehen, vereinbar und würde zudem der Nachzugsregelung ihre praktische Wirksamkeit nehmen.

Aus diesem Grund muss im Rahmen einer Ermessensentscheidung geprüft werden, ob der Nachzug gestattet wird, wenn der Familienangehörige die in Art. 10 Abs. 2 lit a RL 2004/38/EG geforderten Dokumente vorgelegt hat. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Ausübung des Rechts des Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, behindert würde, wenn er seine Familienangehörigen zurücklassen muss.

Dr. Dienelt